VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 24.06.2008 - 7 A 172/06 - asyl.net: M14375
https://www.asyl.net/rsdb/M14375
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Angehörigen des Clans der Midgan aus Somalia wegen sippenhaftähnlicher Verfolgung durch Angehörige des Clans der Hawiye.

 

Schlagwörter: Somalia, Gebietsgewalt, Clans, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, soziale Gruppe, Schutzfähigkeit, Sippenhaft, Hawiye, Midgan, Glaubwürdigkeit, interne Fluchtalternative, Somaliland, Puntland, Existenzminimum, Verfolgungssicherheit, Erreichbarkeit
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Angehörigen des Clans der Midgan aus Somalia wegen sippenhaftähnlicher Verfolgung durch Angehörige des Clans der Hawiye.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang teilweise begründet.

Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG steht dem Kläger nicht zu.

Ferner scheitert die Annahme einer politischen Verfolgung i.S. des Art. 16 a Abs. 1 GG auch daran, dass diese eine staatliche Verfolgung voraussetzt. Der staatlichen Verfolgung steht eine Verfolgung durch Organisationen mit staatsähnlicher Herrschaftsgewalt gleich, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder den dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen (BVerfGE 80, 315, 334; BVerwGE 101, 328). Quasi staatlich ist eine Gebietsgewalt aber nur, wenn sie auf einer staatsähnlich organisierten, effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht. Effektivität und Stabilität erfordern eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, verkörpert vorrangig in der Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparats (BVerwG aaO).

Demgegenüber ist Somalia vom Bürgerkrieg und der weitgehenden Abwesenheit einer staatlichen Zentralgewalt gekennzeichnet. Reale Macht wird von Clananführern und den Privatmilizen ausgeübt. Die in den Jahren 2004 und 2005 entstandenen Übergangsinstitutionen haben bisher keine effektive Staatsgewalt über größere Gebiete etablieren können. Insgesamt ist das Gericht deshalb der Überzeugung, dass in Somalia weder eine eigentliche Staatsgewalt existiert, noch staatsähnliche Organisationen bestehen, die den Staat verdrängt haben, aber selbst staatliche Funktionen ausüben und auf ihrem Gebiet eine effektive Gebietsgewalt inne haben (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 17.06.1999 - 23 B 99.30345 -; Hess. VGH, Urteil vom 30.10.2003 - 4 UE 4952/96.A; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03.04.1998; -10 A 11891/96 -, sämtl. juris).

Der Kläger hat aber Anspruch auf die Feststellung, dass für ihn im Hinblick auf Somalia die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

In Anwendung dieser Grundsätze droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Somalia zur Überzeugung des Gerichts wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr für Leib oder Leben, die von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, ohne das ihm der Staat, Parteien oder sonstige Organisationen Schutz vor dieser Verfolgung bieten. Dem Kläger drohen Gefahren wegen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan und auch deshalb, weil sein Vater in der Justizverwaltung bei Siad Barre gearbeitet hatte.

Das Gericht hält es für glaubhaft, dass der Kläger deshalb bereits vor seiner Ausreise politischer Verfolgung ausgesetzt gewesen ist, sein Heimatland damit vorverfolgt verlassen hat und auch bei einer Rückkehr dorthin vor erneuten Übergreifen nichtstaatlicher Akteure in Gestalt der jeweils herrschenden Clans nicht hinreichend sicher wäre. Der Kläger hat glaubhaft geschildert, dass er von Mitgliedern des Hawiye-Clans gefangen genommen wurde und man den Aufenthaltsort seines geflüchteten Vaters von ihm erpressen wollte. Dabei hat man ihm Wunden beigefügt, die auf seinem linken Unterarm auch noch im Termin zur mündlichen Verhandlung zu sehen waren. Vor erneuter Verfolgung ist der Kläger zur Überzeugung des Gerichts schon wegen seiner Zugehörigkeit zum Clan der Midgan nicht hinreichend sicher. Denn in Somalia leben einzelne ethnische Minderheiten, zu denen auch die Midgan gehören, unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen und sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (Lagebericht des AA vom 05.05.2008, S. 10). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger in Somalia einen Ort erreichen könnte, an dem er vor erneuten Übergriffen hinreichend sicher wäre, und an dem ihm gleichzeitig ein wirtschaftliches Existenzminimum zur Verfügung stehen würde. Zwar bestehen vor allem in den nördlichen Landesteilen in der Republik Somaliland und in Puntland Zufluchtsgebiete, in denen weitgehend Bewegungsfreiheit für Angehörige aller Clans herrscht. Allerdings ist es häufig schwierig oder unmöglich, solche Gebiete tatsächlich zu erreichen. Außerdem ist die Aufnahmekapazität solcher Zufluchtsgebiete begrenzt und bereits jetzt äußerst angespannt (Lagebericht des AA vom 05.50.2008, S. 13). Für Rückkehrer besteht die größte Gefahr in lokalen, clanbezogenen Rivalitäten. Rückkehrer sind u.a. in Abhängigkeit von ihrer Clanzugehörigkeit, einer im Einzelfall schwer einzuschätzenden, möglicherweise sogar lebensbedrohenden Gefahr ausgesetzt (Lagebericht vom 05.05.2008, S. 15).