VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 16.10.2008 - 5 A 529/06 - asyl.net: M14404
https://www.asyl.net/rsdb/M14404
Leitsatz:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei oder in Syrien.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Syrien, Streitgegenstand, verspätetes Vorbringen, Herkunftsland, Verfolgungsdichte, religiös motivierte Verfolgung, Religion, religiöses Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AufenthG § 60 Abs. 2 - 7
Auszüge:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei oder in Syrien.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 16. Januar 2006 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Rechtsgrundlage für den Widerruf ist § 73 AsylVfG in der gegenwärtig geltenden Fassung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). [...]

1.2.1 Die Kammer hat in ihrem Urteil vom 2. Oktober 2008 (5 A 3155/06) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts - Nds. OVG - (etwa Grundsatzurteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - juris; Beschluss vom 1. September 2008 - 11 LA 206/08 -) entschieden, dass auch unter Beachtung des im Widerrufsverfahren gebotenen Maßstabs der hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung für zurückkehrende Yeziden keine Gefahr einer mittelbaren Gruppenverfolgung in der Türkei besteht und daher der Widerruf von Asyl und Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG grundsätzlich rechtmäßig ist. Es hat sich dabei mit den Auswirkungen der so genannten EU-Qualifikationsrichtlinie (ABl. EU L 304 vom 30. April 2004, S. 12 ff.), dem Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - an den Europäischen Gerichtshof - EuGH - vom 7. Februar 2008 (10 C 23, 31 und 33.07 - juris) und neueren Erkenntnismitteln über die Lage der Yeziden in der Türkei und deren gewandeltes religiöses Selbstverständnis im Exil auseinander gesetzt. Die abweichenden Entscheidungen zur Frage der hinreichenden Verfolgungssicherheit von Yeziden vor den Gefahren einer erneuten mittelbaren Gruppenverfolgung wegen ihres Glaubens (OVG Rh.-Pf., Urteil vom 21. Februar 2008 - 10 A 11002/07 - und vom 5. Juni 2007 - 10 A 11576/06 -; daran anknüpfend: OVG Schleswig, Beschluss vom 22. August 2007 - 4 LA 40/07 - Asylmagazin 2007, 19) hat es insbesondere als nicht überzeugend erachtet, weil dort - anders als bei der eingehenden Würdigung des Niedersächsischen OVG - fünf Übergriffsfälle auf Yeziden in angreifbarer Weise zu der anderen Lageeinschätzung herangezogen werden und die bei der Annahme von Gruppenverfolgung selbst bei kleinen Gruppen gebotene Relationsbetrachtung von Größe der betroffenen Gruppe und Anzahl der Verfolgungsschläge in Zweifel gezogen wird. Außerdem leuchtete nicht ein, wieso das OVG Schleswig die Verfolgungsgefahren bei einer "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" auf Basis identischer Erkenntnismittel anders bewertet als bei der Gruppenverfolgung. An seiner o.g. Rechtsprechung, die der Kläger nicht (mehr) angreift, hält das Gericht auch hier fest.

Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass hier bezüglich der Türkei ein Ausnahmefall des § 73 Abs. 1 Satz 3 ("zwingende auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe") vorliegen könnte. Der Kläger hat keinerlei individuelle Verfolgungsgründe, die eine Rückkehr in die Türkei ausnahmsweise unzumutbar machen könnten, geltend gemacht.

1.2.2 Die neuerdings vom Kläger behauptete Verfolgung als Yezide in Syrien beeinträchtigt im Ergebnis die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Widerrufs nicht. [...]

