VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 12.03.2008 - 38 X 33.08 - asyl.net: M13941
https://www.asyl.net/rsdb/M13941
Leitsatz:

1. Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass am verfolgungsfreien Ort das Existenzminimum gesichert werden kann.

2. Für Tschetschenen besteht bis 2002 in Inguschetien eine inländische Fluchtalternative.

3. Eine Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger findet gegenwärtig nicht statt.

4. Eigentumsdelikte können eine Verletzung der Menschenrechte bedeuten, wenn sie derart massiv ausgeübt werden, dass den Betroffenen die Existenzgrundlage entzogen wird.

5. Für Tschetschenen besteht in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Anerkennungsrichtlinie, Glaubwürdigkeit, Freilassung, Geldzahlung, Korruption, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Inguschetien, Existenzminimum, Wohnraum, Versorgungslage, UNHCR, Registrierung, Nachfluchtgründe, Auslandsaufenthalt, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, Rückübernahmeabkommen, Separatisten, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Gebietsgewalt, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Verfolgungsdichte, Menschenrechtslage, Eigentum, Eigentumsdelikte, Sachbeschädigung, Diebstahl, Verfolgungshandlung, Kumulierung, Vergewaltigung, Entführung, Mord, Folter, Inhaftierung, Verfolgungssicherheit, Durchsuchung, Erreichbarkeit, Inlandspass, Sippenhaft, Kämpfer (ehemalige), erster Tschetschenienkrieg
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2
Auszüge:

1. Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass am verfolgungsfreien Ort das Existenzminimum gesichert werden kann.

2. Für Tschetschenen besteht bis 2002 in Inguschetien eine inländische Fluchtalternative.

3. Eine Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger findet gegenwärtig nicht statt.

4. Eigentumsdelikte können eine Verletzung der Menschenrechte bedeuten, wenn sie derart massiv ausgeübt werden, dass den Betroffenen die Existenzgrundlage entzogen wird.

5. Für Tschetschenen besteht in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist hinsichtlich der Feststellung gemäß § 51 Abs. 1 AuslG rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Beigeladenen haben keinen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

I. Eine derartige Gefahr lässt sich nicht im Hinblick auf eine Vorverfolgung annehmen, weil die Beigeladenen nicht vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist sind.

1. Die Beigeladenen waren bei ihrer Ausreise keiner individuellen politischen Verfolgung ausgesetzt.

Ihr Vortrag, der Beigeladene zu 1. sei von den russischen Sicherheitskräften wegen Unterstützung tschetschenischer Rebellen gesucht worden, ist unsubstanziiert, widersprüchlich, gesteigert und deshalb unglaubhaft. Im Übrigen ist der Beigeladene zu 1. auch bei diesem Vorfall gegen eine Geldzahlung freigelassen worden, was gegen eine Suche bzw. individuelle Verfolgung des Beigeladenen zu 1. durch die russischen Sicherheitskräfte spricht. Die Maßnahmen der russischen Sicherheitskräfte in Tschetschenien dienen maßgeblich dem Aufspüren von Untergrundkämpfern und damit der Terrorismusbekämpfung. Wer von ihnen als so genannter Separatist erkannt und gerade deswegen inhaftiert worden ist, wird seine Freilassung auch gegen Zahlung eines Bestechungsgeldes nicht erreichen können. Anderenfalls wäre er erneut in der Lage, gegen das russische Militär gerichtete Handlungen vorzunehmen (vgl. hierzu OVG Lüneburg, Beschluss vom 16. Januar 2007 – 13 LA 67/06 – Juris Rn. 5). Deswegen ist es auch unglaubhaft, dass der Beigeladene zu 1. nach einem 9stündigen Festhalten durch den Militärposten freigelassen worden sein soll, um danach von Leuten der OMON-Truppen zu Hause aufgesucht zu werden, wovon im Übrigen der Beigeladene zu 1. bei der Anhörung nicht berichtet hat.

2. Ob die Kläger im Zeitpunkt ihrer Ausreise wegen ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit einer regionalen oder örtlich begrenzten Gruppenverfolgung in Tschetschenien ausgesetzt gewesen sind, kann dahinstehen. Denn ihnen hat im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.

