OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 14.08.2008 - 4 Bs 84/08 - asyl.net: M14351
https://www.asyl.net/rsdb/M14351
Leitsatz:

Die Abschiebung eines ausländischen Vaters eines ungeborenen Kindes, das voraussichtlich die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen wird, ist gem. § 60 a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG unzulässig, wenn er zum Einen die Vaterschaft mit Zustimmung der Mutter anerkannt hat und beide bereits in Verhältnissen leben, die die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes erwarten lassen, und zum Zweiten die Durchführung des Visumsverfahrens nicht zumutbar ist; das gilt jedenfalls ab dem Zeitpunkt, ab dem ein straffreier Schwangerschaftsabbruch nach § 218 a Abs. 1 StGB nicht mehr möglich ist.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Vater, Vaterschaftsanerkennung, deutsche Kinder, Schwangerschaft, Zumutbarkeit, Visumsverfahren, Sperrwirkung, Wirkungen der Abschiebung, Befristung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2; AufenthG § 11 Abs. 1
Auszüge:

Die Abschiebung eines ausländischen Vaters eines ungeborenen Kindes, das voraussichtlich die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen wird, ist gem. § 60 a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG unzulässig, wenn er zum Einen die Vaterschaft mit Zustimmung der Mutter anerkannt hat und beide bereits in Verhältnissen leben, die die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes erwarten lassen, und zum Zweiten die Durchführung des Visumsverfahrens nicht zumutbar ist; das gilt jedenfalls ab dem Zeitpunkt, ab dem ein straffreier Schwangerschaftsabbruch nach § 218 a Abs. 1 StGB nicht mehr möglich ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde hat Erfolg.

Diese Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) keinen Bestand haben. Sie ist auf den Antrag des Antragstellers zu ändern, und ihm ist der begehrte einstweilige Abschiebungsschutz zunächst für die Zeit bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (zuzüglich der entsprechenden Rechtsmittelfrist) zu gewähren.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Abschiebung eines Ausländers, der Vater eines nicht ehelichen, noch nicht geborenen deutschen Kindes ist, nach § 60 a Abs. 2 AufenthG aus rechtlichen Gründen vorläufig auszusetzen ist, sind zunächst die Grundsätze zu beachten, die das Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen vom 8. Dezember 2005 (FamRZ 2006, 187 ff.) und vom 23. Januar 2006 (NVwZ 2006, 682, 683, m.w.N.) zum Familienschutz entwickelt hat. Danach verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 15.5.2006, 4 Bs 129/06, juris; Beschl. v. 16.10.2007, 4 Bs 211/07; v. 27.5.2008, 4 Bs 42/08).

Weiter hat das Bundesverfassungsgericht in den zitierten Entscheidungen betont, dass bei der Auslegung und Anwendung der ausländerrechtlichen Vorschriften – hier insbesondere der §§ 25 Abs. 5, 60 a Abs. 2 AufenthG - auch angemessen zu berücksichtigen sei, dass durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16. Dezember 1997 (BGBl I S. 2942) die Rechtspositionen des Kindes und seiner Eltern sowohl hinsichtlich des gemeinsamen Sorgerechts als auch hinsichtlich des Umgangsrechts gestärkt worden seien. Seither sei deshalb maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit bestehe, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen sei. Dabei seien die Belange der Eltern und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen (BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005, a.a.O.; v. 23.1.2006, a.a.O.; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 20.2.2003, BVerwGE 117, 380, 390 f.). In seiner Entscheidung zur Durchsetzung des Umgangsrechts mit Zwang (Urt. v. 1.4.2008, NJW 2008, 1287, 1289 f.) hat das Bundesverfassungsgericht nochmals die besondere Bedeutung beider Elternteile für das Kind hervorgehoben und hierzu ausgeführt, dass das Kind auch einen Anspruch darauf habe, dass zuvörderst seine Eltern Sorge für es tragen, und ein Recht darauf, dass seine Eltern der mit ihrem Elternrecht untrennbar verbundenen Pflicht auch nachkommen. Dieses Recht des Kindes finde insofern in der elterlichen Verantwortung seinen Grund und werde damit von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützt. Es stehe in engem Zusammenhang mit dem Grundrecht des Kindes auf Schutz seiner Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, denn es sichere dem Kind den familiären Bezug, der für seine Persönlichkeitsentwicklung von Bedeutung sei. Die persönliche Beziehung zu seinen Eltern, ihre Pflege, Hilfe wie Zuwendung trügen wesentlich dazu bei, dass sich das Kind zu einer Persönlichkeit entwickeln könne, die sich um ihrer selbst geachtet weiß und sich selbst und andere zu achten lernt (vgl. BVerfG, a.a.O., 1288 f.).

