VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.10.2008 - 13 S 313/08 - asyl.net: M14391
https://www.asyl.net/rsdb/M14391
Leitsatz:

Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Verwaltungspraxis in Baden-Württemberg für eine Ermessenseinbürgerung grundsätzlich einen achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt verlangt und dabei Duldungszeiten nicht anrechnet; die Verwaltungsvorschriften des Bundesinnenministeriums zum Staatsangehörigkeitsrecht sind mangels Beschlusses durch die Bundesregierung nicht für die Bundesländer bindend.

 

Schlagwörter: D (A), Staatsangehörigkeitsrecht, Einbürgerung, Ermessenseinbürgerung, Aufenthaltsdauer, Aufenthaltsgestattung, abgelehnte Asylbewerber, Duldung, Ermessen, Verwaltungsvorschriften, Erlasslage, Verwaltungspraxis, Gleichheitsgrundsatz, Bundesinnenministerium, Bundesregierung, Bundesrat, Zustimmung
Normen: StAG § 8 Abs. 1; AsylVfG § 55 Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 1; AufenthG § 26 Abs. 4; GG Art. 84 Abs. 2
Auszüge:

Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Verwaltungspraxis in Baden-Württemberg für eine Ermessenseinbürgerung grundsätzlich einen achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt verlangt und dabei Duldungszeiten nicht anrechnet; die Verwaltungsvorschriften des Bundesinnenministeriums zum Staatsangehörigkeitsrecht sind mangels Beschlusses durch die Bundesregierung nicht für die Bundesländer bindend.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Im Berufungsverfahren bleibt lediglich zu klären, ob dem Kläger - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - aus Gründen der Selbstbindung der Verwaltung (Ermessensreduzierung aus Art. 3 Abs. 1 GG) oder unter einem sonstigen rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Einbürgerungszusicherung zusteht oder nicht.

Die berufungsgerichtliche Überprüfung des angefochtenen Urteils unter diesem Gesichtspunkt ergibt, dass ein solcher Anspruch im vorliegenden Fall nicht gegeben ist; es ist der Beklagten entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht verwehrt, bei der Ermessensausübung im Sinn des § 8 Abs. 1 StAG einen rechtmäßigen Aufenthalt von acht Jahren zu verlangen und insofern die Duldungszeiten des Klägers nicht anzurechnen.

Dass es der Behörde gestattet ist, zwar nicht als Tatbestandsvoraussetzung, wohl aber im Rahmen der Ermessensausübung besondere Anforderungen an die Dauer des rechtmäßigen bzw. gewöhnlichen Aufenthalts zu stellen, ist seit jeher anerkannt (siehe dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.5.2005 - 13 S 536/04 -, juris; Marx in GK-StAR, Rn 2, 11, 42.1, 46, 129 und 143 zu § 8; Hailbronner in Hailbronner/Renner, StAR, 2005, Rn 19 und 55 zu § 8). Die ursprüngliche Einbürgerungsvoraussetzung des § 8 Abs. 1 ("Niederlassung im Inland") war mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes durch den Tatbestandsbegriff des rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ersetzt worden (siehe dazu Hailbronner a.a.O. Rn 117 und VGH Bad.-Württ., a.a.O.), dies hat aber im hier interessierenden Punkt nichts geändert. Die Relevanz der Zeiten eines früheren rechtmäßigen Aufenthalts für die Ermessensausübung ergibt sich auch aus - insofern ermessenssteuernden - Verwaltungsvorschriften; danach beträgt die erforderliche Zeitspanne im Regelfall acht Jahre (siehe Nr. 8.1.2.2 und 8.1.2.3 StAR-VwV vom 13.12.2000, BAnz 2001, 1418, ebenso Ziff. 8.1.2.2 und 8.1.2.3 der Vorläufigen Anwendungshinweise - VAH - des Bundes vom 19.10.2007; abrufbar bei www.bmi.bund.de).

