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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 15.09.2008 - 1 C 12.08 - asyl.net: M14111
https://www.asyl.net/rsdb/M14111
Leitsatz:

Wird im Urteilsverfahren trotz fehlenden Einverständnisses der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden, liegt neben dem Verstoß gegen § 101 Abs. 1 VwGO eine Gehörsverletzung i.S.d. § 138 Nr. 3 VwGO vor.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Berufungsverfahren, mündliche Verhandlung, Verzicht, Einverständnis, Beteiligte, rechtliches Gehör, Verfahrensmangel, Entscheidungserheblichkeit
Normen: VwGO § 137 Abs. 1 Nr. 1; VwGO § 101 Abs. 1; VwGO § 101 Abs. 2; VwGO § 108 Abs. 2; VwGO § 138 Nr. 3
Auszüge:

Wird im Urteilsverfahren trotz fehlenden Einverständnisses der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden, liegt neben dem Verstoß gegen § 101 Abs. 1 VwGO eine Gehörsverletzung i.S.d. § 138 Nr. 3 VwGO vor.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat mit ihrer Verfahrensrüge Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an den Verwaltungsgerichtshof.

Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat - wie die Revision zu Recht geltend macht und der Verwaltungsgerichtshof in seiner Abhilfeentscheidung auch eingeräumt hat - gegen den Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 101 Abs. 1 VwGO) verstoßen; denn er hat der Berufung des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung stattgegeben. Das Berufungsgericht bedarf gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO des Einverständnisses der Beteiligten, wenn das Urteil ohne mündliche Verhandlung ergehen soll. Ein Verstoß gegen dieses Gebot verletzt zugleich den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO), denn den Beteiligten wird die Möglichkeit weiteren Vorbringens abgeschnitten (Beschluss vom 17. Oktober 1997 - BVerwG 4 B 161.97 - Buchholz 310 § 87a VwGO Nr. 3 = NVwZ-RR 1998, 525). Vorliegend haben die Beteiligten im Berufungsverfahren nicht auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet. Die irrtümliche Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, ein Verzicht läge vor, ist für das Vorliegen des Verfahrensverstoßes ohne Bedeutung (Urteil vom 26. Februar 2003 - BVerwG 8 C 1.02 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO Nr. 67 = BayVBl. 2003, 671).

Die Berufungsentscheidung beruht auch auf diesem Verfahrensmangel (§ 138 Nr. 3 VwGO). Zwar wird § 138 Nr. 3 VwGO dann einschränkend ausgelegt, wenn die Verletzung des rechtlichen Gehörs sich nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens ausgewirkt haben kann. Ein solcher Fall liegt entgegen der Ansicht des Klägers hier aber nicht vor. Denn die Verletzung von § 101 Abs. 1 VwGO erfasst das angegriffene Urteil insgesamt und beschränkt sich nicht auf einzelne tatrichterliche Ausführungen und Feststellungen. Damit fehlt dem Revisionsgericht jede tatrichterliche Grundlage für eine materiellrechtliche Entscheidung, so dass der erkennende Senat das Berufungsurteil auch nicht auf die Richtigkeit des Ergebnisses aus anderen Gründen (§ 144 Abs. 4 VwGO) prüfen kann (Urteile vom 30. August 1962 - BVerwG 8 C 49.60 - BVerwGE 15, 24 <25> und vom 26. Februar 2003 - BVerwG 8 C 1.02 - a.a.O.). Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 137 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 VwGO).