Aus der Qualifikationsrichtlinie folgt nichts anderes. Nach Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie können die Mitgliedstaaten feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in diesem Landesteil aufzuhalten, wobei nach Absatz 2 der Vorschrift die allgemeinen Gegebenheiten in dem hierfür in Betracht kommenden Landesteil und die persönlichen Umstände zu berücksichtigen sind. Dies entspricht der Sache nach der obergerichtlichen Rechtsprechung zur inländischen Fluchtalternative. Artikel 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie ist auch nicht etwa zu entnehmen, dass es (entgegen der obergerichtlichen Rechtsprechung) für die Frage der Vorverfolgung nicht auf eine inländische Fluchtalternative ankommt (vgl. VGH München, Urteil vom 31. August 2007 – 11 B 02.31724 – Juris Rn. 40 f.; a.A. VGH Kassel, Urteil vom 21. Februar 2008 – 3 UE 191/07.A – S. 16 des Entscheidungsabdruckes). Zwar heißt es in Artikel 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie, dass bei Prüfung der Frage einer inländischen Fluchtalternative die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen sind. Dies betrifft jedoch, wie sich aus der Bezugnahme auf und dem Zusammenhang mit Absatz 1 ergibt, die Feststellung, ob ein Antragsteller zum Zeitpunkt der Entscheidung internationalen Schutz benötigt, und nicht die – insbesondere für den Prüfungsmaßstab relevante – Vorfrage hierzu, ob der Betreffende im Zeitpunkt seiner Ausreise vorverfolgt gewesen ist. In diesem Zusammenhang trifft auch Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie lediglich eine Prognoseregelung bereits vorverfolgter Personen und keine Regelung dazu, dass eine Vorverfolgung unabhängig davon anzunehmen ist, ob im Ausreisezeitpunkt eine zumutbare inländische Fluchtalternative bestanden hat. Gegen Letzteres spricht auch der Grundgedanke des Flüchtlingsschutzes, weil bei einer inländischen Fluchtalternative keine "begründete" Furcht vor Verfolgung besteht, die die Ausreise aus dem (gesamten) Heimatstaat rechtfertigt bzw. vernünftigerweise einen Aufenthalt in keinem Teil des Heimatstaates mehr als zumutbar erscheinen lässt.

Nach diesen Maßstäben ist auf der Grundlage der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse davon auszugehen, dass den Beigeladenen im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation zur Verfügung gestanden hat.

Eine Fluchtalternative bestand für Tschetschenen – jedenfalls bis 2002, wenn nicht bis zur Jahresmitte 2003 – insbesondere in Inguschetien. Seit dem ersten Tschetschenien-Krieg (1994–1996) hatten bis Mitte 2001 etwa 250.000 Tschetschenen Zuflucht in Inguschetien gesucht (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28. August 2001, S. 11), wobei der UNHCR angesichts der überfüllten Flüchtlingsunterkünfte soweit als möglich bemüht war, für Familien alternative Unterbringungsmöglichkeiten in Zeltlagern ausfindig zu machen. Aus der diesbezüglichen Auskunft des UNHCR (an das VG Karlsruhe vom 18. Juni 2002, S. 11-14) erschließt sich zugleich, dass die Frage des Obdachs für Tschetschenen in Inguschetien jedenfalls bis Juni 2002 in aller Regel gelöst werden konnte. Auch war eine Grundversorgung – wenngleich auf sehr niedrigem Niveau – für diesen Personenkreis gewährleistet (UNHCR an den VGH München vom 29. Oktober 2003, S. 6). Zudem erreichte die internationale Flüchtlingshilfe, die den Hauptanteil bei der Versorgung der in Inguschetien lebenden Tschetschenen ausmachte, seinerzeit vor allem Inguschetien (Auswärtiges Amt, ebda.). Dass im April 2001 die Registrierung aller neu eintreffenden Tschetschenen nach dem sog. Formular Nr. 7 eingestellt wurde (UNHCR an den VGH München vom 29. Oktober 2003, S. 5), ist für die Frage einer inländischen Fluchtalternative unerheblich, weil die Kläger Tschetschenien bereits zuvor im Juli 1999 verlassen hatten und dieser Umstand im Übrigen nichts an einer hinreichenden Zufluchtmöglichkeit in Inguschetien änderte. Zwar schloss der Nichtbesitz dieser Registrierung die Betroffenen vom Zugang zu staatlicher Unterstützung aus (UNHCR an das VG Karlsruhe vom 18. Juni 2002, S. 14); Inguschetien und das russische Katastrophenschutzministerium konnten jedoch ohnehin nur ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe gewährleisten (Auswärtiges Amt, ebda.). Die Hauptlast der Versorgung der in Inguschetien lebenden Tschetschenen oblag zu jener Zeit vielmehr der internationalen Gemeinschaft, so dass sich der Wegfall dieser Registrierungsmöglichkeit nicht einschneidend auf die Möglichkeit auswirkte, in Inguschetien in menschenwürdiger Weise zu überleben.

