VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 21.10.2008 - 2 L 1558/08 - asyl.net: M14192
https://www.asyl.net/rsdb/M14192
Leitsatz:

Anspruch auf Selbsteintritt nach der Dublin II-Verordnung bei ehelicher Lebensgemeinschaft mit deutschem Staatsangehörigen; vorbeugender vorläufiger Rechtsschutz gegen Überstellung nach Dublin II-Verordnung möglich; § 34 a Abs. 2 AsylVfG steht vorläufigen Rechtsschutz nicht entgegen, wenn der Zielstaat der Überstellung nicht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse vorliegen.

Schlagwörter: Verordnung Dublin II, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, vorbeugender Rechtsschutz, Rechtsschutzinteresse, Abschiebungsanordnung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, Selbsteintrittsrecht, humanitäre Klausel, Schutz von Ehe und Familie, Deutschverheiratung, Eheschließung im Ausland, Beweislast, Dublin II-VO, Dublinverfahren,
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AsylVfG § 34a Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; AsylVfG § 34a Abs. 2; VO EG/343/2003 Art. 15 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; VO EG/343/2003 Art. 2 Abs. 3
Auszüge:

Anspruch auf Selbsteintritt nach der Dublin II-Verordnung bei ehelicher Lebensgemeinschaft im deutschem Staatsangehörigen; vorbeugender vorläufiger Rechtsschutz gegen Überstellung nach Dublin II-Verordnung möglich; § 34 a Abs. 2 AsylVfG steht vorläufigen Rechtsschutz nicht entgegen, wenn der Zielstaat der Überstellung nicht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse vorliegen.

(Leitsatz der Redaktion)

Der vom Antragsteller in der Form der Sicherungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO gestellte Antrag ist zulässig und hat nach Maßgabe des Tenors auch in der Sache Erfolg.

Für den Antrag besteht ein Rechtsschutzbedürfnis ungeachtet dessen, dass in dem von der Antragsgegnerin eingeleiteten Rückübernahmeverfahren gegenüber dem Antragsteller noch keine Abschiebungsanordnung gemäß § 34 a Abs. 1 AsylVfG ergangen ist. Aus den vorliegenden Verwaltungsunterlagen ergibt sich, dass die Antragsgegnerin derzeit hinsichtlich des Antragstellers ein Übernahmeverfahren betreibt und für den 22.10.2008 eine Überführung nach Griechenland vorgesehen ist. Der die Abschiebungsanordnung beinhaltende Bescheid soll dem Antragsteller ausweislich der Akten erst am Überstellungstag durch Übergabe zugestellt werden. Von daher ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, mit einer Antragstellung abzuwarten, bis eine Abschiebungsanordnung ergangen ist, da ansonsten bei der dann unmittelbar stattfindenden Abschiebung die Inanspruchnahme effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Artikel 19 Abs. 4 GG unzumutbar erschwert wäre.

Einer gerichtlichen Eilentscheidung in dem von dem Antragsteller begehrten Sinne steht vorliegend auch nicht die Vorschrift des § 34 a Abs. 2 AsylVfG entgegen, wonach die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen sicheren Drittstaat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden darf.

Zum einen käme § 34 a Abs. 2 AsylVfG vorliegend nur zum Tragen, wenn es sich bei Griechenland um den nach der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat handelt. Zum anderen kommt selbst im Anwendungsbereich des § 34 a Abs. 2 AsylVfG in verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung ausnahmsweise die vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO dann in Betracht, wenn der Asylbewerber eine Sondersituation darlegt und glaubhaft macht, dass diese vom Konzept der normativen Vergewisserung nicht erfasst wird. Dabei kann es sich zum einen um Sachlagen handeln, welche die Verhältnisse im (angeblich) sicheren Drittstaat betreffen, mithin zieistaatsbezogener Natur sind. Zum anderen fallen hierunter sämtliche Umstände, die einer Abschiebung aus Deutschland heraus - in welchen Staat auch immer - aus (verfassungs-)rechtlichen Gründen oder aus humanitären Erwägungen entgegenstehen, mithin die innerstaatlichen Abschiebungshindernisse (vgl. dazu BVerwG Urt. vom 14.5.1996 - 2 BvR 1938, 2315/93, NVwZ 1996, 700 sowie Heilbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, § 34 a AsylVfG Rz 43 ff.).

Ausgehend davon ist vorliegend die Überstellung des Antragstellers nach Griechenland vorläufig zu untersagen, da an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Antragsgegnerin, das Selbsteintrittsrecht im Fall des Antragstellers nicht wahrzunehmen, insofern erhebliche Zweifel bestehen, als die Vorschrift des Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 (Dublin II-VO), nach dessen Satz 1 jeder Mitgliedsstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen kann, auch wenn er dafür nach den Kriterien in dieser Verordnung nicht zuständig ist, bisher keine hinreichende Berücksichtigung fand. Dass die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang die vom Antragsteller behauptete Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen in ausreichender Weise berücksichtigt hätte, ist nicht erkennbar. Vielmehr ist insoweit in dem in den Verwaltungsakten befindlichen Bescheidentwurf vom 3.6.2008 auf S. 3 2. Absatz ausgeführt, der alleinige - verständliche - Wunsch einer Familienzusammenführung (zu seiner deutschen Ehefrau) könne im Rahmen der Dublinverordnung keine Berücksichtigung finden. Diesbezüglich sei auf ein mögliches Visumsverfahren zu verweisen.

Auch kann dem Antragsteller insoweit derzeit nicht durchgreifend entgegengehalten werden, dass die Wirksamkeit der Eheschließung nicht außer Zweifel stehe. Ausweislich der vorliegenden Verwaltungsunterlagen wurde die Frage der Wirksamkeit der Eheschließung bisher weder seitens der Antragsgegnerin noch einer sonstigen Behörde eingehend geprüft. Wurden aber vom Antragsteller keine weiteren Nachweise hinsichtlich der in Syrien geschlossenen Ehe angefordert, kann ihm nunmehr auch nicht vorgehalten werden, insoweit seit Monaten untätig geblieben zu sein und nichts mehr zur Sachaufklärung beigetragen zu haben.

Blieb von daher die vom Antragsteller angegebene Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen bei der Entscheidung der Antragsgegnerin hinsichtlich der Überstellung nach Griechenland zu Unrecht völlig unberücksichtigt, hat die Antragsgegnerin von dem in ihrem Ermessen stehenden Selbsteintrittsrecht bislang fehlerhaft Gebrauch gemacht.Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG war dem Aussetzungsantrag daher nach Maßgabe des Tenors mit der Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b Abs. 1 AsylVfG stattzugeben.