VG Lüneburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 15.07.2008 - 4 A 42/05 - asyl.net: M13962
https://www.asyl.net/rsdb/M13962
Leitsatz:
Schlagwörter: Kosovo, Serbien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Widerruf, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

Die Klage hat Erfolg.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juni 2005 ist aufzuheben. Er ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für einen Widerruf der mit Bescheid vom 15. April 2003 ausgesprochenen Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Serbiens und Montenegros vorliegen, sind nicht erfüllt. Gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG wird bei der Prüfung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt.

Aus dem eingeholten Sachverständigengutachten, das in sich schlüssig und überzeugend ist, ergibt sich, dass bei der Klägerin folgende Erkrankungen vorliegen:

"- Somatisierungsstörung mit Migräne, Spannungskopfschmerz und Magenschleimhautentzündung (ICD 10: F 45.0)

- Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode (ICD 10: F33.2)

- Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) mit Panikzuständen und dissoziativen Phänomenen".

Es besteht keine Veranlassung an den gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Sachverständige Dr. ... hat in der mündlichen Verhandlung am 15. Juli 2008 insbesondere hinsichtlich der posttraumatischen Belastungsstörung noch einmal verdeutlicht, dass die klassischen Symptome dieser Erkrankung eindeutig hätten festgestellt werden können und sie vor allem auch vom Wahrheitsgehalt der Schilderungen der Klägerin überzeugt sei. Sie habe durchaus kritisch nachgefragt, und auf diese Nachfragen habe die Klägerin für sie glaubhaft reagiert. Die Sachverständige hat in der mündlichen Verhandlung weiter die bereits in dem Gutachten ausführlich dargelegte Suizidgefährdung der Klägerin für den Fall ihrer Abschiebung noch einmal erläutert und überzeugend begründet, dass das Wegbrechen nur einer der von der Gutachterin geschilderten fünf Säulen, auf die sich das psychische Gleichgewicht eines Menschen stützt, eine schwere Krise auslöst. Bei der Klägerin würden nach Aussage der Gutachterin alle fünf Säulen wegbrechen. Dies begründe die Annahme einer schweren Suizidalität. In dem Gutachten heißt es weiter, dass die Klägerin ihre eigenen Ängste stark auf ihre Töchter übertrage und deshalb mit einem erweiterten Suizid gerechnet werden müsse.

Diesen Gefährdungen kann in zumutbarer Weise letztlich nur wirksam dadurch begegnet werden, dass die Situation, die die Retraumatisierung der Klägerin auslösen würde, unterbleibt, ihr Aufenthalt in Deutschland also nicht zwangsweise beendet wird. Ist nach dem Sachverständigengutachten und den Erläuterungen der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung davon auszugehen, dass die Abschiebungssituation die Klägerin in eine schwere Krise stürzen würde, würde diese schon mit dem Erhalt einer Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohuhg beginnen. Dann waren die beschriebenen Gefahrdungen zunächst noch inlandsbezogene Umstände, die nicht hier, sondern von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen wären. Allerdings wäre die Krisensituation mit einer Abschiebung nicht beendet, sondern sie würde sich vielmehr unter den Verhältnissen im Herkunftsland voraussichtlich noch verschärfen. Rechtlich wären dies dann Umstände, die im Rahmen des vorliegenden Verfahrens zu berücksichtigen sind. Solange einer erzwungene Rückkehr der Klägerin in ihr Herkunftsland mit der beschriebenen Suizidalität einhergehen würde, besteht auch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG/§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG fort. Die Klägerin könnte allenfalls dann, wenn sich ihr psychischer Zustand soweit stabilisiert haben sollte, dass eine Abschiebung nicht mehr die beschriebene Suizidgefährdung auslösen würde, auf eine Behandlung im Heimatland verwiesen werden. Ob und wann dies der Fall sein könnte, ist nicht absehbar und nicht ohne dass ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt wird, zu entscheiden.