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VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 31.07.2008 - 12 A 219/05 - asyl.net: M14180
https://www.asyl.net/rsdb/M14180
Leitsatz:

Die Frage, ob interner Schutz gegeben ist, ist im Wege einer Prognose zu entscheiden; auf das Bestehen einer Fluchtalternative im Zeitpunkt der Flucht kommt es nicht an; interner Schutz setzt über hinreichende Sicherheit vor Verfolgung hinaus voraus, dass die Aufenthaltsnahme dort unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände zumutbar ist; tschetschenische Volkszugehörige haben in der Regel die Möglichkeit, internen Schutz in der Russischen Föderation, insbesondere der Wolgaregion, zu suchen; Abschiebungsverbot wegen psychischer Erkrankung.

 

Schlagwörter: Russland, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Anerkennungsrichtlinie, Beurteilungszeitpunkt, Entscheidungszeitpunkt, Zukunftsprognose, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Tschetschenen, Diskriminierung, Übergriffe, Kontrollen, Wohnungsdurchsuchungen, Versorgungslage, Freizügigkeit, Registrierung, Inguschetien, Dagestan, Karbadino-Balkarien, Stawropol, Krasnodar, Wolgaregion, Inlandspass, Zumutbarkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; GFK Art. 1 A Nr. 2; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Frage, ob interner Schutz gegeben ist, ist im Wege einer Prognose zu entscheiden; auf das Bestehen einer Fluchtalternative im Zeitpunkt der Flucht kommt es nicht an; interner Schutz setzt über hinreichende Sicherheit vor Verfolgung hinaus voraus, dass die Aufenthaltsnahme dort unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände zumutbar ist; tschetschenische Volkszugehörige haben in der Regel die Möglichkeit, internen Schutz in der Russischen Föderation, insbesondere der Wolgaregion, zu suchen; Abschiebungsverbot wegen psychischer Erkrankung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist nur in dem sich aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Soweit die Klägerinnen die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebeverboten nach § 60 Abs.1 AufenthG begehren, sind die angefochtenen Bescheide der Beklagten rechtmäßig und verletzten die Klägerinnen nicht in ihren Rechten.

Vorliegend kann indes dahingestellt bleiben, ob die Klägerinnen vorverfolgt aus ihrem Heimatland ausgereist sind. Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wird durch eine zum jetzigen Zeitpunkt für die Klägerinnen als gegeben anzusehende interne Schutzalternative ausgeschlossen.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 QRL können die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Bei dieser Prüfung, ob ein Teil des Herkunftslandes diese Voraussetzungen erfüllt, berücksichtigten die Mitgliedstaaten die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Abs. 1 kann auch dann angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (Art. 8 Abs. 3 QRL). Gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchstabe c der QRL sind bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz - so der Titel von Kapitel II der QRL - die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter zu berücksichtigen.

Nach Art. 8 Abs. 1 QRL ist die Frage einer in einem Teil des Hoheitsgebietes des Herkunftslandes bestehenden Schutzalternative im Rahmen der abschließenden Verfolgungsprognose zu prüfen. Somit soll es nach der Richtlinie nicht mehr in erster Linie um die Prüfung gehen, ob im Zeitpunkt der Flucht innerhalb des Herkunftsstaates interne Schutzzonen als Alternative zur Flucht bestanden, sondern darum, ob im Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchstabe a RL) derartige Zonen als Alternative zum internationalen Schutz zur Verfügung stehen. Nach der Auffassung des Gerichts bedarf es deshalb im Rahmen der Entscheidung über den Flüchtlingsstatus keiner rückschauenden Prognose als Vorfrage für die Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes mehr; war der Antragsteller vor seiner Ausreise in einem Teil seines Herkunftslandes von Verfolgung betroffen, ist er unbeschadet bestehender interner Fluchtalternativen im Sinne der bisherigen deutschen Rechtsprechung als vorverfolgt anzusehen (Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung - Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG, §14 Rn. 10).

Die Prüfung des Vorhandenseins einer internen Schutzalternative setzt die nach den tatsächlichen Verhältnissen des Herkunftslandes zu treffende Feststellung voraus, dass sie hinreichende Sicherheit vor (erneuter) politischer Verfolgung gewährleistet. Dieser Schutz vor Verfolgung muss am Maßstab der QRL gemessen werden, d.h. am Ort des internen Schutzes darf keine begründete Furcht vor Verfolgung bestehen. Dabei ist von einer Regelvermutung der landesweiten Verfolgung durch staatliche Akteure auszugehen; auch die nationale Rechtsprechung geht davon aus, dass der interne Schutzeinwand regelmäßig nur bei Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure Anwendung finde (Marx, aaO, § 14 Rn. 20 unter Hinweis auf BVerfGE 81, 58). Nur ausnahmsweise sei es gerechtfertigt, bei Verfolgungen durch staatliche Behörden das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative zu prüfen ("mehrgesichtiger" Staat, BVerwG, InfAuslR 1994, 375).