2.1 Was die dem Kläger ursprünglich für das Asylerstverfahren erteilte Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 AsylVfG) angeht, so scheidet eine Anrechnung der hierdurch abgedeckten Zeiten (1990 bis 1993) im Ermessensweg unabhängig von der Problematik der zeitlichen Unterbrechung durch die späteren Duldungen (vgl. dazu Marx a.a.O. Rn 168 zu § 8) bereits deswegen aus, weil das Asylverfahren des Klägers nicht zur Asylanerkennung oder zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 AufenthG oder § 51 AuslG geführt hat; dies ergibt sich aus der insofern zwingenden Vorschrift des § 55 Abs. 3 AsylVfG. Daran ändert auch die Anrechnung von Gestattungszeiten bei der Erteilung von Niederlassungserlaubnissen nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG nichts, da es sich hier um eine nicht auf das Staatsangehörigkeitsrecht übertragbare Sondervorschrift handelt und staatsangehörigkeitsrechtlich § 55 Abs. 3 AsylVfG entgegensteht.

2.2. Der Kläger kann gegenwärtig den im Rahmen der Ermessensausübung relevanten achtjährigen (rechtmäßigen) Aufenthalt auch nicht durch eine Anrechnung bestimmter Duldungszeiten erreichen. Insbesondere scheidet insofern der vom Verwaltungsgericht herangezogene Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung (Art. 3 Abs. 1 GG) als Anspruchsgrundlage aus.

Allerdings bestimmte zum Zeitpunkt der Behördenentscheidungen noch Nr. 8.1.2.3 der StARVwV in Absatz 2, dass "abweichend von Nr. 4.3.1.2 ... Zeiten einer Duldung auf die geforderte Aufenthaltsdauer angerechnet (werden), soweit dem Einbürgerungsbewerber in den Fällen des § 35 Abs. 1 Satz 3 AuslG eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis unter Berücksichtigung dieser Zeiten erteilt worden ist", und der Senat geht davon aus, dass die im Fall des Klägers nach der Nachfolgevorschrift des § 26 Abs. 4 AufenthG (i.V. mit § 102 Abs. 2 AufenthG) berücksichtigten Duldungszeiten den nach früherem Recht anerkannten Duldungszeiten insoweit gleichstehen. Gleichwohl kann der Kläger jedoch aus der StAR-VwV für sich keinen Anspruch auf Einbürgerungszusicherung herleiten. Dies ergibt sich zum einen aus der insoweit wohl fehlenden Bindungswirkung der StAR-VwV für die Beklagte (2.2.1), zum anderen vor allem aber daraus, dass die hier maßgebende Ziffer der StAR-VwV inzwischen durch eine andere, abweichende Verwaltungsvorschrift entscheidend eingeschränkt worden ist (2.2.2).

2.2.1. Es spricht viel dafür, dass die Beklagte nicht durch Nr. 8.1.2.3. (2. Absatz) StAR-VwV zu einer dem Kläger günstigen Anrechnungspraxis verpflichtet ist. Zwar sieht die StAR-VwV - wie erwähnt - eine entsprechende Anrechnung von im Zusammenhang mit § 26 Abs. 4 AufenthG bereits "verwendeten" Duldungszeiten vor; für die Frage der Selbstbindung der Verwaltung durch ermessensbindende Richtlinien ist jedoch nach ganz herrschender Auffassung nicht der Wortlaut einer Verwaltungsvorschrift, sondern in erster Linie die jeweilige Verwaltungspraxis maßgebend. Ein Anspruch auf Gleichbehandlung setzt mit anderen Worten voraus, dass die Verwaltungsvorschriften in der Praxis auch angewendet werden (vgl. dazu etwa BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 - 1 C 19.99 -, InfAuslR 2001, 70; Urteil vom 2.3.1995 - 2 C 17.94 -, ZBR 1995, 238, je m.w.N.; Beschluss vom 28.5.2008 - 1 WB 19/07 - juris). Zwar spricht bereits die Existenz solcher Verwaltungsvorschriften dafür, dass eine entsprechende Verwaltungspraxis - aus der dann ein Anspruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden kann - auch tatsächlich besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.8.2003 -3 C 49/02 -, BVerwGE 118, 379); es entscheidet aber auch dann die "tatsächliche Handhabung" bzw. "die vom Urheber gebilligte oder geduldete tatsächliche Verwaltungspraxis" (so wörtlich BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 a.a.O.).

