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VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2008 - 2 K 20022/08 Me - asyl.net: M14365
https://www.asyl.net/rsdb/M14365
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer staatenlosen armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan wegen Ausbürgerung und Wiedereinreiseverweigerung; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter mittelbarer Gruppenverfolgung von armenischen Volkszugehörigen; keine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Verwaltungsgericht, Herkunftsland, Staatenlose, Russland, Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitsrecht, Armenier, Wiedereinreiseverweigerung, Ausbürgerung, Verlust, Registrierung, Anmeldung, Abmeldung, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Schutzbereitschaft, Diskriminierung, Übergriffe, Verfolgungsdichte, interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Existenzminimum
Normen: VwGO § 52 Nr. 2; ThürVGZVO § 1 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung einer staatenlosen armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan wegen Ausbürgerung und Wiedereinreiseverweigerung; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter mittelbarer Gruppenverfolgung von armenischen Volkszugehörigen; keine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage, über die zu entscheiden das erkennende Gericht örtlich zuständig ist, ist zulässig und teilweise begründet.

1. Die örtliche Zuständigkeit des Gerichts richtet sich für die vorliegende Streitigkeit nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO, § 1 der Thüringer Verordnung über die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte in Streitigkeiten nach dem Ausländergesetz und dem Asylverfahrensgesetz (Thüringer Verwaltungsgerichtszuständigkeitsverordnung - ThürVGZVO) vom 30.11.1998 (GVBl. 1998, S. 434) i.V.m. der Nr. 3 der Anlage zu dieser Verordnung. Danach ist für die Zuständigkeit eines Verwaltungsgerichts das Herkunftsland maßgeblich. Nach § 1 Abs. 2 ThürVGZVO ist Herkunftsland das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt. Bei Staatenlosen, bei Personen mit doppelter oder ungeklärter Staatsangehörigkeit sowie in Fällen, in denen der Ausländer politische Verfolgung von einem Staat befürchtet, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, gilt als Herkunftsland in Streitigkeiten nach dem Ausländergesetz und dem Asylverfahrensgesetz der Staat, von dem der Asylbewerber politische Verfolgung befürchtet. Die Klägerin befürchtet hier Verfolgung sowohl hinsichtlich Aserbaidschans als auch der Russischen Föderation. Nach der Anlage zu § 1 Abs. 1 ThürVGZVO ist für das Herkunftsland Aserbaidschan das Verwaltungsgericht Meiningen und für das Herkunftsland Russische Föderation das Verwaltungsgericht Weimar örtlich zuständig.

Hier ist Aserbaidschan als Herkunftsland maßgeblich.

Grundsätzlich ist zunächst nur die vom Kläger in Anspruch genommene Staatsangehörigkeit maßgebend. Für den Fall, dass sich hingegen im Laufe des Verfahrens durch das Verwaltungsgericht - ggf. nach Aufklärungsmaßnahmen - die positive Feststellung einer anderen als der zuerst angegebenen und für die Zuständigkeit maßgeblichen Staatsangehörigkeit treffen lässt und für die Streitigkeit des Asylbewerbers danach ein anderes Verwaltungsgericht zuständig ist, hat das Gericht sodann die Verweisung nach § 83 VwGO i.V.m. § 17a GVG vorzunehmen (ThürOVG, Beschl. v. 16.06.2005, 3 SO 398/05).

Hier hat die Klägerin für sich die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit in Anspruch genommen. Eine andere Staatsangehörigkeit der Klägerin, die russische, lässt sich nicht positiv feststellen. Die Klägerin hat die Staatsangehörigkeit Russlands nicht erworben. Nach ihren Angaben hat die Klägerin seit 1990/1991 illegal, ohne als Flüchtling gemeldet zu sein oder die Einbürgerung beantragt zu haben, in Russland gelebt. Es erwarben jedoch automatisch die russische Staatsbürgerschaft nur solche sowjetischen Binnenflüchtlinge, die seit Inkrafttreten des russischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 28.11.1991 ständig in Russland registriert waren (VG Schleswig Holstein, U. v. 14.04.2004 - Az.: 4 A 54/01, m.w.N.; vgl. AA, Lagebericht Ziffer VI, Nr.4, Stand: 26.03.2004) und sich damit legal dort aufhielten. Entscheidend ist die offizielle Meldung am Wohnort in Russland und - damals noch zu Sowjetzeiten - der Besitz einer "propiska"; alle am 06.02.1992, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des russischen Staatsangehörigkeitsgesetzes gemeldeten Sowjetbürger erhielten die russische Staatsangehörigkeit (Auswärtiges Amt an das OVG Mecklenburg-Vorpommern v. 25.07.2006). Dies lässt sich für die Klägerin nicht feststellen.

2. Die Klage ist begründet, soweit die Klägerin unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Bescheides die Verpflichtung der Beklagten begehrt, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen und sie als Flüchtling anzuerkennen.