Neben der Verfolgungssicherheit kann vom Antragsteller vernünftigerweise nur dann erwartet werden, dass er den verfügbaren internen Schutzort aufsucht, wenn unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lebensumstände dieser für ihn zumutbar ist. Insbesondere für die Beurteilung der konkreten Lebensverhältnisse legt Art. 8 Abs. 2 QRL den Mitgliedsstaaten eine konkrete, die persönlichen Umstände im Entscheidungszeitpunkt umfassende Bewertung auf. Die generalisierende Betrachtungsweise der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist nach Ansicht des Gerichts insoweit mit der Richtlinie unvereinbar und damit überholt (Marx, aaO, Rdnr. 41).

Gemäß Erwägungsgrund Nr. 3 der QRL stellen die Genfer Konvention und das Protokoll einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar. Die von Marx mit "Zumutbarkeitsbegriff" umschriebenen Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 QRL müssen sich an dem sich aus Art. 1 A Nr. 2 GFK entnehmbaren menschenrechtlichem Schutzbedürfnis messen lassen.

"Die Elemente des Flüchtlingsbegriffs (der GK) reflektieren ein menschenrechtliches Schutzbedürfnis. Sie verkörpern ein konkretes menschenrechtliches Schutzinstrument für bestimmte Menschenrechtsverletzungen. Der Flüchtlingsbegriff gewährt Personen, welche die Kriterien der Flüchtlingsdefinition erfüllen, mehr Freiheiten, als ihnen in ihrem Herkunftsland eingeräumt wurden. Daraus folgt, dass die Feststellungsbehörde den Zumutbarkeitsbegriff als Schutzstandard verstehen muss, den die Konvention vorsieht und nicht als ein vages dem Belieben anheim gestelltes Konzept" (Marx, aaO, Rdnr. 46). Hieraus folgt nach dieser zitierten Ansicht, dass dem Flüchtlingsantragsteller ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Unterstützung am Ort des internen Schutzes zuteil werden muss, der gebotene interne Schutz ist deshalb nicht gewährleistet, wenn der Antragsteller unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lebensverhältnisse keine reale Möglichkeit zum wirtschaftlichen Überleben hat. Dieser aus dem dargelegten Verständnis von Art. 8 Abs. 1 QRL gewonnene Standard ist offener und oberhalb des Maßstabes bisheriger nationaler Rechsprechung anzusehen, welche insoweit bei der Prüfung der inländischen Fluchtalternative lediglich berücksichtigt, ob der Antragsteller dort nichts anderes zu erwarten hat, als ein "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums" (BVerwG, NVwZ-RR 1991, 442).

Berücksichtigt man, dass der so beschriebene menschenrechtliche Schutzstandard nach den individuellen Verhältnissen des Antragstellers real verfügbar sein muss und als individuelle Faktoren Sprache, Bildung, persönliche Fähigkeiten, vorangegangener Aufenthalt, örtliche und familiäre Bindungen, Geschlecht, Alter, ziviler Status, Lebenserfahrung, soziale Einrichtungen, gesundheitliche Versorgung und verfügbares Vermögen (Marx, aaO, Rdnr. 58) sowie die kumulative Wirkung sämtlicher Besonderheiten von Bedeutung sind, lässt sich eine generalisierende, abstrakte Beurteilung eines Landesteils als zumutbare interne Schutzalternative nicht vornehmen.

Die nachfolgend dargestellten tatsächlichen Verhältnisse in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens für ethnische geflohene Tschetschenen lassen daher an dem oben dargelegten Verständnis von Art. 8 QRL gemessen lediglich die Bewertung zu, ob grundsätzlich innerhalb der Russischen Föderation Landesteile vorhanden sind, die geeignet sind, einen solchen Schutzstandard zu vermitteln. Gleichwohl bedarf es in jedem Einzelfall einer konkreten Subsumtion unter Berücksichtigung individueller Verhältnisse. Die heutige Lage ethnischer Tschetschenen, insbesondere der aus Tschetschenien geflohenen Binnenflüchtlinge und Rückkehrer, lässt sich wie folgt skizzieren:

