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OLG Celle

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Zitieren als:
OLG Celle, Beschluss vom 09.10.2008 - 22 W 39/08 - asyl.net: M14200
https://www.asyl.net/rsdb/M14200
Leitsatz:

Das Landgericht ist in Abschiebungshaftsachen nicht verpflichtet, die Akten der Bundespolizei beizuziehen; eine neue Haftentscheidung ist gem. § 62 Abs. 2 S. 5 AufenthG nur notwendig, wenn unmittelbar zur Abschiebung angesetzt wurde; das ist bei Flugabschiebungen nur der Fall, wenn der Ausländer eingecheckt oder in das Flugzeug verbracht wurde; ist ein Abschiebungsflug überbucht, ist bei der Auswahl der abzuschiebenen Personen das Beschleunigungsgebot zu beachten.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Abschiebung, Sachaufklärungspflicht, Freibeweis, Akten, Beiziehung, Bundespolizei, Scheitern der Abschiebung, Flugabschiebung, Überbuchung, Beschleunigungsgebot
Normen: AuenthG § 62 Abs. 2 S. 5; FGG § 12; GG Art. 103 Abs. 1; GG Art. 104 Abs. 2
Auszüge:

Das Landgericht ist in Abschiebungshaftsachen nicht verpflichtet, die Akten der Bundespolizei beizuziehen; eine neue Haftentscheidung ist gem. § 62 Abs. 2 S. 5 AufenthG nur notwendig, wenn unmittelbar zur Abschiebung angesetzt wurde; das ist bei Flugabschiebungen nur der Fall, wenn der Ausländer eingecheckt oder in das Flugzeug verbracht wurde; ist ein Abschiebungsflug überbucht, ist bei der Auswahl der abzuschiebenen Personen das Beschleunigungsgebot zu beachten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die weitere sofortige Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache zumindest vorläufig Erfolg.

b) Ohne Erfolg bleibt das Rechtsmittel auch im Hinblick auf die Rüge, das Landgericht habe trotz entsprechenden Antrags die Akten der Bundespolizei nicht beigezogen. Dem steht auch die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Erfordernis des Beiziehens der Ausländerakten nicht entgegen. Denn zum einen handelt es sich bei den fragliche Akten der Bundespolizei nicht um die Ausländerakten, die von den beteiligten Ausländerbehörden geführt werden, und zum anderen ist das Landgericht dem maßgeblichen Auskunftsbegehren zur Möglichkeit einer Abschiebung bereits am 15. Oktober 2007 durch Einholen schriftlicher Stellungnahmen der Bundespolizeidirektion nachgekommen. Der Senat hat bereits wiederholt betont, dass die Gerichte im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit grundsätzlich frei sind, auf welche Weise sie die maßgeblichen Beweise erheben; es gilt das Freibeweisverfahren (vgl. nur Keidel/Kuntze/ Winkler, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 15. Aufl., § 12 Rn. 79 ff.). Das Einholen schriftlicher oder gar fernmündlicher Auskünfte ist daher grundsätzlich nicht zu beanstanden und kann auch das Beiziehen von Akten im Einzelfall ersetzen.

c) Ohne Erfolg ist das Rechtsmittel ferner, soweit der Betroffene einen Verstoß gegen die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG rügt. Die hiermit aufgeworfene Frage, ob - mangels Fortwirkung der ursprünglichen Haftanordnung - eine neue Haftentscheidung auch erforderlich ist, wenn eine Abschiebung aus Gründen scheitert, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, denn die Abschiebung des Betroffenen war im Sinne der benannten Vorschrift noch nicht gescheitert.

Der Senat stützt seine Entscheidung insoweit zunächst auf den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom l9. Juli 2006 (Az.: 34 Wx 074/06), der sich mit dem Erfordernis einer erneuten Haftanordnung nach einer gescheiterten Abschiebung befasst und der offenbar dem Gesetzgebungsverfahren zu § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG zugrunde lag (vgl. hierzu Melchior, Abschiebungshaft, Bearbeitung 08/2007, Nr. 290). In jenem Verfahren war den Beschlussgründen zufolge die vorangegangene Abschiebung beendigt mit der "begonnenen Abschiebung, d.h. der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht, indem der Ausländer entgegen seinem Willen zum Flug ... gezwungen wurde [Hervorhebung durch den Senat]".