(2) Die Klägerin ist zwar nicht aserbaidschanische Staatsangehörige. Sie hat jedoch Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans, weil sie von ihrer Geburt bis zur Ausreise im Jahr 1990/1991 auf dem Territorium Aserbaidschans - in der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik - ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, allein wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit nicht als aserbaidschanische Staatsangehörige anerkannt wird und ihr die Wiedereinreise verwehrt wird.

Eine politische Verfolgung durch Entziehung der Staatsangehörigkeit bzw. die staatlich verweigerte Wiedereinreise (als objektive Nachfluchtgründe) erscheinen hier hinsichtlich der Klägerin überwiegend wahrscheinlich. Die Aberkennung der Staatsangehörigkeit ist nach den Gesamtumständen im Herkunftsland ebenso wie der neueren Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu Aserbaidschan als Akt politischer Verfolgung zu werten (ThürOVG, Urt. v. 28,02.2008, 2 KO 899/03, S. 28, m.w.N.).

Mit der zitierten aktuellen Rechtsprechung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts ist von folgendem auszugehen: Es ist weitgehende Praxis in Aserbaidschan, Personen, die am Stichtag 1.10.1998 im Ausland lebten, aus den Melderegistern zu streichen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2007, S. 19). Außerdem sollen Personen, die sich langfristig im Ausland aufhalten, aus den Melderegistern gelöscht werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 02.04.2007 an das VG Münster). Diese Streichung führt aber nach der aserbaidschanischen Praxis nicht zwingend zum Verlust der Staatsangehörigkeit; so werden die etwa zwei Millionen in Russland lebenden Aseris weiterhin als Staatsangehörige angesehen und erhalten von Konsulaten in Russland auch aserbaidschanische Pässe. Bezüglich amtlich armenischer Volkszugehöriger wird die Streichung im Melderegister, insbesondere nach der Stichtagsregelung, andererseits als Verlusttatbestand für die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit gehandhabt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2007, a.a.O.). Daneben gab es wohl - unabhängig vom dem Stichtag - willkürliche und unsystematische "Säuberungswellen" in den Melderegistern, auch schon vor 1998 zu (amtlich) armenischen Volkszugehörigen bzw. zu Personen mit armenisch klingenden Namen (vgl. die Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 12.12.2005 an das VG Schleswig und vom 25.11.2005 an das VG Osnabrück). Dementsprechend konnten nach der erwähnten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 02.04.2007 armenische Volkszugehörige in der Vergangenheit oft (noch zu > 50 %) im Geburtsregister aufgefunden werden, nicht jedoch im Personenregister. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass es Intention des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1998 war, nicht mehr in Aserbaidschan lebende armenische Volkszugehörige aus der Staatsangehörigkeit zu "entlassen" (so die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 29.08.2005 an das OVG Hamburg). Auch das Transkaukasus-Institut geht in seinem Gutachten vom 28.03.2007 (an das VG Braunschweig, S. 5) davon aus, dass das Staatsangehörigkeitsgesetz 1998 de jure zwar nicht zu einem Verlust der Staatsangehörigkeit bei einer Ausreise geführt hat, sich bezüglich (amtlich) armenischer Volkszugehöriger eine gegenteilige Praxis aber ausnahmslos durchgesetzt hat. Auch Dr. Savvidis (Gutachten vom 14.12.2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 6) nimmt an, das Staatsbürgerschaftsgesetz 1998 sei so formuliert, dass vor allem die armenischen Volkszugehörigen, die in der Hauptfluchtwelle 1988 bis 1994 Aserbaidschan verlassen hatten, keine Chance haben, die Staatsangehörigkeit zu erwerben; es handele sich de facto um eine Ausbürgerung auf kaltem Wege. Eine Rücknahme dieser dadurch staatenlosen armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan lehne der Staat Aserbaidschan ab; er verweigere (amtlich) armenischen Volkszugehörigen ausnahmslos die Wiedereinreise (siehe das Gutachten des Transkaukasus-Instituts vom 16.04.2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 3). Das Transkaukasus-Institut berichtet in dem zitierten Gutachten von dem Fall einer armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan, die nach längerem Bemühen aus dem Ausland heraus zwar (ausnahmsweise) die Bestätigung der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit erhalten habe, der aber eine Einreise oder ein Reisepass gleichwohl verweigert wurden (ThürOVG, a.a.O., S. 29).

Nach der oben genannten Rechtspraxis der aserbaidschanischen Behörden steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit oder auch wegen ihres armenisch klingenden Namens (die Endung des Familiennamens mit "jan" ist kennzeichnend für armenische Volkszugehörige) und einer deshalb angenommenen armenischen Volkszugehörigkeit im Melderegister gelöscht wurde und - unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Ausreise und der Löschung im Melderegister - vom aserbaidschanischen Staat nicht als eigene Staatsangehörige angesehen wird.

Weiterhin wäre die Klägerin im Fall ihrer Rückkehr nach Aserbaidschan auch vor einer mittelbaren Gruppenverfolgung nicht hinreichend sicher.

