OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 30.05.2008 - A 3 B 827/05 - asyl.net: M14015
https://www.asyl.net/rsdb/M14015
Leitsatz:

Keine beachtliche Gefahr von menschenrechtswidriger Behandlung in der Türkei wegen geringfügigen Engagements für den TAYAD.

 

Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Festnahme, Folter, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, ernsthafter Schaden, Anerkennungsrichtlinie, DHKP-C, Unterstützung, TAYAD, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; EMRK Art. 3; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

Keine beachtliche Gefahr von menschenrechtswidriger Behandlung in der Türkei wegen geringfügigen Engagements für den TAYAD.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

Ausgehend von der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) liegen in der Person des Klägers keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in der ab 28.8.2007 geltenden Fassung (BGBl. I S. 162) vor. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Türkei nicht die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 60 Abs. 2 AufenthG). Seine Abschiebung ist deshalb auch bei Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention - hier insbesondere gemäß Art. 3 EMRK - nicht unzulässig (§ 60 Abs. 5 AufenthG). Schließlich besteht für ihn in der Türkei keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).

Zwar hält es der Senat unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel, aufgrund des in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnenen Eindrucks und angesichts seiner hierbei ergänzten Angaben - ungeachtet der Abweichungen zu seinen früheren Angaben, die sich mit der inzwischen verstrichenen Zeit sowie hinsichtlich des schriftlichen Asylantrags mit den glaubhaft vorgetragenen Übersetzungsproblemen erklären lassen - zumindest im Kern für zutreffend, dass er sich vor seiner Ausreise für Ideen und Ziele von Vereinigungen, die der DHKP-C nahe stehen, engagiert hat und hierbei zweimal verhaftet wurde. Insoweit hat er in der mündlichen Verhandlung den TAYAD (Solidaritätsverein mit den politischen Gefangenen und deren Familien) genannt, mit dem er hauptsächlich zusammengearbeitet habe und der in der Türkei als legaler Arm der verbotenen DHKP-C angesehen wird und häufiger Ziel von Razzien ist (Oberdiek, Türkei - Zur aktuellen Situation - Oktober 2007, Hrsg. Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 19). Auch die bei den Verhaftungen geschilderten Misshandlungen sind zur Überzeugung des Senats im Wesentlichen glaubhaft und erfüllen zweifellos den Begriff der Folter sowie den der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG und des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK (zu diesen Begriffen vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: April 2008, § 60 AufenthG Rn. 83/84 und 97/98 m.w.N.). Jedoch droht dem Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei nicht erneut eine derartige Behandlung und damit über § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK hinaus auch keine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Bei der Beurteilung, ob der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei erneut von Misshandlungen durch die türkischen Sicherheitskräfte konkret bedroht ist, gilt kein herabgesetzter Wahrscheinlichkeitsmaßstab dahin, dass seine Abschiebung nur möglich ist, wenn er bei seiner Rückkehr vor erneuten Misshandlungen hinreichend sicher ist. Dieser, für vorverfolgt ausgereiste Asylbewerber durch die Rechtsprechung entwickelte, herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab (vgl. BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, BVerfGE 54, 341 ff.; BVerwG, Urt. v. 25.9.1984, BVerwGE 70, 169 ff.) gilt für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht.