Im Übrigen dürfte Inguschetien auch nach der seit Herbst 2003 erfolgten sukzessiven Schließung der Flüchtlingslager als inländische Fluchtalternative offen gestanden haben. So sind aus dem Lager "Sputnik", das am 1. April 2004 geschlossen wurde, nur die Hälfte der Bewohner, aus dem Lager "Bart" nach der Schließung am 1. März 2004 sogar nur 23 % der Bewohner nach Tschetschenien zurückgekehrt; die zurückgebliebenen Flüchtlinge sind in andere Massenunterkünfte gelangt oder haben eine private Unterkunft gefunden (Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 24. Mai 2004, S. 17 f.). Ohnehin ist zu berücksichtigen, dass sich von den im Sommer 2002 in Inguschetien registrierten 150.000 tschetschenischen Flüchtlingen etwa zwei Drittel bei Gastfamilien oder in improvisierten Unterkünften aufhielten und nur ein Drittel in Zeltlagern.

Darüber hinaus hat tschetschenischen Volkszugehörigen im hier interessierenden Zeitraum nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin in der Russischen Föderation auch außerhalb von Inguschetien eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden (vgl. VG Berlin, Urteile vom 29. November 2006 – VG 33 X 1.06 – m.w.N. aus der obergerichtlichen Rechtsprechung und vom 11. November 2005 – VG 33 X 199.04 –). Soweit die 33. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin auf der Grundlage einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22. November 2005 für die Zeit ab 1. Juli 2004 eine inländische Fluchtalternative verneint hat, weil seit diesem Zeitpunkt ein erforderlicher Passumtausch an einem mit dem Ort der letzten Anmeldung nicht identischen Wohnort des Betroffenen und damit eine Registrierung und ständige Wohnsitznahme innerhalb der Russischen Föderation auch ohne (zwischenzeitlichen) Aufenthalt in Tschetschenien oder Inguschetien nicht mehr möglich war, ist dies hier unerheblich. Denn die Beigeladenen sind bereits vor diesem Zeitpunkt ausgereist, und im Übrigen jedenfalls heute in anderen Gebieten der Russischen Föderation vor Verfolgung hinreichend sicher (s.u.).

II. Die Gefahr einer politischen Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG lässt sich auch nicht wegen eines Nachfluchttatbestandes annehmen. Den Beigeladenen droht auch gegenwärtig bei einer Rückkehr in ihren Heimatstaat weder aus individuellen Gründen noch aufgrund ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit politische Verfolgung.

1. Den Beigeladenen droht bei einer Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung aus individuellen Gründen.

a. Anhaltspunkte für eine derartige Verfolgung seitens des russischen Staates bestehen nicht.

Dies gilt auch im Hinblick auf den Auslandsaufenthalt der Beigeladenen und ihre Asylantragstellung. Aus Deutschland abgeschobene tschetschenische Volkszugehörige haben keine asylrechtsrelevanten Übergriffe im Zusammenhang mit ihrer (Wieder-) Einreise nach Russland zu befürchten. Die Bundesregierung hat bereits am 2. Dezember 2004 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage ausgeführt, das Auswärtige Amt gehe über die Botschaft Moskau Hinweisen auf Festnahmen oder Misshandlungen bei der Einreise von aus Deutschland in die Russische Föderation rückgeführten Personen nach; aus den Jahren 2003 und 2004 sei kein einziger Fall bekannt, in dem sich diesbezügliche Berichte bestätigt hätten (BT-Drs. 15/4465, S. 6 oben).

b. Gleiches gilt für eine Verfolgung seitens der Rebellen. Diese sind schon keine verfolgenden Akteure i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Die Rebellen beherrschen – anders als das in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe b AufenthG und Art. 6 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie gefordert wird – keinen wesentlichen Teil des Staatsgebietes mehr.