Für den vorliegenden Fall kommt es dabei wohl nicht auf die bundesweite "Umsetzung" der StAR-VwV, sondern auf die Verwaltungspraxis des Landes Baden-Württemberg an, an der sich auch die Beklagte messen lassen muss (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.4.2002 - 13 S 314/02 -, VBlBW 2002, 534). Es spricht nämlich vieles dafür, dass die Beklagte mangels entsprechender Bindung der Bundesländer in ihrer Praxis von Nr. 8.1.2.3 (Abs. 2) der StAR-VwV abweichen durfte. Der Bundesrat hat zwar - entgegen dem Vortrag der Beklagten - nach Art. 84 Abs. 2 GG der StAR-VwV zugestimmt; fehlende Bindung der Landesbehörden kann also nicht bereits aus fehlender Zustimmung des Bundesrats hergeleitet werden (zur Bindung der Landesbehörden an die StAR-VwV siehe Marx a.a.O. Rn 127 und 128 zu § 8). Die StAR-VwV ist jedoch nicht von der (gesamten) Bundesregierung, sondern - der damaligen Vorschrift des § 39 StAG entsprechend (siehe Marx, a.a.O. Rn 3 und 4 zu § 39; Renner in Hailbronner/Renner, a.a.O. Rn 3 zu § 39) - lediglich vom Bundesminister des Inneren, nicht aber von der Bundesregierung als Kollegium erlassen worden. Dies widersprach den vom Bundesverfassungsgericht (unter Aufgabe seiner früheren entgegenstehenden Rechtsprechung) schon 1999, also vor Erlass der Verwaltungsvorschriften, entwickelten verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 84 Abs. 2 GG (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 2.3.1999 - 2 BvF 1/94 -, BVerfGE 100, 249). Nach Art. 84 Abs. 2 GG ist nämlich dort, wo die Länder - wie hier (siehe Renner a.a.O.) - ein Bundesgesetz als eigene Angelegenheit ausführen (siehe Art. 83 GG), nicht der einzelne Bundesminister, sondern (nur) die Bundesregierung als Kollegialorgan zum Erlass "allgemeiner Verwaltungsvorschriften" ermächtigt (ebenso die ganz h.M. der Literatur, siehe Hermes in Dreier, GG, Band 3, 2008, Rn 82 zu Art. 84 m.w.N.). Bei der StAG-VwV handelt es sich um eine solche allgemeine Verwaltungsvorschrift (Marx und Renner, jeweils a.a.O.). Die gegenseitige "Sicherung" der Verwaltungskompetenzen von Bund und Ländern, die in Art. 84 Abs. 2 GG festgelegt worden ist, wird beim Erlass von allgemeinen Verwaltungsvorschriften durch einen Einzelminister (anstelle der gesamten Bundesregierung) verletzt; hieraus folgt, dass die Länder hieran nicht gebunden sind (vgl. Hermes a.a.O. Rn 17 und 82 zu Art. 84; differenzierend Tschentscher JZ 1999, 994). Der sonst bestehende Vorrang bundesrechtlicher Verwaltungsvorschriften (Hermes a.a.O. Rn 78 m.w.N.) greift bei einem Verstoß gegen Art. 84 Abs. 2 GG nicht. Der Gesetzgeber hat im übrigen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2.3.1999 auch (späte) Konsequenzen gezogen; § 39 StAG, der in seiner damaligen Fassung noch allein den Bundesminister des Inneren zum Erlass der Verwaltungsvorschriften ermächtigte, wurde mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes als "obsolet" aufgehoben (siehe BT-Drs. 15/420, S. 117, abgedruckt bei Marx a.a.O. vor § 39; siehe auch Renner a.a.O., Rn 3 zu § 39). Bei der danach wohl fehlenden Bindung der Bundesländer an die StAR-VwV würde sich für den Senat ergeben, dass unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung die Praxis des nach Art. 83 GG mit der Ausführung des Gesetzes als eigene Angelegenheit betrauten jeweiligen Bundeslandes entscheidend wäre. Was diese angeht, so hat die Beklagte unwidersprochen vorgetragen, dass die Verwaltungsbehörden in Baden-Württemberg im Rahmen der Ermessensausübung nach § 8 StAG Duldungszeiten bisher grundsätzlich nicht angerechnet haben. Bereits dies stellt daher einen Anspruch des Klägers auf (erstmalige) Anrechnung der im Rahmen des § 26 Abs. 4 AufenthG bereits berücksichtigten Duldungszeiten in Frage.

