VG Mainz

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Zitieren als:
VG Mainz, Urteil vom 15.07.2008 - 3 K 640/06.MZ - asyl.net: M14331
https://www.asyl.net/rsdb/M14331
Leitsatz:

§ 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Berücksichtigung eines Religionswechsels im Folgeverfahren auch dann entgegen, wenn dieser auf einer ernsthaften inneren Überzeugung beruht; Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK hinsichtlich Irans für Angehörige einer Pfingstgemeinde; keine Wahrung des "religiösen Existenzminimums" im Iran.

 

Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, Konversion, Apostasie, Christen, Pfingstgemeinden, religiöses Existenzminimum, Religion, Anerkennungsrichtlinie, religiös motivierte Verfolgung, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, atypischer Ausnahmefall, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, EMRK, Religionsfreiheit, Assemblies of God, Missionierung, Gottesdienst, Ahmadinedschad, politische Entwicklung, Willkür
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AsylVfG § 28 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 9
Auszüge:

§ 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Berücksichtigung eines Religionswechsels im Folgeverfahren auch dann entgegen, wenn dieser auf einer ernsthaften inneren Überzeugung beruht; Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK hinsichtlich Irans für Angehörige einer Pfingstgemeinde; keine Wahrung des "religiösen Existenzminimums" im Iran.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte feststellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.

Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags hinsichtlich eines erneuten Asylantrags (Folgeantrag) ein weiteres Verfahren nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Absätze 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VwVfG - vorliegen; insbesondere muss einer der Wiederaufgreifensgründe des § 51 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 VwVfG gegeben sein.

Allerdings ist durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I 1970 ff.) eine nachträgliche Änderung der Rechtslage dergestalt erfolgt, dass durch § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie - RL) in nationales Recht umgesetzt worden ist. Dies hat zur Folge, dass nach obergerichtlicher Rechtsprechung der in Art. 10 Abs. 1 b RL enthaltene Religionsbegriff nunmehr über das religiöse Existenzminimum hinaus die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit und auch missionarische Aktivitäten umfasst (vgl. VGH München, Urteil vom 23. Oktober 2007 - 14 B 06.30315; OVG Saarland, Urteil vom 26. Juni 2007 - 1 A 222/07 in AS 34, 417 ff.; Sächs. OVG Sächs. OVG, Urteil vom 27. März 2007 - A 2 B 38/06 und vom 24. April 2007 - A 2 B 832/05 -; VGH Mannheim, Urteil vom 21. Juni 2006 - A 2 S 571/05 - in AuAS 2006, 175; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 04. April 2007 - 6 A 11569/06.OVG - ).

Dennoch kommt eine günstigere Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG aufgrund dieser nachträglichen Rechtsänderung nicht in Betracht. § 28 Abs. 2 AsylVfG in der durch Gesetz vom 19. August 2007 (BGBl. I S.1270) geregelten Fassung steht einer Berücksichtigung des von der Klägerin im Bundesgebiet unternommenen Glaubenswechsels und ihrer damit im Zusammenhang stehenden auch nach Abschluss des ersten Folgeverfahrens weiter geführten Aktivitäten entgegen.

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylVfG kann einem Ausländer, der nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und der diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat (subjektive Nachfluchtgründe) in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (Urteil vom 29. August 2007 - 1 A 10074/06.OVG -) ist § 28 Abs. 2 AsylVfG in seiner nunmehr geltenden Fassung sowohl mit der Genfer Flüchtlingskonvention als auch mit der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie) vereinbar. Allerdings ist, worauf das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich hingewiesen hat, höchstrichterlich nicht geklärt, an welche Ausnahmesituationen der Gesetzgeber im Rahmen des § 28 Abs. 2 AsylVfG gedacht hat und ob er den von ihm nicht ausgeschlossenen Ausnahmefall auf bestimmte, abschließend festlegbare Situationen hat beschränken wollen.

