VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 19.06.2008 - 6 A 8/08 - asyl.net: M14385
https://www.asyl.net/rsdb/M14385
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines iranischen Staatsangehörigen wegen Übertritts zu Christentum.

 

Schlagwörter: Iran, Konversion, Christen, Apostasie, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, religiös motivierte Verfolgung, Religion, religiöses Existenzminimum, Glaubwürdigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines iranischen Staatsangehörigen wegen Übertritts zu Christentum.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist begründet, soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Im Sinne dieser Vorschrift kann er sich auf Nachfluchtgründe berufen. Diese liegen darin begründet, dass der Kläger seinen Übertritt zum christlichen Glauben nachgewiesen hat. Er müsste im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG mit einer Verfolgung wegen seiner Religion rechnen. Diese Verfolgung könnte sowohl vom iranischen Staat gemäß § 60 Abs. 1 S. 4 a ausgehen, als auch von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 c AufenthG. Diese Gefährdung ergibt sich aus den in die mündliche Verhandlung eingeführten Erkenntnisquellen. Danach ist die Möglichkeit, zum Christentum überzuwechseln nach den Maßgaben der islamischen Religion nicht vorgesehen. Ein solcher Übertritt ist verboten, weil sich damit seitens des iranischen Regimes die Vorstellungen des Hochverrats und der Schädigung der islamischen Staatsgemeinschaft verbinden. Der Islam kennt keinen Unterschied zwischen Religion und Politik. Durch die Geburt ist man als Moslem der muslimischen Staats- und gleichzeitig auch Religionsgemeinschaft verpflichtet und kann diese Gemeinschaft nicht verlassen. Iranische Behörden sehen in solchen Verhaltensweisen eine politische Abkehr und die Zuwendung zu einer verbotenen politischen Gruppe. Die christliche Kirche ist nach islamischer Vorstellung für Christen zwar eine Religionsgemeinschaft, für Muslime aber eine verbotene politische Organisation (Auskunft des Deutschen Orientinstituts vom 22.11.2004 an VG Kassel). Nach iranischem religiösen Recht ist der Betreffende zur Umkehr anzuhalten. Verweigert er dies, ist er mit dem Tode zu bestrafen. Es besteht auch die Möglichkeit der Verfolgung durch fanatische Muslime. Konvertiten können nach islamischem Recht von allen Muslimen getötet werden. Dies ist zwar kein staatliches Recht. Allerdings kann über andere Vorschriften, etwa wegen Tätigkeit in einer verbotenen Gruppe, vorgegangen werden (vgl. Deutsches Orientinstitut, Auskunft an das Sächsische Oberverwaltungsgericht vom 06.12.2004).

Ähnlich äußert sich auch das Bundesamt. Es geht davon aus, das Apostasie nach islamischem Verständnis einen hochverratsähnlichen Angriff auf das Staats- und Gesellschaftssystem darstellt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Iran: Erkenntnisse des Bundesamtes, Berichtszeitraum 01.05.2004 bis 30.06.2004, September 2004).

Auch die Schweizer Flüchtlingshilfe nimmt ein spezielles Gefährdungsprofil muslimischer Iraner, die zum Christentum übertreten, an. Konversionen erregen danach in der muslimisch-iranischen Öffentlichkeit den Verdacht einer regimekritischen Haltung. Konvertiten werden deshalb in das Informationsministerium bestellt, sobald der Übertritt bekannt wird. Nach Belieben werden Spionagevorwürfe, Aktivitäten in illegalen Gruppen usw. vorgeworfen. Die Reaktion der iranischen Behörden sind äußerst willkürlich und nicht vorherzusagen. Der Übertritt kann immer als Hochverrat, Staatsverrat, Abfall von der eigenen Sippe und im eigenen Stamm angesehen werden (Schweizer Flüchtlingshilfe, Christen und Christinnen im Iran, Themenpapier, 18. Oktober 2005).

Dem Kläger könnte auch nicht zugemutet werden, seinen christlichen Glauben im Iran nach außen zu verschweigen und sein christliches Glaubensbekenntnis allein im häuslichen Bereich auszuüben (sogenanntes Forum Internum). Das folgt aus Art. 10 RL (Qualifikationsrichtlinie). Im Sinne dieser Vorschrift ist § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auszulegen, da die Qualifikationsrichtlinie seit dem 19.08.2007 in Kraft getreten ist. Art. 10 RL definiert in Anknüpfung an Art. 2 c RL die flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgründe. Im vorliegenden Zusammenhang des Art. 10 Abs. 1 b RL maßgebend. Hiernach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nicht theistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen und Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen einzelner oder Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dabei sind unter religiösen Riten die in einer Religionsgemeinschaft üblichen und geregelten Praktiken und Rituale zu verstehen, die der religiösen Lebensführung dienen, insbesondere Gottesdienste, kulturelle Handlungen und religiöse Feste (vgl. VGH Baden Württemberg, Urteil vom 20.11.2007 - A 10 S 70/06, Juris -).

Daraus folgt wiederum für den Kläger, dass es ihm nicht verwehrt werden darf, nach Belieben Gottesdienste aufzusuchen, wie es in christlichen Kirchen üblich ist. Damit aber würde seine Konversion nach außen sichtbar werden und die oben beschriebene Gefährdung konkret werden.

Der Glaubenswandel des Klägers ist ihm auch abzunehmen.