Nach wie vor sind ethnische Tschetschenen Ziel benachteiligender Praktiken der Behörden. Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über verstärkte Personenkontrollen und Wohnungsdurchsuchungen, zum Teil ohne rechtliche Begründung, Festnahmen, Strafverfahren aufgrund fingierter Beweise und Kündigungsdruck auf Arbeitgeber und Vermieter. Offensichtliche Diskriminierungen wie das Fälschen von Beweismitteln oder die Verfolgung durch die Miliz sind im Vergleich zum ersten Tschetschenienkrieg seltener geworden. Subtile Formen der Diskriminierung bestehen fort. Tschetschenen haben zum Beispiel weiterhin Schwierigkeiten, eine Wohnortregistrierung auf legalem Wege zu erlangen (AA, Lagebericht Russische Föderation (einschließlich Tschetschenien), Stand Juli 2006, vom 18.08.2006, Lagebericht v. 17.03.2007). Die Lebensbedingungen für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in Tschetschenien selbst in letzter Zeit etwas verbessert, in den Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien hingegen eher verschlechtert. Die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan sind durch den Tschetschenienkonflikt am meisten betroffen, in diesen beiden Teilrepubliken wird die Sicherheitslage inzwischen von internationalen Organisationen (u.a. UN) schlechter als in Tschetschenien eingeschätzt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kommt es in Inguschetien zu schweren Menschenrechtsverletzungen einschließlich extralegaler Tötung und dem "Verschwinden" von Zivilisten, verübt durch russische wie einheimische Sicherheitskräfte (und tschetschenische Rebellen, denen sich immer mehr Inguschen anschließen).

Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern formal zwar das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu, dieses Recht wird in der Praxis an vielen Orten (insbesondere in großen Städten wie z.B. Moskau und St. Petersburg) durch die Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Die dort in den großen Städten bestehenden Zuzugsbeschränkungen gelten zwar unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit anti-kaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Nach Moskau zurückgeführte Tschetschenen haben deshalb in der Regel nur deshalb eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie genügend Geld haben oder auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können. Die das ursprüngliche Propiska-System ersetzende Registrierung (gegenwärtiger Aufenthaltsort = vorübergehende Registrierung, Wohnsitz = dauerhafte Registrierung) legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum Bezug von Rentenleistungen. Voraussetzung für eine dauerhafte Registrierung ist der Nachweis des Vorhandenseins von Wohnraum. In den Regionen Krasnodar und Stavropol in Südrussland als neben Inguschetien und Moskau größte tschetschenische Diaspora innerhalb der Russischen Föderation ist eine Registrierung grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, u.a. deshalb, weil Wohnraum dort erheblich billiger ist als in Moskau. Eine Registrierung ist in vielen Landesteilen gleichwohl erst oft nach Intervention von NROs, Dumaabgeordneten oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten oder durch Bestechung möglich. Weitere Voraussetzung für eine Registrierung ist der ab 2004 geltende neue russische Inlandspass (siehe dazu unten).

Nicht registrierte Tschetschenen können innerhalb Russlands allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben. Wie ihre Lebensverhältnisse sind, hängt insbesondere davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen. Menschenrechtler beklagen eine Zunahme von Festnahmen wegen fehlender Registrierungen oder aufgrund manipulierter Ermittlungsverfahren (vgl. insgesamt zum Vorstehenden: AA, Lagebericht 18.08.2006, Lagebericht vom 17.03.2007).

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in ihrem Tschetschenien-Update von November 2005 (Klaus Ammann, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tschetschenien, 07.11.2005) davon, dass der Druck auf tschetschenische intern Vertriebene (tschetschenische Binnenflüchtlinge in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens) zu einer Rückkehr nach Tschetschenien zugenommen hat.

Die Menschenrechtsorganisation Memorial führt in ihrem Bericht "Menschen aus Tschetschenien in der Russischen Föderation, Juli 2005 bis Juli 2006 zur Situation der innerhalb der RF vertriebenen Tschetschenen aus, dass es keine Strukturen gebe, die Binnenvertriebenen Wohnraum, Arbeit oder materielle Unterstützung gewährleisten würden. Die Registrierung von Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens sei ein großes Problem, meistens seien Vermieter nicht bereit, Tschetschenen eine Registrierung zu unterschreiben, um keine Schwierigkeiten mit der Miliz zu bekommen. Es bedürfe manchmal jahrelanger Anstrengungen, um eine Registrierung mit Hilfe anderer durchzusetzen. Umsiedler aus Tschetschenien ohne gültige Registrierung hätten mit vielen Problemen zu kämpfen, sie erhielten keine kostenlose medizinische Hilfe, obwohl sie diese aufgrund ihrer Vertriebenensituation dringend benötigten. Wer nicht registriert sei, könne nur eine Arbeit ohne Arbeitsvertrag annehmen.

