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VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Gerichtsbescheid vom 18.07.2008 - 5 A 125/08 MD - asyl.net: M14211
https://www.asyl.net/rsdb/M14211
Leitsatz:

Extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG für Hindus und Sikhs aus Afghanistan.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, Sikhs, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Diskriminierung, Übergriffe, Wiederaufgreifen des Verfahrens
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 48
Auszüge:

Extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG für Hindus und Sikhs aus Afghanistan.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat aber zur Überzeugung des Gerichts einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens durch die Beklagte nach § 48 VwVfG im Wege des gebundenen Ermessens. Denn unter den Gesichtspunkten des Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit des Klägers gemäß Art. 2 Abs. 2 GG hält es das Gericht für unvertretbar, dass der Kläger ohne Abschiebungsschutz nach Afghanistan zurückkehren müsste, obwohl dort seine Existenz unmittelbar bedroht wäre. Das Gericht geht nämlich davon aus, dass Hindus in Afghanistan einer ganz besonderen Gefahrenlage ausgesetzt sind, welche diese kleine Bevölkerungsgruppe insgesamt trifft. Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.03.2008 macht die früher in Kabul lebende Hindu- und Sikh-Minderheit zusammen deutlich unter ein Prozent der Bevölkerung aus, ist aber hoch gefährdet. Denn Afghanistan ist schon dem eigenen Namen nach eine "Islamische Republik", in welcher extreme religiös-politische Kräfte des Islamismus (insbesondere die Taliban) einen Terrorkrieg gegen Ausländer, "Ungläubige" und Andersgläubige führen. Es ist allgemein bekannt, dass die Taliban ständig Anschläge, insbesondere auf staatliche und ausländische Personen und Objekte verüben. Es mag sein, dass der Kläger nicht unmittelbar in der Gefahr steht, Opfer eines Mordanschlages zu werden. Jedoch sieht das Gericht seine Versorgung mit existentiell notwendigen Dingen, wie Lebensmitteln, Unterkunft, Medizin, im Höchstmaße als gefährdet an. Nach dem genannten Lagebericht hat der Verband der Hindus und Sikhs mitgeteilt, dass diese Personengruppe in Afghanistan unter wirtschaftlicher und kultureller Diskriminierung leide. Kinder seien beim Besuch staatlicher Schulen Belästigungen durch Lehrer und Mitschüler ausgesetzt. Es bestehe die Gefahr der Zwangsverheiratung. Auf die von den Taliban zerstörten hinduistischen Tempel wurde verwiesen. Es kam zu Handlungen, die sich gegen die Ausübung der religiösen Sitten und Gebräuche der Hindu-Minderheit richteten. Hindus und Sikhs würden auch Opfer illegaler Landnahme. Es seien Fälle bekannt, in denen Hindus illegal von einzelnen Kommandeuren aus ihren Häusern vertrieben worden seien. Diese illegale Landnahme ginge nicht selten einher mit massiven Einschüchterungen gegen die rechtmäßigen Eigentümer. Speziell für Rückkehrer führt dieser Bericht aus, dass die Versorgung mit Lebensmittel in Afghanistan nicht zufrieden stellend ist. Das Angebot an Wohnraum sei knapp und er sei nur zu hohen Preisen erhältlich. Staatliche soziale Sicherungssysteme gebe es nicht. Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes, wie der Kläger, oder nach einer längeren Abwesenheit zurückkehren, stießen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet sind und in einem solchen zurückkämen. Für das Jahr 2008 ist besonders festzuhalten, dass der strenge Winter 2007/2008 in weiten Landesteilen zu dramatischen Versorgungsengpässen geführt hat. Nach neuesten Informationen leidet Afghanistan derzeit unter einer extremen Dürre.

Das Gericht vertritt grundsätzlich die Auffassung, dass eine extreme Gefahrenlage, welche die Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG allgemein für bestimmte Personenkreise eröffnet, grundsätzlich nicht gegeben ist, insbesondere wenn es sich um männliche Moslems handelt. Demgegenüber nimmt das Gericht regelmäßig Abschiebungsschutz für besonders schutzbedürftige Personenkreise an (Kranke, Alte, allein stehende Frauen und Kinder). Hierzu rechnet das Gericht auch religiöse Minderheiten wie Hindus und Sikhs, die besonderer Anfeindung durch die islamischen Extremisten ausgesetzt sind. Das Gericht kann nicht die Verantwortung dafür übernehmen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr ein Existenzminimum in Afghanistan finden könnte. Demzufolge sieht das Gericht die Beklagte verpflichtet, dem Kläger im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG zuzubilligen.