Dieses Stadium war in vorliegendem Verfahren noch nicht erreicht. Die Beteiligte hatte den getroffenen Feststellungen zufolge vielmehr nur versucht, den Betroffenen im Rahmen eines zum Zeitpunkt seiner Zuführung bereits überbuchten Fluges im gebuchten Kontingent noch unterzubringen. Zu diesem Zeitpunkt war die zwangsweise Verbringung außer Landes, mithin die eigentliche Abschiebung, also noch nicht begonnen worden. Dass der Betroffene das Flugzeug oder den Flughafen bereits betreten hatte, ist auch nicht festgestellt. Die Annahme, eine Abschiebung habe bereits dann begonnen - und sei demnach gescheitert -, sobald Vorbereitungen zum geplanten Rückflug außer Landes unternommen werden, würde nach Auffassung des Senats zu einer nicht gerechtfertigten Vorverlagerung des maßgeblichen Geschehens und zu nicht lösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten führen, ab wann eine Abschiebung als gescheitert anzusehen ist (Beginn der Abschiebung und deren Scheitern schon nach Ankündigung der beabsichtigten Abschiebung, ab Buchen eines Fluges, bei der Aufforderung, die Sachen zu packen, bei Verlassen des Haftraumes oder der Haftanstalt, bei Besteigen eines Transportfahrzeuges zum Flughafen oder auf der Fahrt dorthin und so fort).

Hinzu kommt, dass vorliegend nach den vom Landgericht seiner Entscheidung ausdrücklich auch zugrunde gelegten Feststellungen des Amtsgerichts die Abschiebung des Betroffenen für den 5. November 2007 geplant war und die Beteiligte lediglich versucht hatte, dem Beschleunigungsgebot dadurch Rechnung zu tragen, dass "vorsorglich" versucht wurde, den Betroffenen bereits zuvor im Rahmen eines überbuchten Fluges außer Landes zu bringen, falls es noch zu Stornierungen kommen sollte. Diese Feststellungen, die durch die weiteren vom Landgericht und allein aus Sicht der Bundespolizei getroffenen Feststellungen zum Ablauf am Flughafen Schönefeld am 15. Oktober 2007 nicht entkräftet werden, konnten nicht außer Acht bleiben. Hiernach stand die bislang nur beabsichtigte Abschiebung noch unter dem Vorbehalt, dass im bereits überbuchten Flug aufgrund von Stornierungen noch Plätze frei wurden und der Betroffene hiernach auf die Flugliste gesetzt wurde.

Eine Abschiebung im engeren Sinne hat hiernach erst dann begonnen, und kann demnach erst dann gescheitert sein, wenn - vergleichbar dem Versuchsbeginn im Sinne von § 22 StGB - mit dem zwangsweisen Verbringen des Betroffenen außer Landes unmittelbar angesetzt wurde - was zumindest ein Einchecken oder das Verbringen in das Flugzeug voraussetzen dürfte. Auch in der Gesetzesbegründung sind diejenigen Fälle ins Auge gefasst, in denen der Betroffene im Flugzeug randaliert und der Flug deshalb abgebrochen werden muss (BT-Drucks. 16/5065). Im Schrifttum werden hierzu Fälle erörtert, in denen der Betroffene bereits Kontakt zum Flugzeugführer hatte und dieser aufgrund einer erklärten Weigerung des Betroffenen sodann dessen Mitnahme ablehnt (Melchior a.a.O.). Zum Verbringen des Betroffenen außer Landes unmittelbar angesetzt haben die verantwortlichen Behörden nach Zugrundelegen der getroffenen Feststellungen hiernach aber noch nicht. Mithin war mit dem Durchführen der Abschiebung als solcher noch nicht begonnen worden und war diese daher auch noch nicht gescheitert im Sinne von § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG.