Aus dieser Auskunftslage schließt das Gericht zunächst einmal, dass innerhalb der Russischen Föderation außerhalb der Nordkaukasusgebiete für ethnische Tschetschenen, die aus Tschetschenien geflüchtet sind oder aus dem Ausland in die Russische Föderation zurück kehren, grundsätzlich Regionen vorhanden sind, in denen hinreichende Sicherheit vor Verfolgung besteht. Dies gilt jedenfalls für solche Personen, bei denen ein landesweites Verfolgungsinteresse russischer Behörden wegen einer hervorgehobenen Bedeutung im tschetschenischen Widerstand nicht anzunehmen ist.

Angesichts der Zahl der innerhalb der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus lebenden tschetschenischen Binnenflüchtlinge (angesichts der o.g. Zahlen dürfte es sich hierbei nach ungefährer Schätzung um ca. 300.000 bis ca. 350.000 handeln) kann auch angesichts der nicht zu verkennenden schwierigen Lage der Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation indes nicht davon ausgegangen werden, dass in der gesamten Russischen Föderation die Gefahr ethnisch oder politisch motivierter Übergriffe mit der erforderlichen asylrelevanten Eingriffsintensität von staatlicher oder sonstiger dritter Seite als reale, d.h. mehr als nur entfernt liegende Möglichkeit besteht. Zwar scheiden nach den obigen Darlegungen Regionen wie Inguschetien, Dagestan, Karbadino-Balkarien und möglicherweise auch die südrussischen Regionen Stawropol und Krasnodar als solche orte mit hinreichender Verfolgungssicherheit aus. Indes ist davon auszugehen, dass eine große Anzahl der aus Tschetschenien geflohenen ethnischen Tschetschenen in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation, insbesondere auch in der Wolgaregion, nicht der Gefahr erneuter Verfolgungshandlungen im Sinne des Art. 9 QRL ausgesetzt sind.

Diese Einschätzung entspricht soweit ersichtlich der mehrheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung (VGH München, Urteil vom 31.01.2005, 11 B 02.31597 - zitiert nach Juris -; OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.01.2007, 13 LA 67/06 - zitiert nach Juris-, OVG Schleswig, Urteil vom 03.11.2005, 1 LB 259/01 - zitiert nach Juris-; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.10.2006, A 3 S 46/06 - zitiert nach Juris -; auch die im Ergebnis die Zumutbarkeit einer internen Schutzalternative verneinenden Entscheidungen des OVG Magdeburg vom 31.03.2006 und des Hess. VGH vom 02.02.2006 -1 E 519/02. A (3) - gehen insoweit vom Vorhandensein verfolgungsfreier Regionen innerhalb der russischen Föderation aus).

Ob ein solcher verfolgungsfreier Ort den Anforderungen an die Zumutbarkeit eines dortigen Aufenthaltes gerecht wird, ist - wie oben ausgeführt - anhand eines gemischt objektiv-individuellen Maßstabes zu beurteilen. Grundsätzlich geht die Kammer indes davon aus, dass die Erlangung einer den Mindestanforderungen an ein gesellschaftlich und wirtschaftlich menschenwürdiges Dasein entsprechenden Existenzmöglichkeit auch für tschetschenische Binnenvertriebene und Rückkehrer möglich ist.

Zunächst einmal ist festzustellen, dass nach der oben zitierten Auskunftslage auch für tschetschenische Volkszugehörige der Erhalt einer dauerhaften Registrierung jedenfalls außerhalb der Großstädte wie Moskau und St. Petersburg grundsätzlich möglich ist, wenngleich diese dauerhafte Registrierung auf bürokratische Hemmnisse und Widerstände treffen kann und oftmals erst mit der - allerdings auch zumutbaren - Inanspruchnahme von gerichtlicher Hilfe oder durch Unterstützung Dritter wie Menschenrechtsorganisationen möglich ist.

Der für die Registrierung erforderliche Besitz eines neuen Inlandspasses kann dabei grundsätzlich unterstellt werden.

Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist davon auszugehen, dass in Übereinstimmung mit den Angaben des Leiters der Pass- und Visaabteilung im tschetschenischen Innenministerium vom 23.09.2004 fast alle 770.000 Bewohner Tschetscheniens, die noch die alten sowjetischen Inlandspässe hatten, neue russische Pässe erhalten haben (Auswärtiges Amt, Lagebericht Russische Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 17. März 2007). Sollte im Einzelfall der für eine jedenfalls dauerhafte Registrierung erforderliche Inlandspass nicht vorhanden sein, ist ein neuer Inlandspass auch für tschetschenische Volkszugehörige in der Regel mit zumutbarem Aufwand erlangbar. An der unter Berücksichtigung der früheren Auskunftslage getroffenen Einschätzung, die Ausstellung setze regelmäßig eine - im Einzelfall unzumutbare - Rückkehr nach Tschetschenien voraus, hält das Gericht unter Zugrundelegung der neueren Auskunftslage nicht mehr fest.