Für das hier u. a. in Betracht zu ziehende Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG ist allerdings nach der Neufassung des § 60 AufenthG ab 28.8.2007 (BGBl. I S. 162) zu beachten, dass gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG für die Feststellung dieses Abschiebungsverbotes die Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 und die Art. 6 bis 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU Nr. L 304 S. 12) gelten. Gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Vorliegend sprechen jedoch stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei - landesweit (vgl. Art. 8 Abs. 1 und 2 der Qualifikationsrichtlinie) - im Zusammenhang mit seinen früheren Aktivitäten erneut von einer Verhaftung und Misshandlungen durch die türkischen Sicherheitskräfte bedroht ist. Insoweit wird durch Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie kein neuer, herabgesetzter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern lediglich eine Beweiserleichterung im Sinne einer widerlegbaren Vermutung geschaffen, weil diese Richtlinie keine eigenen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe festlegt und sich der Vorschlag Deutschlands auf Übernahme seiner Prognosemaßstäbe nicht durchgesetzt hat (BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 - 10 C 33/07 -, zitiert nach Juris; Hruschka/Löhr, ZAR 2007, 180 ff.; jeweils m.w.N.). Die danach infolge der bereits erlittenen Misshandlungen eingreifende Vermutung, dass auch bei seiner Rückkehr in die Türkei die konkrete Gefahr der Verhaftung und Misshandlung besteht, wird hier durch stichhaltige Gründe widerlegt, so dass im Ergebnis nichts anderes gilt als für die übrigen Abschiebungsverbote, insbesondere gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Bei der sowohl in der Türkei als auch in Deutschland verbotenen DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), einer linksextremistischen und terroristischen Vereinigung, handelt es sich um eine 1994 gegründete Nachfolgeorganisation der zuvor ebenso verbotenen Dev-Sol (zum Verbotsverfahren der DHKP-C in Deutschland: BVerwG v. 28.10.1999, Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 31). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist die DHKP-C in der Türkei, zumindest in den Städten, bis heute aktiv und wird von den türkischen Sicherheitskräften als bewaffnete, gewalttätige Organisation eingestuft. Gewalttätigen DHKP-C-Mitgliedern droht danach in der Türkei heute - nach Abschaffung der Todesstrafe - zumindest noch verschärfte, lebenslange Haft und selbst einfachen Mitgliedern durchschnittlich 12,5 Jahre Haft. Die Hauptaktivitäten der DHKP-C in der Türkei in den letzten Jahren lagen vor allem in organisierten Hungerstreiks ("Todesfasten") von Häftlingen gegen die Typ-F-Gefängnisse mit mehr als hundert Todesopfern, die Anfang 2007 beendet wurden. Sie ist daneben aber auch weiterhin bis heute mit terroristischen Anschlägen eine Bedrohung (so der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.10.2007, S. 27 sowie Oberdiek, Türkei - Zur aktuellen Situation - Oktober 2007, Hrsg. Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 15/16). Weiteren Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass in der Türkei selbst denjenigen, die sich nur an Demonstrationen oder dem Kleben von Plakaten für die DHKP-C beteiligen, Festnahmen und strafrechtliche Verurteilungen drohen, wobei es in diesen Fällen vor allem während der Polizeihaft immer wieder zu menschrechtswidriger Behandlung bis hin zu Folter kommt (Rumpf, Gutachten vom 19.6.1996 für das VG Hamburg, S. 20; ders., Gutachten vom 20.8.1997 für das VG Hamburg, S. 27; Kaya, Gutachten vom 6.7.2002 für das VG Darmstadt; Oberdiek, Gutachten vom 2.8.2002 für das VG Darmstadt, insbes. S. 16). Daran hat sich auch nach der aktuellen Erkenntnislage nichts geändert, wobei seit 1996 immer häufiger beobachtet wird, dass Personen nicht mehr offiziell festgenommen, sondern entführt und mehr oder weniger schwer gefoltert sowie unter Druck gesetzt werden, damit sie für die Polizei als Spitzel arbeiten. Daneben gehen die Sicherheitskräfte auch weiterhin so vor, dass sie nach jeder Aktion erst einmal die "üblichen Verdächtigen" festnehmen und versuchen, sie (auch unter Einsatz von Folter) zu einem Geständnis über die eigene oder die Beteiligung anderer zu bewegen (so Oberdiek, Gutachten vom 14.2.2005 für das VG Dresden, S. 17 bis 21; ders., Gutachten vom 31.10.2005 für das VG Sigmaringen).

Andererseits ergibt sich aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.10.2007 (S. 37/38), dass anlässlich der Rückkehr oder der zwangsweisen Rückführung türkischer Staatsangehöriger aus dem Ausland grundsätzlich keine staatliche Repression droht und allein aus Anlass eines im Ausland erfolglos geführten Asylverfahrens eine solche ausgeschlossen ist. Es erfolgt bei abgeschobenen Personen vielmehr nur eine Routinekontrolle, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister sowie eine eingehende Befragung beinhaltet, was unter Umständen einige Stunden dauern kann. Ein Ermittlungsverfahren wird nur bei einem Straftatverdacht eingeleitet. Zudem dürfen aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums vom 18.12.2004 keine Suchvermerke mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden. Nach Angaben türkischer Behörden wurden danach Mitte Februar 2005 alle bestehenden Suchvermerke gelöscht. Dem Auswärtigen Amt sind zudem seit vier Jahren keine Fälle mehr bekannt geworden, in denen zurückgekehrte Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurden.

