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VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 09.07.2008 - 5 E 1007/07.A (V) - asyl.net: M14339
https://www.asyl.net/rsdb/M14339
Leitsatz:

Asylanerkennung für Funktionär der Ethiopian National United Front (ENUF).

 

Schlagwörter: Äthiopien, Verfahrensrecht, Klagefrist, Zustellung, Ablehnungsbescheid, Zustellungsfiktion, Postzustellungsurkunde, öffentliche Urkunde, Gegenbeweis, Gemeinschaftsunterkünfte, Gemeinschaftsbriefkasten, Postausgabe, Nachfluchtgründe, Oppositionelle, ENUF, Ethiopian National United Front, UEDF, United Ethiopian Democratic Forces, Funktionäre, Zentralkomitee, Internet, Zeitschriften, Artikel, Menschenrechtslage, Überwachung im Aufnahmeland, exilpolitische Betätigung
Normen: AsylVfG § 10 Abs. 2; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Asylanerkennung für Funktionär der Ethiopian National United Front (ENUF).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist - wie das Gericht bereits im Eilverfahren 5 G 1050/07.A festgestellt hat - zulässig. Der angefochtene Bescheid wurde dem Kläger nicht ordnungsgemäß zugestellt, so dass die Klagefrist nicht zu laufen beginnen konnte. Der Kläger muss auch die Zustellfiktion des § 10 Abs. 2 AsylVfG nicht gegen sich gelten lassen. Zwar ist die Postzustellungsurkunde, auf der die Zustellerin vermerkt hat, der Adressat sei unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln, eine öffentliche Urkunde, die grundsätzlich geeignet ist, Beweis für die Richtigkeit des dort dokumentierten Vorgangs zu erbringen. Allerdings ist ein Gegenbeweis möglich. Insoweit ist von Bedeutung, dass die Feststellung in der PZU, der Kläger habe in der Unterkunft nicht ermittelt werden können, nicht zutreffend sein kann. Der Kläger hat dargelegt und durch Lichtbilder nachgewiesen, dass es in seiner Unterkunft keine individuell zugeordneten Briefkästen, sondern nur einen Gemeinschaftsbriefkasten gibt. Postausgabe findet nur zu bestimmten Zeiten statt. Wie bei dieser Sachlage die Zustellerin ihre Erkenntnisse gewonnen haben will, bleibt unerfindlich. Im Übrigen hat der Kläger den Gegenbeweis angetreten.

Sie ist auch begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG.

Er hat die Einreise auf dem Luftweg durch Vorlage des Tickets nachgewiesen; § 26 a AsylVfG kann nicht zur Anwendung kommen.

Es kann dahinstehen, ob der Kläger sein Heimatland aus begründeter Furcht vor unmittelbar bevorstehender politischer Verfolgung verlassen hat, denn er kann sich auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen, die sich als Ausdruck und Fortführung einer festen, bereits im Heimatland erkennbar betätigten oppositionellen Überzeugung (vgl. § 28 Abs. 1 AsylVfG) darstellen.

Der Kläger war bereits in seinem Heimatland politisch aktiv und hat sich für den Sturz der derzeitigen äthiopischen Regierung eingesetzt. In der CUD hat er für die Ablösung geworben und zur Teilnahme an den Wahlen im Jahre 2005 aufgefordert. Allerdings musste er erkennen, dass die Wahlerfolge den oppositionellen Gruppen wenig genützt haben und eine Ablösung der derzeitigen Regierung nicht vollzogen werden konnte. Deshalb hat er sich in Fortsetzung seiner oppositionellen Betätigung im Exil der ENUF angeschlossen, die sich für einen anderen Weg zur Herbeiführung des Machtwechsels entschlossen hat. In dieser oppositionellen Gruppierung ist der Kläger nicht nur einfaches Mitglied, er ist vielmehr in verschiedenen Bereichen aktiv und gehört mittlerweile auch zum Führungskomitee in Deutschland. Er hat nicht nur an diversen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit teilgenommen, sondern auch regierungskritische Artikel in mehreren Zeitschriften und im Internet veröffentlicht. Weiterhin hat er die Internetseite seiner Gruppe aufgebaut und betreut diese. Als Mitlied des Zentralkomitees ist er für die Propagandaarbeit in ganz Deutschland zuständig. Damit hat der Kläger eine herausgehobene Position, er ist ein aktives Führungsmitglied der ENUF.

Es besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass diese Betätigung den äthiopischen Behörden bekannt geworden ist und der Kläger deshalb bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen rechnen müsste.

Die ENUF (Ethiopian National United Front) ist eine von Dr. Kitaw Ejigo gegründete Partei, die sich 2003 dem Bündnis UEDF (United Ethiopian Democratic Forces) angeschlossen hat. Das politische Programm der ENUF stützt sich auf eine Ablehnung des von der EPRDF eingeführten Systems des ethno-zentralen Föderalismus und einer Nicht-Anerkennung der eritreischen Unabhängigkeit oder zumindest der von der Grenzkommission gefällten Entscheidung über den Grenzverlauf Eritreas und Äthiopiens in Folge des Grenzkrieges von 1998 bis 2000 (Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 18.09.2003 an VG Darmstadt). Die ENUF fordert die Beseitigung der EPRDF-Herrschaft unter aktiver Beteiligung des äthiopischen Volkes (Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 01.09.2003 an VG Würzburg). Die ENUF ist nach ihren eigenen Angaben davon überzeugt, dass die diktatorische Regierung ohne bewaffneten Widerstand nicht zu Fall gebracht werden kann. Ihre Kampfverbände operieren in mehreren Regionen Äthiopiens. Um deren Kampf zu unterstützen wurde das Komitee zur Unterstützung der ENUF in Deutschland am 17.08.2002 gegründet (vgl. die von dem Kläger vorgelegte Mitgliedsbescheinigung).