Ist somit grundsätzlich von der Möglichkeit einer dauerhaften Wohnsitzregistrierung innerhalb der russischen Föderation auch für ethnische Tschetschenen auszugehen, kann auch die Möglichkeit einer dauerhaften wirtschaftlichen Existenzsicherung angenommen werden. Auch unter Berücksichtigung der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel dann, wenn sie am Ort der internen Schutzalternative, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können (BVerwG, Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, zitiert nach Juris). Von dem grundsätzlichen Vorhandensein solcher Erwerbsmöglichkeiten ist in der Russischen Föderation auszugehen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der Anteil der sogenannten "Schattenwirtschaft" am Bruttoinlandsprodukt bis zu 40 % beträgt und somit einen erheblichen Faktor erwerbswirtschaftlicher Einkommenserzielung darstellt. Zwar ist in ländlich strukturschwachen Gebieten - anders als in größeren Städten und Ballungszentren wie Moskau und St. Petersburg - die in der Russischen Föderation bei 7,2 % liegende durchschnittliche Arbeitslosenquote erheblich höher, indes ist hier allerdings auch der nicht unerhebliche Anteil des informellen Sektors und der Subsistenzwirtschaft auf dem Lande zu berücksichtigen.

Liegen mithin keine Anhaltspunkte im Einzelfall dafür vor, dass durch etwa erhebliche Einschränkungen in der Erwerbsmöglichkeit oder anderer sonstiger individueller Umstände ein dauerhaftes Leben außerhalb der Illegalität mit der Möglichkeit der Sicherung wirtschaftlicher und sozialer Mindestanforderungen an ein menschenwürdiges Überleben nicht möglich ist, ist somit grundsätzlich für tschetschenische Volkszugehörige von dem Vorhandensein einer internen Schutzalternative innerhalb der Russischen Föderation auszugehen.

Bezogen auf die Klägerinnen folgt hieraus, dass ihnen zugemutet werden kann, innerhalb der Russischen Föderation außerhalb der Gebiete des Nordkaukasus bei einer heutigen Rückkehr in die Russische Föderation die Möglichkeit eines internen anderweitigen Schutzes vor Verfolgung in Anspruch zu nehmen.

Soweit die Beklagte indes die Anträge auf Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs.7 AufenthG abgelehnt hat, sind die Bescheide rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten.

Nach den vorgelegten ausführlichen ärztlichen Gutachten der die Klägerinnen seit 2006 behandelnden Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie bestehen bei beiden Klägerinnen nach wie vor behandlungsbedürftige schwere psychische Erkrankungen, die im Fall fehlender medikamentöser und therapeutischer Weiterbehandlung zu einer akuten und erheblichen Verschlechterung (schwere Depression, erhöhte Suizidalität) führen würden.

Nach der Auskunftslage ist auch davon auszugehen, dass die Klägerinnen insbesondere die erforderliche psychotherapeutische Behandlung im Heimatland nicht erhalten können. Nicht nur fehlende Behandlungsmöglichkeiten im medizinischen Sektor sind als einziger Grund für die Zubilligung eines Abschiebeverbotes anzuerkennen, vielmehr sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zur Verschlimmerung einer Krankheit führen können, in die Beurteilung mit einzubeziehen, so etwa die tatsächliche Nichterlangbarkeit einer an sich grundsätzlich vorhandenen medizinischen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder in sonstigen persönlichen Gründen (BVerwG, B. v. 17.10.2006, aaO).

Theoretisch ist die medizinische Grundversorgung in der Russischen Föderation gewährleistet, aufwändigere Behandlungen sind zumindest in den Großstädten St. Petersburg und Moskau nach technischem Wissen und Ausstattung möglich. Dabei werden in der Praxis zumindest aufwändigere Behandlungen nur nach privater Zahlung durchgeführt (AA, Lagebericht Russische Föderation, Stand Juli 2006, 18.08.2006).

Es steht indes nicht zu erwarten, dass den Klägerinnen die erheblichen finanziellen Mittel für eine länger andauernde psychotherapeutische Behandlung und Medikation angesichts der schwierigen existentiellen Rückkehrbedingungen gerade auch für Bewohner aus Tschetschenien verbunden mit den erheblichen Registrierungsschwierigkeiten zur Verfügung stehen.