Nach der genannten Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz kann die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Asylfolgeverfahren (gemäß § 28 Abs. 2 AsylVfG n. F.) ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalles die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass die von dem Ausländer nach der Rücknahme oder der unanfechtbaren Ablehnung seines Asylantrags selbst geschaffenen Umstände, sofern sie nicht Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind, auf einer ernsthaften inneren Überzeugung beruhen und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer die von ihm entfalteten Aktivitäten einzig und allein hauptsächlich aufgenommen hat, um die für die Zuerkennung des begehrten Schutzstatus erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen. Die Kammer hat allerdings Bedenken, dieser weitgehenden Auffassung zu folgen. Die grundsätzliche Zurückhaltung bei der Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe ist von der Erwägung getragen, dass sich ein Ausländer bei Fehlen des Kausalzusammenhangs Verfolgung/Flucht/Asyl nicht durch eine "risikolose Verfolgungsprovokation vom gesicherten Ort aus" ein grundrechtlich verbürgtes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland selbst erzwingen können soll (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 26. November 1986 - 2 BvR 1058/85 - BVerfGE 74, 51). Die Kammer sieht von daher in Bezug auf die Klägerin, deren Ausreise aus dem Iran auch nicht ansatzweise religiös motiviert war, keine ausreichenden Anhaltspunkte für gegeben an, die die Annahme eines Ausnahmefalles rechtfertigen könnten.

Der von der Klägerin geltend gemachte und durch ihre Taufe nach außen hin dokumentierte Übertritt zum Christentum innerhalb einer evangelisch-freikirchlichen Gemeinde ist jedoch unter dem Gesichtspunkt der Geltendmachung eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG beachtlich.

Maßstab eines Abschiebungsverbots wegen der menschenrechtlichen Religionsfreiheit gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 9 EMRK ist nach wie vor das religiöse Existenzminimum, das als "forum internum" die Religionsausübung im privaten Bereich umfasst (BVerwG, Urteil vom 24. Mai 2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223).

Insofern bedarf die auf das religiöse Existenzminimum abstellende Rechtsprechung bezüglich des hier allein in Rede stehenden Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG keiner Modifikation wegen der mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 unmittelbar anwendbar gewordenen und durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I, S. 1970) - in Kraft getreten am 28. August 2007 - in nationales Recht umgesetzten Qualifikationsrichtlinie (RL). Zwar geht der in Art. 10 Abs. 1 b RL als Verfolgungsgrund definierte Begriff der Religion über das "Forum Internum" hinaus und umfasst wie bereits dargelegt, insbesondere auch die Religionsausübung in der Öffentlichkeit. Allerdings betrifft diese Begriffsdefinition lediglich die in Kapitel III (Art. 9 bis 12 RL) geregelte Anerkennung als Flüchtling und nicht die in Kapitel V (Art. 15 bis 17 RL) bestimmten Voraussetzungen eines Anspruchs auf subsidiären Schutz, d. h. hier des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 2 ff. AufenthG (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 17. April 2008 - 10 B 28/08 -; VG Hamburg, Urteil vom 24. April 2008 - 10 A 291/07 -; a.A. VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2006 - 22 K 350/05.A -).

Aber ungeachtet dessen, dass im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG von einem auf das religiöse Existenzminimum beschränkten Religionsbegriff auszugehen ist, liegen in Bezug auf die Klägerin die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 9 EMRK vor. Es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran wegen ihres Übertritts zum Christentum staatlichen Eingriffen erheblicher Art in ihr religiöses Existenzminimum ausgesetzt sein wird.

Hierbei ist zunächst davon auszugehen, dass der Glaubensübertritt der Klägerin einer glaubhaften Zuwendung zum christlichen Glauben im Sinne einer ernsthaften Gewissensentscheidung, auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht.

Zu dem menschenrechtlichen Mindeststandard, dessen Missachtung in einem Nicht-Vertragsstaat eine Abschiebung dorthin unzulässig machen kann, gehört im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ein unveräußerlicher - nach Art. 9 EMRK nicht beschränkbarer - Kern der Religionsfreiheit, der für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar ist (BVerwGE 111, 223 bis 230). Dessen Verletzung kann im Einzelfall zu einem Abschiebungsverbot aus der EMRK führen. Dieser unbedingt zu schützende menschenrechtliche Kern der Religionsfreiheit reicht, wie dargelegt, nicht weiter als das sogenannte religiöse Existenzminimum, wie es nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG durch das Asylrecht geschützt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 1994 - 2 BvR 1426/91 in NVwZ Beilagen 1995, 33 f. und BVerwG, a.a.O.).

Danach ist es einem Asylbewerber zuzumuten nach einer Rückkehr in sein Heimatland einen neuen Glauben nach Außen nicht offensiv zu vertreten, sondern ihn nach innen zu bekennen. Mit diesem Ansinnen, sich nach einer Rückkehr unauffällig zu verhalten wird auch nicht das "religiöse Existenzminimum" eingeschränkt. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt das Asylrecht nicht vor staatlichen Maßnahmen, die sich gegen die Religionsausübung in der Öffentlichkeit richten. Umfasst ist als elementarer Bereich der sittlichen Person die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich und die Möglichkeit zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und dem Inhalt der vorhandenen Erkenntnisquellen ist jedoch davon auszugehen, dass jedenfalls seit der in jüngerer Zeit im Iran stattgefundenen innenpolitischen Entwicklung für Mitglieder freikirchlich-evangelikaler Kirchen selbst das religiöse Existenzminimum im dargestellten Sinn nicht mehr gewährleistet ist. Die Klägerin gehört einer solchen freikirchlichen Gemeinde an, da die in Deutschland ansässigen als Pfingstchristen Schwestergemeinden der im Iran vorhandenen Untergrundkirche "Assemblies of God churches" sind (DOI an VG Wiesbaden vom 11. Dezember 2003).