Da das militärische Engagement Russlands in Tschetschenien sowie die Existenz und die Tätigkeit der tschetschenischen Sicherheitskräfte gerade dazu dienen, die Separatisten entweder auszuschalten oder sie zum Aufgeben zu bewegen, kann dem russischen Staat zudem der Wille, die Bevölkerung vor Übergriffen durch die Aufständischen zu schützen (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG und Art. 6 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie) nicht abgesprochen werden. Diese Bemühungen haben zudem auch weitgehend Erfolg gezeitigt: Amnesty international weist in der Auskunft an den VGH Kassel vom 27. April 2007 (S. 5) darauf hin, dass "die tschetschenischen Rebellen in Tschetschenien über keinen nennenswerten Einfluss mehr verfügen und kaum mehr in der Lage sind, Übergriffshandlungen in nennenswertem Ausmaß durchzuführen."

2. Die Beigeladenen können sich weiterhin nicht darauf berufen, sie würden in ihrer engeren Heimat als Tschetschenen verfolgt. Eine (regionale) Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien findet nach der Erkenntnislage gegenwärtig nicht statt (ebenso VGH München, Urteil vom 31. August 2007 – 11 B 02.31724 – Juris Rn. 48-73).

a. An Menschenrechtsverletzungen, zu denen es in Tschetschenien komme, nennt das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 17. März 2007 (S. 18) insbesondere "Mord, Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, willkürliche Festnahmen, Sachbeschädigungen und Diebstähle". Im Lagebericht vom 13. Januar 2008 (S. 17) findet sich diese beispielhafte Aufzählung zwar nicht mehr, jedoch gibt das Auswärtige Amt weiterhin Berichte über Fälle des "Verschwindenlassens", Vergewaltigungen und extralegale Tötungen wieder (S. 17 f.). Amnesty international erwähnt in seinem zu Russland erstellten Jahresbericht 2006 (S. 1.) als Verletzungshandlungen das „Verschwindenlassen“ von Personen, Entführungen, Folterungen, Tötungen und willkürliche Festnahmen; im Jahresbericht 2007 (S. 1 u. 3) werden weiterhin das "Verschwindenlassen" von Personen, Entführungen, Folterungen und willkürliche Inhaftierungen genannt.

(1) Eigentumsdelikte wie Sachbeschädigungen oder Diebstähle zählen bereits nicht zu den asylrechtlich relevanten Verletzungshandlungen, weil sie sich nicht gegen die in § 60 Abs. 1 AufenthG ausdrücklich genannten Rechtsgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" und "Freiheit" richten. Asylrelevant wären sie nur, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen würden, was die Bewohner des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben. Ein Angriff auf die Menschenwürde könnte in Sachbeschädigungen und Diebstählen allenfalls dann gesehen werden, wenn sie dazu dienen sollten, den Opfern die Existenzgrundlage zu entziehen. Denn nur unter dieser Voraussetzung sind derartige Eigentumsdelikte entweder bereits bei einmaliger Begehung oder aber in ihrer Summe (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikationsrichtlinie) bzw. in Kumulation mit anderen Maßnahmen (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie) so gravierend, dass gegebenenfalls eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikationsrichtlinie bzw. ein ähnlich gewichtiger Eingriff im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie bejaht werden kann.

Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse bieten keinerlei Anhalt dafür, dass Eigentumsdelikte in Zahl und Umfang vorkommen, die darauf schließen lassen, dass Tschetschenen in relevanter Zahl die Existenzgrundlage entzogen werden soll.

(2) Konkrete Fälle von Vergewaltigungen, die in jüngerer Zeit in Tschetschenien durch Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, Art. 6 der Qualifikationsrichtlinie verübt wurden, werden in den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen nicht mehr geschildert.

(3) Die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen betreffen "Entführungen" einschließlich dem Verschleppen und "Verschwindenlassen" von Personen (vgl. zur Terminologie Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker an den VGH Kassel vom 14. Juni 2007, S. 3 Fußnoten 1 und 2) sowie extralegale Tötungen.

