VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 20.08.2008 - 1 A 3303/05 - asyl.net: M14129
https://www.asyl.net/rsdb/M14129
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, depressive Störung, posttraumatische Belastungsstörung, fachärztliche Stellungnahmen, Suizidgefahr, medizinische Versorgung, Retraumatisierung, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Klägerin hat Anspruch auf die Feststellung, dass in ihrer Person ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

Das Gericht ist aufgrund der vorgelegten fachärztlichen Bescheinigungen, des Gutachtens und des Eindruckes der Klägerin in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass diese an einer schweren depressiven Störung leidet, welche einer weiteren regelmäßigen psychologischen Behandlung hier im Bundesgebiet bedarf. Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Stellungnahmen und Gutachten und damit am Bestehen der schweren psychischen Erkrankung der Klägerin zu zweifeln. Diese sind schlüssig und widerspruchsfrei, sodass für das Gericht kein Anlass besteht, ein zweites Gutachten einzuholen. Diese Aussagen decken sich auch mit dem Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung auf das Gericht gemacht hat. Sie wirkte dort erheblich psychisch beeinträchtigt; einerseits wirkte sie fast teilnahmslos und desinteressiert und andererseits fing sie bei der Schilderung ihrer Behandlung unvermittelt an, heftig zu weinen und musste sogar für kurze Zeit den Sitzungssaal verlassen, um sich wieder zu beruhigen.

Ob diese psychische Erkrankung auf tatsächlich selbst erlebter Folter oder Misshandlung in der Türkei beruht und damit zumindest in die Richtung einer posttraumatischen Belastungsstörung geht, wie dies Dr. ... in seinem Gutachten für plausibel hält, kann hier offen bleiben. Denn die Erkrankung würde sich nach Überzeugung des Gerichts im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort jedenfalls innerhalb kürzester Zeit dramatisch verschlechtern. Grund hierfür wäre zum einen der Umstand, dass die Klägerin vor allem, was türkisch ist, eine extreme Angst aufgebaut hat und hierbei in Gedankenkreisen über eine mögliche drohende Inhaftierung durch die türkische Polizei mit anschließender Vergewaltigung gefangen ist. Dass sich diese Ängste in der Türkei extrem verstärken würden, wäre die Klägerin wieder den dortigen Verhältnissen ausgesetzt, liegt auf der Hand.

Weiterer Grund für die zu erwartende Verschlimmerung des Zustandes der Klägerin sind die zwar in letzter Zeit verbesserten, aber nach wie vor trotzdem nur eingeschränkten Therapiemöglichkeiten und die in weiten Teilen anzutreffende unwürdige Behandlung psychisch Kranker sowohl im öffentlichen wie im privaten Leben. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ist die Situation psychisch Kranker in der Türkei generell als schwierig zu charakterisieren. Hierbei trifft es insbesondere Menschen mit Angsttraumata nach Misshandlungen und selbstmordgefährdete Personen hart, denn zwar gibt es eine ausreichende rein medizinische Versorgung solcher Erkrankten, weiterführende Therapien werden jedoch so gut wie gar nicht angeboten (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 01.06.2004, 20.03.2002 und vom 22.06.2000 - dort jeweils die Anlage -). Eine persönliche, sozialpädagogische sowie psychosoziale Betreuung und/oder Rehabilitation psychisch Kranker sowie eine notwendige Unterstützung der Familien findet nicht statt. Grundsätzlich ist die Situation psychisch Kranker in der Türkei gekennzeichnet durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter Versorgungsangebote (vgl. Nds. OVG, Beschl. v.28.02.2005 - 11 LB 121/04).

Zwar mag die somit zu befürchtende dramatische Verschlimmerung des psychischen Zustandes der Klägerin im Falle einer Rückkehr in die Türkei auch durch ihre individuelle Konstitution mitbedingt sein, hierauf kommt es jedoch nicht an (vgl. dazu BVerwG v. 25.11.1997, 9 C 58/96; BVerwG v. 29.07.1999, 9 C 2/99). Entscheidend ist allein, dass die Gründe für die der Klägerin ernsthaft drohenden Gefahren, die bis zu einer Lebensgefährdung in Folge Suizid führen könnten, auf die Bedingungen in der Türkei zurückgeführt werden müssen.