Mit dem Thüringer Oberverwaltungsgericht ist angesichts der inzwischen vorliegenden weiteren Erkenntnisse über Aserbaidschan nun davon auszugehen, dass eine Reihe von Tatsachen für ein sich fortsetzendes, diskriminierendes Handeln von wesentlichen Teilen der Bevölkerungsmehrheit sprechen, die sich gegen die wenigen noch im Land verbliebenen Personen mit armenischem Hintergrund richten. Ein definierter Endzeitpunkt Ende 1999 bzw. Anfang 2000 kann nicht mehr aufrechterhalten werden, von dem an eine mittelbare Gruppenverfolgung aserbaidschanischer Staatsangehöriger mit armenischer Volkszugehörigkeit auszuschließen ist (ThürOVG, a.a.O., S. 32). Die wenigen Menschen mit armenischem Hintergrund, die noch in Aserbaidschan verblieben sind, werden in der Öffentlichkeit praktisch nicht mehr wirksam. Mit Aserbaidschanern verheiratete Armenierinnen suchen Schutz im Familienverband. Personen, die aus sog. Mischehen zwischen Aserbaidschanern und Armeniern stammen, sind ebenso darauf angewiesen, ihre Herkunft möglichst zu verdecken. Mithin hängt die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit von Verfolgungsmaßnahmen von dem eher zufälligen Umstand ab, dass die Herkunft für Dritte offenbar wird. Nimmt man hinzu, dass für die ausgrenzende Verfolgung zugleich die Maßnahmen mit einbezogen werden müssen, die unmittelbar vom Staat ausgehen (die verweigerte Wiedereinreise armenischer Volkszugehöriger, die Streichung aus den Meldelisten, die Aberkennung der Staatsangehörigkeit), drängt eine wertende Betrachtung i.S. einer Gewichtung und Ausprägung dieser Geschehnisse und ihrer Bedeutung dazu, dass jederzeit für die potentiell Betroffenen sich die Gefahr eigener Verfolgung verwirklichen kann und sie Opfer von Verfolgungsmaßnahmen werden können, so denn der armenische Hintergrund "entdeckt" wird. Die diskriminierenden Akte gegenüber armenischen Volkszugehörigen sind auch als politische Verfolgung einzustufen (ThürOVG, a.a.O., S. 42, m.w.N.).

Die Klägerin wäre bei dem hier anzuwendenden herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab (da die Klägerin verfolgungsbedingt in die Russische Föderation ausgereist ist) jedenfalls - unabhängig vom Fortbestehen einer (mittelbaren) Gruppenverfolgung - nicht hinreichend sicher. Die Klägerin trägt einen armenischen Namen. Beide Eltern sind Armenier. Sie muss insofern mit der Aufdeckung ihrer armenischen Abstammung etwa durch Flüchtlinge rechnen und wäre dann entsprechenden Reaktionen der Bevölkerung (Wohnungs-, Arbeitsplatzverlust etc.) ausgesetzt, sofern ihr noch die Rückkehr in das Heimatland staatlicherseits ermöglicht würde (vgl. ThürOVG, a.a.O., S. 44).

Eine inländische Fluchtalternative in der Region von Berg-Karabach besteht für die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Aserbaidschan nicht. Auch bei einer erreichbaren Rückkehr nach Berg-Karabach drohen der Klägerin dort Gefahren bzw. Nachteile, die zum Ausschluss dieses Gebietes als inländische Fluchtalternative führen. Es hätte wohl nur eine wohlhabende Person oder ein zusammen mit seiner Großfamilie sich in Berg-Karabach ansiedelnder Rückkehrer mit landwirtschaftlicher Erfahrung realistische Chancen, in Berg-Karabach eine das Existenzminimum sichernde Lebensgrundlage aufzubauen (ThürOVG, a.a.O., S. 53, m.w.N.). Einen solchen Hintergrund hat die alleinstehende Klägerin jedoch nicht.

(3) Eine Prüfung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf die Russische Föderation entfällt. Die Klägerin hat die Staatsangehörigkeit Russlands nicht erworben (s.o. S. 5). Russland kann auch nicht (mehr) als Land des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 3 AsylVfG angesehen werden. Der Klägerin wird, nachdem sie Russland verlassen hat, die Wiedereinreise verweigert, wobei diese Weigerung nicht an asylrelevante Merkmale anknüpft. Nach der Auskunft des AA vom 14.10.1999 an das VG Schleswig stellen russische Behörden in der Regel keine Passersatzpapiere für staatenlose ehemalige Sowjetbürger zur Einreise nach Russland aus, wenn - wie hier - kein offizieller Status als Flüchtling vorliegt, wobei ethnische oder andere asylerhebliche Merkmale keine Rolle spielen (vgl. auch VG Schleswig Holstein, U. v. 14.04.2004 - Az.: 4 A 54/01; VG Schleswig, U.v. 14.07.2005). Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Auch russische Staatsangehörige können in aller Regel nicht ohne Vorlage eines russischen oder sowjetischen Reisepasses wieder nach Russland einreisen. Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetrepublik, die inzwischen in Russland dauerhaft wohnen, hatten bis zum 31.12.2000 die Möglichkeit, die russische Staatsangehörigkeit zu beantragen (AA, Lagebericht Russische Föderation, Ziffer VI Nr. 1 und 4, Stand 26.03.2004). Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin nicht vor.