2.2.2. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die bundesrechtlichen Verwaltungsvorschriften im hier interessierenden Punkt inzwischen erheblich eingeschränkt worden sind. Die Kommentarliteratur hatte teilweise bereits aus dem 2005 eingefügten Tatbestandserfordernis des (aktuellen) "rechtmäßigen" Aufenthalts (anstelle des früher verwendeten Begriffs der "Niederlassung") abgeleitet, dass die Verwaltungsvorschrift zur Anrechnung von Duldungszeiten (Nr. 8.1.2..3 Abs. 2 StaR-VwV) durch eine abweichende (strengere) Verwaltungspraxis obsolet werden könne (siehe insbes. Marx a.a.O. Rn 42.1 zu § 8). Selbst wenn dies mit guten Gründen bestritten werden könnte, weil der Gesetzgeber in § 8 Abs. 1 StAG nur die jeweils aktuell zu prüfenden Anforderungen an den Einbürgerungsbewerber festgelegt hat (siehe oben 2), so ist doch aus anderen Gründen zu dem für den Senat maßgebenden Zeitpunkt der Entscheidung die Anrechnung bestimmter Duldungszeiten nicht mehr im gleichen Umfang vorgesehen. Nr. 8.1.2.3 Abs. 2 der Vorläufigen Anwendungshinweise vom 19.10.2007 bestimmt nunmehr, "bei der Regelung in Nr. 8.1.2.3 Abs. 2 der StAR-VwV (Anrechnung von Zeiten einer Duldung auf die geforderte Aufenthaltsdauer) ... (sei) das Urteil des BVerwG vom 29.3.2007 - 5 C 8.06 - zu beachten, das sich gegen die Anrechnung von Gestattungszeiten bei einem erfolglosem Asylverfahren ausspricht". "In Konsequenz dieser Entscheidung" beschränken die bundesrechtlichen Vorläufigen Anwendungshinweise die Anrechnung auf "Härtefälle". Die Bezugnahme der VAH auf Nr. 8.1.2.3 StAR-VwV ergibt, dass es hier nicht um Gestattungszeiten, sondern um Duldungszeiten geht und dass das BMI - ebenso wie der Senat (s. oben 2.1) - insofern die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts auch als Hinweis zur Unzulässigkeit einer Anrechnung von Duldungszeiten nach § 102 Abs. 2 AufenthG versteht. Damit ist unter dem maßgebenden Gesichtspunkt der Verwaltungspraxis der Bundesländer eine neue Situation gegeben; der für Einbürgerungsbewerber nach der StAR-VwV früher bestehende günstigere Rechtszustand ist auf wenige Anwendungsfälle (Härtefälle) reduziert worden.