Diese Grundsätze, die den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Zuerkennung von Abschiebungsschutz für den ausländischen Vater eines deutschen Kindes bilden und aus denen sich insoweit aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen ergeben können, sind jedenfalls ab dem (hier gegebenen) Zeitpunkt zu beachten, nach dem ein straffreier Schwangerschaftsabbruch nach § 218 a Abs. 1 StGB grundsätzlich nicht mehr möglich und deshalb die physische Existenz des ungeborene Kindes tatsächlich und rechtlich hinreichend gesichert ist. Die o.g. Grundsätze bedürfen jedoch – da die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen den Eltern und dem Kind erst bevorsteht - einer den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden modifizierten Anwendung. Insoweit ist – anstelle des Bestehens einer bereits gelebten familiären Gemeinschaft - als erstes regelmäßig zu fordern, dass der ausländische Vater gegenüber den zuständigen Behörden seine Vaterschaft (mit Zustimmung der Mutter) anerkannt hat und beide bereits in Verhältnissen leben, welche die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwarten lassen (so schon OVG Hamburg, Beschl. v. 13.2.2007, 4 Bs 313/06, S. 7 der Entscheidungsausfertigung). Zum anderen ist eine (vorübergehende) Ausreise des ausländischen Vaters eines noch nicht geborenen deutschen Kindes (etwa zur Durchführung des Sichtvermerksverfahrens) regelmäßig dann unzumutbar - und seine Abschiebung insoweit nach § 60 a Abs. 2 AufenthG auszusetzen - , wenn nach den im Einzelfall gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen mit seiner Rückkehr vor dem voraussichtlichen Geburtstermin nicht gerechnet werden kann (so auch OVG Bautzen, Beschl. v. 25.1.2006; NVwZ 2006, 613; siehe auch VGH München, Beschl. v. 20.4.2006, 19 CE 06.981, juris; VG Dresden, Beschl. v. 19.7.2007, 1 K 1343/07, juris; VG Saarlouis, Beschl. v. 28.2.2008, 11 L 103/08, juris [dort Risikoschwangerschaft]). Denn bei einer Wiedereinreise des Ausländers nach der Geburt (im Wege des Familiennachzugs) wäre das deutsche Kind von dem spezifischen Betreuungsbeitrag seines Vaters ausgeschlossen, der durch die mütterliche Betreuung nicht ersetzt wird. Vielmehr benötigt das Kind - wie oben näher dargelegt - für seine Persönlichkeitsentwicklung in aller Regel den Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen sowohl zu seinem (ausländischen) Vater als auch zu seiner Mutter. Es ist deshalb jedenfalls in den ersten Jahren nach der Geburt auf beide Elternteile angewiesen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005, v. 23.1.2006, Urt. v. 1.4.2008, jeweils a.a.O.).

Bei Beachtung dieser Grundsätze ist nach derzeitigem Erkenntnisstand dem Schutz der Familie des Antragstellers der Vorrang einzuräumen gegenüber den von der Antragsgegnerin geltend gemachten öffentlichen Interessen an seiner Aufenthaltsbeendigung.

Der Antragsteller hat zunächst glaubhaft gemacht, dass er und seine Verlobte, die Mutter des erwarteten deutschen Kindes, bereits in Verhältnissen leben, welche die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwarten lassen.

Zum anderen ist nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nicht zu erwarten, dass der Antragsteller nach einer von der Antragsgegnerin geplanten Abschiebung in die Türkei noch vor dem voraussichtlichen Geburtstermin (14.10.2008) in das Bundesgebiet zurückkehren kann. Dabei ist von den zeitlichen Verhältnissen im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung auszugehen. Danach stünde dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung in seinen Heimatstaat für das Verfahren auf Befristung der Wirkungen der Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) und für die Durchführung des Sichtvermerksverfahrens betreffend die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für eine Familienzusammenführung (§§ 6 Abs. 4, 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) ein Zeitraum von nur noch zwei Monaten zur Verfügung. Es bedarf keiner weiteren Darlegung, dass die genannten Verfahren jedenfalls in diesem kurzen Zeitraum nicht erfolgreich abgeschlossen werden können und der Antragsteller deshalb noch im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt seines Kindes wieder einreisen könnte.