1.2.2.1 Der Streitgegenstand des hier angefochtenen Widerrufs ist allein auf Verfolgungsgefahren hinsichtlich des ursprünglich angenommenen Herkunftslandes Türkei begrenzt. Denn der Streitgegenstand bestimmt sich danach, welchen Herkunftsstaat das Bundesamt in dem ursprünglichen Anerkennungsbescheid und seinem Widerrufsbescheid zugrunde legt und nicht danach, was der Ausländer - ggf. erst kurz vor einer gerichtlichen Entscheidung - behauptet, aber vom Bundesamt angezweifelt wird. Dies ist hier allein die Verfolgungssituation in der Türkei. Nur wegen angenommener Verfolgungsgefahr in diesem Herkunftsstaat wurde dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und wegen geänderter, d.h. verbesserter Verhältnisse hinsichtlich der Verfolgungssituation von Yeziden wieder aberkannt. Trotz nunmehr bestehender Zweifel an einer Herkunft des Klägers aus der Türkei hält das Bundesamt an dieser Begründung fest und wechselt sie nicht durch Erwägungen aus, die eine Rücknahme nach § 73 Abs. 2 AsylVfG rechtfertigen würden. Denn mangels eindeutiger objektiver Belege einer Herkunft des Klägers aus Syrien hält es seine Einschätzung zur weggefallenen Verfolgungsgefahr in der Türkei für zutreffend und relevant. Es verändert den Streitgegenstand nicht, seine in der mündlichen Verhandlung angestellten Erwägungen zu Verfolgungsgefahren in Syrien wurden nur hilfsweise angestellt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind zwar im Rahmen der Überprüfung von Widerrufsentscheidungen nach § 73 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG auch gänzlich "neue und andersartige Verfolgungsgefahren" und zwar am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen (BVerwG, Urteile vom 20. März 2007 - 1 C 21.06 - und vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243). Dabei handelt es sich aber um neue und andersartige Verfolgungsgefahren bezüglich desselben zugrunde gelegten Herkunftsstaates. Allein die (nicht qualifiziert belegte) Behauptung des Ausländers im gerichtlichen Verfahren, er komme aus einem ganz anderen Herkunftsstaat und sei dort verfolgt oder gefährdet, begründet nicht die Pflicht für das Gericht, die Sache auch insoweit spruchreif zu machen, ggf. aufwendige Prüfungen dazu anzustellen, welche Staatsangehörigkeit der Ausländer wirklich hat, und zu entscheiden, ob er in anderen als bisher vom Bundesamt geprüften Herkunftsstaaten Gefahren ausgesetzt ist.

Diese Auffassung führt auch nicht zu unangemessenen Nachteilen für den betroffenen Ausländer. Die späte Korrektur bzw. Änderung seines Vortrags hinsichtlich Identität und Herkunft fällt allein in seine Verantwortungssphäre mit der Folge, dass ihm sein früherer asylrechtlicher Schutzstatus während der weiter erforderlichen Klärungen nicht ohne weiteres länger zusteht und er auch sonstige Nachteile des verspäteten Vorbringens zu tragen hat. Konkret ist kein plausibler Grund dafür ersichtlich, dem Kläger länger den Flüchtlingsstatus wegen Verfolgungsgefahren in der Türkei während der möglicherweise aufwendigen Klärung seiner wahren Identität und Herkunft zu belassen, wenn gesichert feststeht, dass derzeit Yeziden eine Gruppenverfolgung in der Türkei nicht mehr droht und der Kläger auch selbst behauptet, gar nicht aus diesem Land zu stammen. Hinzu kommt, dass dem Kläger auf absehbare Zeit (noch) keine Aufenthaltsbeendigung und zwangsweise Rückführung nach Syrien droht, so dass auch aus Gründen der Beschleunigung von Asylverfahren keine Klärung in diesem Widerrufsverfahren geboten ist. Denn selbst bei Rechtskraft des hier angefochtenen Widerrufs behält er zunächst seine befristete Aufenthaltserlaubnis, über deren Fortbestand die zuständige Ausländerbehörde nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nach weitem Ermessen unter Abwägung öffentlicher Belange mit seinen Interessen (Integration, familiäre Verbindungen, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Chancen der tatsächlichen Aufenthaltsbeendigung) zu entscheiden hat. [...] Im Rahmen dieser Klärung bleibt hinreichend Zeit, bei Bedarf das für zielstaatsbezogene Gefahren zuständige Bundesamt zur Prüfung von Verfolgungsgefahren in Syrien einzuschalten. Soweit sich dabei Nachteile wegen des späten Vortrags von in der Vergangenheit liegenden Gefahren, etwa Präklusionsvorschriften bei Folgeanträgen ergeben, fällt dies ausschließlich in die Verantwortungssphäre des Ausländers. [...]

1.2.2.2 Selbst wenn entgegen der Auffassung des Einzelrichters die Gefährdungslage des Klägers hinsichtlich des neu behaupteten Herkunftsstaats Syrien berücksichtigt würde, beeinträchtigt dies die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Widerrufs nicht. Anhand der insoweit vorsorglich durchgeführten Befragung und Zeugenvernehmung ist der Einzelrichter der Überzeugung, dass dem Kläger dort gegenwärtig weder eine Gruppenverfolgung wegen seines yezidischen Glaubens noch eine individuelle Verfolgung droht. [...]

1.2.2.2.1 Nach einhelliger Rechtsprechung (vgl. nur OVG SA, Urteil vom 30. Januar 2008 - 3 L 75/06 - juris m.w.N.) sind Yeziden in Syrien in keinem Landesteil mehr einer unmittelbaren oder mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt. Denn es fehlt an einer hinreichenden Anzahl gesichert feststehender und verfolgungsrelevanter Übergriffe (Verfolgungsschläge) in Relation zur Gruppe der in Syrien lebenden Yeziden, mithin an einer hinreichender Verfolgungsdichte. Auch unter qualitativen Gesichtspunkten ergibt sich nicht, dass jeder in Syrien lebende (oder zurückkehrende) Yezide in eine ausweglose Lage gerät, zumal der syrische Staat gegenüber Übergriffen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung schutzwillig und schutzfähig ist. [...]