Das Oppositionsbündnis UEDF hat sich zwar an den nationalen Wahlen im Jahre 2005 beteiligt. Bereits im Vorfeld der Wahlen und insbesondere nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses bezichtigte die Regierung aber die Oppositionsparteien, eine Verschwörung zum gewaltsamen Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung zu planen, ließ Oppositionspolitiker festnehmen, verbot Demonstrationen, ging gewaltsam gegen Demonstrationsteilnehmer vor und versuchte auf vielfältige Art und Weise auch die gewaltlose und legitime Wahrnehmung des Rechts auf freie Meinungsäußerung zu verhindern (vgl. dazu amnesty international vom 30.09.2005: Mutmaßliche gewaltlose politische Gefangene/Drohende Folter und Misshandlung; Human Rights Watch vom 10.05.2005: Äthiopien, Kritiker werden schikaniert und gefoltert; taz vom 03.11.2005: Blutbad in Äthiopiens Hauptstadt; Deutsche Welle vom 03.11.2005: Gewalt in Addis Abeba).

Nach den Wahlen, bei denen die Regierungskoalition die absolute Mehrheit gewinnen konnte, die Oppositionsbündnisse CUD und UEDF aber auch insgesamt 161 der 524 Sitze erringen konnten (FAZ vom 11.08.2005: Regierung gewinnt Wahl in Äthiopien), beschuldigten die Oppositionsbündnisse die Regierung, die Wahl manipuliert zu haben und riefen zu Protesten auf. In der Folge wurden Tausende von Menschen verhaftet, auf den Straßen eskalierte die Gewalt. Die gesamte Führung der CUD wurde festgenommen (taz vom 03.11.2005: Blutbad in Äthiopiens Hauptstadt). Das Regime hält sich nach Auffassung internationaler Beobachter mit Wahlbetrügereien und mit Gewalt gegen die Opposition, die sich gegen diese Manipulationen auflehnt, an der Macht (vgl. NZZ vom 09.11.2005: Sturmzeichen am Horn von Afrika). Massive Repressionen sind an der Tagesordnung. Auch wenn es inzwischen wieder zu Freilassungen gekommen ist, so ist doch davon auszugehen, dass noch eine unbestimmte Anzahl von Verhafteten auch länger und ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden wird. Das äthiopische Regime fühlt sich letztlich rechtsstaatlichem Handeln nicht verpflichtet. Das Vorgehen gegen auch nur vermeintliche Oppositionelle ist rigide und unberechenbar (vgl. dazu Schröder, Auskunft vom 20.06.2005 an VG Wiesbaden). Die äthiopische Regierung duldet nach wie vor keine Kräfte, die ihre Vormachtstellung nicht uneingeschränkt anerkennen und von denen zu befürchten ist, dass sie in der Bevölkerung Unterstützung für ihre oppositionelle Haltung finden (vgl. dazu ai, Auskunft vom 01.03.2001 an VG Kassel, AA, Lageberichte vom 13.05.2004 und 25.07.2005). Die Gefahr, dass Regierungskritiker - wie der Kläger - bei einer Rückkehr verhaftet und damit ruhiggestellt werden sollen, muss als hinreichend wahrscheinlich angesehen werden (vgl. dazu ai, Auskunft vom 03.07.2003 an VG Wiesbaden). Die äthiopische Regierung gewährleistet weder die Presse- noch die Meinungsfreiheit, oppositionelle Betätigung - auch von zugelassenen Organisationen - wird regelmäßig von Regierungskräften behindert oder sogar offen bekämpft. Immer wieder werden Journalisten und Demonstranten verhaftet und auf ungewisse Zeit festgehalten; eine Freilassung erfolgt oft nur gegen hohe Kautionszahlungen, ohne dass ein geordnetes Verfahren stattgefunden hätte. Willkürliche Verhaftungen ohne Anklageerhebung gehören weiter zum Justizalltag. Kommt es zu einem Strafverfahren, so werden gegen Regimekritiker in politisch motivierten Prozessen oft unverhältnismäßig hohe Haftstrafen verhängt (vgl. dazu AA, Lageberichte vom 25.07.2005, 18.07.2006 und 06.11.2007).

Es ist auch davon auszugehen, dass die regierungskritische Betätigung in der Diaspora den äthiopischen Behörden zur Kenntnis gelangt ist. Die Beobachtung exilpolitischen Verhaltens äthiopischer Staatsangehöriger ist ein erklärtes Anliegen des äthiopischen Staates (vgl. die äthiopische "Richtlinie zum Aufbau einer Wählerschaft" für das Haushaltsjahr 1998, gerichtet an die Botschaften, Konsulatgenerale und ständigen Vertretungen der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien im Ausland; SZ vom 10.10.2006: Nach Hause in die Ungewissheit; vgl. auch Günter Schröder, Stellungnahme vom März 2006 an das VG Kassel; Institut für Afrikakunde/GIGA vom 22.10.2006 an VG Wiesbaden und vom 29.06.2006 an VG Magdeburg).