(4) Zu Folter und willkürlichen Verhaftungen gibt es keine (konkreten) Zahlen, sondern nur "dokumentierte" Einzelfälle (amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April 2007, S. 4; Gannuschkina an den VGH Kassel vom 17. Mai 2007, S. 8; Auswärtiges Amt an den VGH Kassel vom 6. August 2007, S. 2; Siegert an den VGH Kassel vom 20. April 2007, S. 1). Es ist bisher keiner Menschenrechtsorganisation gelungen, über das Ausmaß von Folter und Misshandlungen zuverlässige Angaben zu machen (ebda., S. 5), was auch daran liegen mag, dass die Zivilbevölkerung nach Angaben von Memorial zunehmend Angst hat, über erlittene Folter zu berichten und Strafanzeige zu erstatten (ebda.).

(5) Damit ergeben sich zusammengenommen 289 Verfolgungsschläge für das Jahr 2006 und hochgerechnet rund 61 Verfolgungsschläge für das Jahr 2007 (die Zahl der von Memorial bis August 2007 genannten Entführungen und bis Juli 2007 genannten Tötungen und Fälle von Folter – zu Gunsten der Kläger trotz der jeweils rückläufigen Trends – hochgerechnet auf das gesamte Jahr, also 25 x 12/8 und 11 x 12/7 und 3 x 12/7).

b. Die Kammer geht davon aus, dass Tschetschenien gegenwärtig 1 Million Einwohner hat.

c. Setzt man die Zahl der Gesamtheit der Verfolgungsschläge in jüngster Zeit (61 im Jahr 2007 und 289 im Jahr 2006) in Relation zur Gesamtheit der Bewohner Tschetscheniens (1 Million), so lässt sich nicht feststellen, dass Entführungen, Verschleppungen und ähnliche Maßnahmen der Freiheitsberaubung sowie extralegale Tötungen und Folter in Tschetschenien derzeit in solcher Dichte zu verzeichnen sind, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern dass sie auf alle sich im (vermeintlichen) Verfolgungsgebiet aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sie sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Die Zahlen bewegen sich deutlich unter einem Promille der Gesamtbevölkerung, nämlich rund 0,006 % für das Jahr 2007 und rund 0,029 % für das Jahr 2006. Diese Relation ist so gering, dass sie die aktuelle Bedrohung jedes tschetschenischen Volkszugehörigen in Tschetschenien nicht zu begründen vermag (vgl. zur Relationsberechnung etwa OVG Münster, Urteil vom 21. April 1998 – 9 A 6597.95.A – Juris Rn. 138 ff. und Urteil der Kammer vom 12. Juli 2005 – VG 38 X 388.05 –).

Selbst wenn die vorgenannten Zahlen mit einem zwischen 3 und 4 liegenden Faktor ("Dunkelziffer") multipliziert werden müssten, wie das Memorial für geboten hält (vgl. amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April 2007, S. 3) – weil die von Memorial und anderen Menschenrechtsorganisationen mitgeteilten Zahlen nicht die Gesamtheit aller Verfolgungsschläge widerspiegele, da deren Beobachtungstätigkeit nur einen Teil des Territoriums von Tschetschenien abdecke und ein Teil der Opfer aus Angst vor Nachteilen weder den Rechtsschutzorganen noch den Mitarbeitern von Memorial gemeldet werde –, ergäbe sich keine andere Beurteilung. Auch dann läge die Zahl der Personen, die in Tschetschenien von Entführungen im weitesten Sinne sowie extralegalen Tötungen und Folter betroffen waren, mit rund 0,018-0,024 % (61x3-4=183-244) für das Jahr 2007 weiterhin deutlich unter einem Promille der Gesamtbevölkerung und mit rund 0,087-0,116 % (289x3-4=867-1.156) für das Jahr 2006 ebenfalls unter einem Promille bzw. gerade bei rund einem Promille der Gesamtbevölkerung. Auch diese Zahlen rechtfertigen nicht die Annahme einer quantitativ hinreichenden Verfolgungsdichte.

Die vorgenannten Zahlen sind im Übrigen aus folgenden Gründen niedriger anzusetzen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bewohner Tschetscheniens deswegen in asylrechtlich relevanter Weise verfolgt wird, weil er einer Entführung, Verschleppung und ähnlichen Maßnahmen der Freiheitsberaubung, extralegalen Tötung oder Folter zum Opfer fällt, ist tatsächlich noch wesentlich geringer, als sie sich bei einer nur auf die (insbesondere) von Memorial publizierten Zahlen abstellenden Betrachtungsweise ergibt. Denn lediglich ein begrenzter Teil der Entführungen, die in Tschetschenien verübt werden, erfüllt die Kriterien, von denen nach § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. der Qualifikationsrichtlinie das Vorliegen einer Verfolgungshandlung abhängt. Auszuklammern sind zunächst all jene Fälle, in denen Personen zum Zwecke der Strafverfolgung oder aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr in staatlichen Gewahrsam genommen werden, sofern hierbei eine zulässige Maßnahme der Terrorismusabwehr oder eine sonstige Handlung inmitten steht, die in legitimer Weise dem Rechtsgüterschutz dient.