Von staatlicher Repression sind unter Berücksichtigung weiterer Erkenntnismittel allenfalls solche Rückkehrer bedroht, bei denen es sich um bereits verurteilte Mitglieder oder Unterstützer der DHKP-C handelt, die als ehemalige politische Gefangene landesweit gesondert registriert sind und bei denen vor allem bei längerem Auslandsaufenthalt der Verdacht aufkommen kann, dass dieser Aufenthalt illegalen Zwecken gedient hat, weil auch deren Haftzeit von den Sicherheitskräften lediglich als Unterbrechung ihrer politischen Tätigkeit angesehen wird. Diese müssen dann nicht nur bei, sondern auch nach ihrer Einreise - landesweit - mit andauernder Beobachtung und - anlassbezogen, d. h. bei jeder örtlichen Aktivität der Organisation, der sie angehörten - als potentiell Verdächtige mit fortgesetzter Belästigung durch die örtlichen Sicherheitskräfte rechnen (so Kaya, Gutachten vom 17.11.2005 für das VG Sigmaringen, S. 11/12 sowie Oberdiek, Gutachten vom 31.10.2005 für das VG Sigmaringen, S. 21/22; ders., Gutachten vom 14.2.2005 für das VG Dresden, S. 23). Gleiches mag - insbesondere aufgrund der beschriebenen Einreisekontrollen - auch denjenigen Rückkehrern drohen, die als (noch nicht verurteilte) Aktivisten oder Unterstützer der DHKP-C gesucht oder gegen die entsprechende Ermittlungen geführt werden, weil sie dann als solche ebenfalls registriert sind (Oberdiek, Gutachterliche Stellungnahme vom 25.5.2007 für das VG Schleswig, S. 25 und 30). Der Kläger wurde jedoch bisher in der Türkei nicht als Mitglied oder Unterstützer der DHKP-C verurteilt, sondern hat - wie er selbst vorträgt - lediglich für den TAYAD, eine legale Vereinigung, gearbeitet. Er wurde, wie er bei der Anhörung am 25.9.2002 angegeben hat, bis zu seiner Ausreise in der Türkei auch nicht - etwa mittels eines Haftbefehls - gesucht. Zudem ist es bei Würdigung des klägerischen Vortrags und unter Berücksichtigung der beschriebenen Erkenntnislage unwahrscheinlich, dass gegen ihn als Aktivisten oder Unterstützer der DHKP-C heute noch ermittelt wird, so dass stichhaltige Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie vorliegen, die dagegen sprechen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei erneut von einer Verhaftung und Misshandlung im Zusammenhang mit den Ereignissen vor seiner Ausreise bedroht ist.

Die Beiträge des Klägers zu den von ihm geschilderten Aktionen im Zusammenhang mit der DHKP-C waren nämlich von so geringem Gewicht, dass sie von den türkischen Sicherheitskräften trotz seiner Verhaftungen und deren Kenntnis von den Aktivitäten des Klägers nicht zum Anlass für eine Strafverfolgung genommen wurden, obwohl - wie beschrieben - selbst die Beteiligung an Demonstrationen oder das Kleben von Plakaten für die DHKP-C zur Einleitung von Ermittlungs- und Strafverfahren führen können.

Hatten die Sicherheitskräfte aber am Kläger lediglich deshalb Interesse, weil er als Informant in Betracht kam, ist es auch nachvollziehbar, dass gegen ihn weder ein Ermittlungs- noch ein Strafverfahren eingeleitet und er auch nicht mittels eines Haftbefehls gesucht wurde, wie er bereits bei seiner Anhörung angegeben und im Klageverfahren nochmals als Argument für die Glaubhaftigkeit seiner Schilderungen vorgetragen hat. Dementsprechend konnte er - wie er selbst weiter vorbringt - mit seinem eigenen Pass, den er nach eigenen Angaben im Oktober 2001 (noch vor der ersten Festnahme) problemlos beantragt und erhalten hatte, von Istanbul aus trotz zweimaliger Kontrolle dieses Passes - davon zumindest einmal durch die türkische Polizei - ungehindert mit dem Flugzeug ausreisen. Soweit er in der mündlichen Verhandlung von einem erst in Istanbul beschafften Pass berichtet hat, meinte er zur Überzeugung des Senats im Einklang mit seinen früheren Angaben hingegen das erst dort beschaffte Visum. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Ausreise von Istanbul aus drei Monate nach der zweiten Verhaftung erfolgte, als die mit den Sicherheitskräften verabredete Frist von zwei Wochen, in denen er die versprochenen Informationen liefern sollte, längst abgelaufen war. Dies zeigt, dass die türkischen Sicherheitskräfte damals selbst dann nicht an seiner Strafverfolgung interessiert waren, als er bereits untergetaucht war und sich somit als Informant als nutzlos erwiesen hatte.