Aus den neuesten Erkenntnissen ist herzuleiten, dass konvertierte Muslime inzwischen keine öffentlichen christlichen Gottesdienste besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt, zu werden und dass auch die Ausübung des Glaubens im privaten Bereich in Gemeinschaft mit anderen nicht mehr gefahrlos möglich ist.

Die Hinwendung zum christlichen Glauben und die christliche Missionstätigkeit werden im Iran nicht deshalb verfolgt, weil die Ausübung der persönlichen Gewissensfreiheit und die rein persönliche, geistig-religiöse Entscheidung für einen anderen Glauben bekämpft werden soll. Bekämpft werden soll die Apostasie vielmehr, soweit sie als Angriff auf den Bestand der islamischen Republik Iran gewertet werden kann. Der politische Machtanspruch der im Iran herrschenden Mullahs ist absolut. Dieser Machtanspruch ist religiös fundiert, d. h. die iranischen Machthaber verstehen die Ausübung der politischen Macht als gleichsam natürliche Konsequenz ihrer Religion. Deshalb ist - weil dies den Gesetzen des Islam entspricht - religiöse Toleranz der jüdischen und christlichen Religionsgemeinschaften solange vorgesehen, wie deren Angehörige sich dem unbedingten religiösen und politischen Herrschaftsanspruch unterwerfen. Ein Ausbreiten dieser (Buch-) Religionsgemeinschaften in das muslimische Staatsvolk hinein kann demgegenüber den im Iran bestehenden Führungsanspruch der Mullahs in Frage stellen. Letztere differenzieren nämlich nicht zwischen Politik und Religion und übertragen diese Gleichsetzung auf andere Religionsgemeinschaften, denen sie unterstellen, ebenfalls Politik im religiösen Wandel zu betreiben (vgl. DOI vom 06. Dezember 1996 an Sächs. OVG, vom 22. November2004 an VG Kassel; vom 11. Dezember 2003 an VG Wiesbaden; vom 20. Dezember 1996 an VG Leipzig).

Während die traditionellen, ethnisch geprägten christlichen Glaubensgemeinschaften, die armenisch-orthodoxe, armenisch-evangelische, römisch-katholische und die assyrisch-chaldäische Kirche unbehelligt im Iran ihren Glauben praktizieren können, stellt sich die Situation in Bezug auf freikirchlich-evangelikale Gemeinden und speziell in Bezug auf die "Assemblies of God churches" durchaus anders dar. Diese Gemeinden werden wegen ihres westlich-ausländischen Hintergrundes und weil diese Gemeinden auch Missionierung betreiben, vom iranischen Staat nicht als religiöse, sondern als politische Gruppen angesehen. Dabei mag es im Regelfall nicht beachtlich wahrscheinlich sein, dass eine im Ausland vollzogene Konversion (Apostasie) allein die Gefahr politischer Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran begründet. Allerdings kann es durch das Hinzutreten weiterer Umstände im Einzelfall durchaus zu einem derartigen Gefährdungsgrad kommen. Zu den die Rückkehrgefährdung eines Apostaten deutlich erhöhenden Umständen gehört aber die Zugehörigkeit zu einer christlichen Gruppierung mit Missionierungstätigkeit, zu denen, wie dargelegt, die "Pfingstgemeinden" zählen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass sich die Situation für Angehörige freikirchlich-evangelikaler Gemeinden seit dem Amtsantritt Ahmadinejads im Juni 2005 weiter verschlechtert hat.

Die Kammer geht aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme davon aus, dass die Klägerin derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten hat. Aufgrund der Willkür des iranischen Regimes ist bei einer offenen Darstellung des Glaubensübertritts sowie im Fall einer nicht verheimlichten Religionsausübung mit der Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen und strafrechtlicher Ahndung unter dem Vorwand nicht religiös motivierter Straftaten zu rechnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Iran Folter bei Verhören, in der Untersuchungshaft und in regulärer Haft häufig vorkommen.