Entgegen der Auffassung des Klägers gilt diese Einschätzung auch angesichts der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 7. Juni 2007 - 2 LA 416/07 - juris), die größtenteils in § 60 Abs. 1 AufenthG eingeflossen sind und im Übrigen ergänzend zu berücksichtigen sind. Auch wenn der Fokus der beachtlichen Verfolgungsschläge wegen gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben teilweise weiter gefasst wird, fehlt es nach wie vor sowohl an einer hinreichenden Verfolgungsdichte als auch an einer Zurechenbarkeit der (immer noch) vereinzelt stattfindenden Übergriffe gegenüber dem syrischen Staat. Eine Verfolgungsgefahr aus religiösen Gründen nach Art. 10 Abs. 1 b der Qualifikationsrichtlinie besteht nur, wenn eine schwerwiegende Verletzung der grundlegende Menschenrechte droht, wie sich aus dem Zusammenspiel von Art. 9 mit Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie ergibt. Eine derartig schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte ist bezogen auf die geistige Betreuung unzweifelhaft zu verneinen, weil sich unter der noch relativ großen Gruppe von im Nordosten Syriens lebenden Yeziden (zwischen 4.000 bis 12.000 Personen) in hinreichender Anzahl Sheiks und Peshimame für die religiöse Betreuung befinden und notfalls auch im Afrin-Gebiet zur Verfügung stehen. Auch im Hinblick auf die nunmehr grundsätzlich geschützte öffentliche Glaubensbetätigung lässt sich keine hinreichende Anzahl solch schwerwiegender Eingriffe feststellen. Davon ist schon deswegen nicht auszugehen, weil sich die wesentliche Glaubensbetätigung der Yeziden nur im häuslich-privaten Bereich abspielt. Die Yeziden haben - abgesehen vom zentralen Heiligtum am Grabe des Sheiks Adi in Lalish (Nordirak) - keine Gotteshäuser. Nach weitgehend übereinstimmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt es sich bei der Religion der Yeziden wenigstens überwiegend um eine so genannte Geheimreligion, da viele Riten unter Ausschluss anderer Glaubenszugehöriger nicht öffentlich praktiziert werden. So finden öffentliche Gebete im Freien statt, aber nicht im Beisein von Angehörigen anderer Religionen. Der geheime Charakter der Religion äußert sich auch in dem Gebot der "Taquiye", dem Verstellen aus Frömmigkeit. Zudem wird die yezidische Religion ausschließlich über die Geburt vermittelt. Eine Konversion zum Yezidentum ist nicht möglich. Missionieren finden nicht statt. Die öffentliche Darstellung der eigenen religiösen Identität ist somit kein wesentliches hergebrachtes Element des yezidischen Glaubens (vgl. zum Vorstehenden: Nds. OVG, Beschluss vom 28. August 2008 - 11 LA 178/08 - S. 3 ff. betreffend Yeziden aus der Türkei mit detaillierten Nachweisen; Beschluss vom 7. Juni 2007 - 2 LA 416/07 - zu Yeziden in Syrien). Auch soweit vereinzelt behauptet wird, die yezidische Religion sei keine Geheimreligion mehr (Yezidisches Forum, Stellungnahme vom 18. Dezember 2007), ergibt sich nichts anderes. Anhaltspunkte dafür, dass die Yeziden ihre Feiern, die sie offenbar unter dem Einfluss des Aufenthalts in den westeuropäischen Staaten heute offener gestalten, in ihren angestammten Siedlungsgebieten Syriens nicht entsprechend durchführen könnten, vermag der Einzelrichter nicht zu erkennen. Nach wie vor stellt das yezidische Forum nicht in Abrede, dass die Ausübung der yezidischen Religion jedenfalls darauf beschränkt ist, dass die Zugehörigkeit nur durch Geburt bestimmt wird und eine Missionierung nicht stattfindet. Es ist schließlich nicht grundsätzlich klärungsbedürftig, ob den Yeziden wegen ihrer Religion Verfolgungshandlungen aufgrund einer "Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen" (Art. 9 Abs. 1 b Qualifikationsrichtlinie) drohen. Denn nach überwiegender Rechtsprechung sind Yeziden seit längerem in Syrien keiner politischen Verfolgungsgefahr (mehr) ausgesetzt. In der Vergangenheit liegende abgeschlossene Verfolgungshandlungen unterfallen der Vorschrift nicht. [...]

2. Der auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Syriens gerichtete Hilfsantrag bleibt ebenfalls erfolglos. [...]