Auf die Frage, ob diese Vorschrift quasi im Umkehrschluss so zu interpretieren ist, dass es nach einer vom Betroffenen nicht zu verantwortenden, aber gescheiterten Abschiebung - mangels Fortwirkung der Anordnung - stets einer erneuten Haftentscheidung bedarf (so etwa Melchior a.a.O.; so bereits auch die Entscheidung des OLG München a.a.O.), kam es vorliegend also nicht an. Der Senat neigt indessen zu der Auffassung, dass die erst neu eingefügte Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 5 AufenthG tatsächlich leer liefe, letztlich also überflüssig wäre bei der Lesart, dass sie nur dann Anwendung findet, wenn der Betroffene die Abschiebung verhindert hat, weil sonst ein Anwendungsbereich der Norm praktisch nicht bestünde. Ob diese Lesart dem Willen des Gesetzgebers entspricht (vgl. auch hierzu BT-Drucks. 16/5065), oder ob die Regelung so auszulegen ist, dass lediglich klargestellt werden soll, dass (auch oder jedenfalls) bei einem vom Betroffenen zu verantwortenden Scheitern der Abschiebung es einer erneuten Anordnung der Haft nicht bedarf, kann hier jedoch dahinstehen.

d) Zumindest vorläufigen Erfolg hat die weitere sofortige Beschwerde indessen, soweit sie eine Verletzung des in Haftsachen zu beachtenden besonderen Beschleunigungsgebots oder aber zumindest eine Verletzung der Aufklärungspflicht hierzu rügt.

Aus der unmittelbar wertsetzenden Bedeutung des nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 104 Abs. 2 GG herzuleitenden Freiheitsgrundrechts folgt, dass alle Behörden gehalten sind, Freiheitsentziehungen auf die nach Lage der Dinge möglichst geringe Dauer zu beschränken. Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts lässt nicht in hinreichendem Maße erkennen, ob die Behörden diesem Anspruch vorliegend gerecht wurden. Denn den getroffenen Feststellungen zufolge wurden am 15. Oktober 2007 auch solche Personen ausgeflogen, die sich nicht in Haft befunden haben. Zudem wurden Personen ausgeflogen, die erst an diesem Tage aufgegriffen worden waren und bei denen man vom Anordnen von Abschiebungshaft deshalb abgesehen hatte. Das Landgericht hat unter Zugrundelegung der Mitteilungen der Bundespolizeidirektion ferner festgestellt, dass der Betroffene nicht auf die Flugliste gesetzt wurde, weil dessen Abschiebungshaft ohnehin bis zum 19. Dezember 2007 angeordnet worden war, während die Haft anderer Personen vor dem nächsten Flugtermin am 5. November 2007 noch hätte verlängert werden müssen und die deshalb anstelle des Betroffenen ausgeflogen wurden. Seit wann diese Personen sich in Haft befanden, wird nicht mitgeteilt.

Ohne die - offenbar bewährte - Praxis der Überbuchung bei Abschiebungen nach Vietnam grundsätzlich in Frage stellen zu wollen - insoweit ist den Beteiligten auch ein gewisser Handlungs- und Entscheidungsspielraum zuzubilligen -, ist dem Senat als Gericht der weiteren sofortigen Beschwerde anhand der getroffenen Feststellungen keine abschließende Prüfung möglich, ob am konkreten Termin des 15. Oktober 2007, an dem wider Erwarten erheblich mehr Personen am Flughafen erschienen als nach bisheriger Erfahrung anzunehmen war, seitens der beteiligten Behörden, namentlich seitens der Beamten der Bundespolizei schließlich diejenigen Personen auf die Flugliste gesetzt wurden, bei denen dies unter Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes vorrangig geboten war. Ob denen gegenüber etwa solche Personen vorrangig auszufliegen waren, weil diese ihren Hausstand aufgelöst hatten, erscheint vor dem Hintergrund der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts zumindest zweifelhaft. Entsprechendes könnte für diejenigen Personen gelten, die am 15. Oktober 2007 erst aufgegriffen worden waren oder die eine kürzere Zeit als der Betroffene sich in Haft befunden hatten. All dies wird zunächst in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären und anhand der hierzu getroffenen Feststellungen eine Entscheidung zur Beachtung des Beschleunigungsgebots zu treffen sein. Die Betrachtung des Landgerichts, die Verwaltungsbehörde habe alles in ihrer Macht stehende getan, um eine schnellstmögliche Rückführung des Betroffenen in die Wege zu leiten, greift jedenfalls zu kurz. Hierbei wird auch zu berücksichtigen sein, dass die Beteiligte sich das Verhalten der Beamten der Bundespolizei zurechnen lassen muss. Insofern kann das Verhalten einzelner Behörden nicht isoliert betrachtet und bewertet werden, weil alle Behörden gleichermaßen gehalten sind, das Freiheitsgrundrecht zu beachten.