d. Es fehlt auch an Anhaltspunkten jedweder Art dafür, dass die russische Zentralregierung oder die Machthaber in Grosny heute gegenüber den Bewohnern Tschetscheniens ein staatliches Verfolgungsprogramm eingeleitet oder geplant haben.

e. Dafür, dass Rückkehrer tschetschenischer Volkszugehörigkeit in Tschetschenien keiner Gruppenverfolgung unterliegen, spricht im Übrigen, dass, nachdem der Wiederaufbau in Tschetschenien sichtbare Fortschritte macht, erstmals eine gewisse Bereitschaft erkennbar zu sein scheint, auch aus der "westlichen" Diaspora nach Tschetschenien zurückzukehren, so in jüngster Zeit jedenfalls unter den in die Türkei geflohenen Tschetschenen (Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 4 f.). Dafür spricht gleichfalls, dass allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2006 15.000 Binnenflüchtlinge dorthin zurückgekehrt sind (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. März 2007, S. 22). Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ethnische Tschetschenen auch in anderen Teilen Russlands nicht als Gruppe verfolgt werden, wäre eine solche Rückkehrbereitschaft nicht vorstellbar, wenn eine Heimkehr nach Tschetschenien mit einem Wechsel von einem verfolgungsfreien Ort in eine Region einherginge, an dem ein Tschetschene Verfolgung zu befürchten hat.

3. Im Übrigen besteht für tschetschenische Volkszugehörige (gegenwärtig) in anderen Teilen der Russischen Föderation – jedenfalls außerhalb von Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Dagestan, Nord-Ossetien, Krasnodar und Stawropol – eine inländische Fluchtalternative, in denen sie vor Verfolgung sicher sind und ihr Existenzminimum gesichert ist (so die ganz überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung: VGH München, nicht rechtskräftiges Urteil vom 31. August 2007, a.a.O., und rechtskräftiges Urteil vom 19. Juni 2006 – 11 B 02.31598 – Juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 16. Januar 2007 – 13 LA 67/06 – Juris; VGH Mannheim, Urteil vom 25. Oktober 2006 – A 3 S 46/06 – Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Dezember 2007 – 10 B 82.07 – Juris; OVG Saarlouis, Beschlüsse vom 12. Juli 2006 – 3 Q 101/06 – und vom 29. Juni 2006 – 3 Q 2/06 – sowie Urteil vom 23. Juni 2005 – 2 R 11/03 – Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Mai 2006 – 1 B 101.05 – Juris; OVG Schleswig, Urteile vom 11. August 2006 – 1 LB 125/05 – Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. November 2006 – 1 B 204.06 – Juris, und vom 3. November 2005 – 1 LB 211/01 – Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2007 – 1 B 87.06 – Juris; OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 – 11 A 2307/03.A – Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Juni 2006 – 1 B 102.05 – Juris; OVG Weimar, rechtskräftiges Urteil vom 16. Dezember 2004 – 3 KO 1003/04 – Juris; VGH Kassel, Urteil vom 21. Februar 2008, a.a.O., der sogar eine "hinreichende Sicherheit" in Tschetschenien bejaht; die anderslautende obergerichtliche Rechtsprechung hatte vor dem Bundesverwaltungsgericht keinen Bestand: VGH Kassel, Urteil vom 2. Februar 2006 – 3 UE 3021/03.A –, aufgehoben unter Zurückverweisung mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Januar 2007 – 1 B 47/06 –; das Parallelurteil des VGH Kassel vom 4. Juli 2006 – 3 UE 2075/03.A – Juris ist wegen nicht hinreichender Darlegung der Divergenzrüge rechtskräftig geworden, vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Januar 2007 – 1 B 121.06 – Juris; OVG Bremen vom 16. März 2005 – 2 A 114/03.A – Juris, aufgehoben unter Zurückverweisung mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. März 2006 – 1 B 85.05 – Juris; OVG Magdeburg, Urteil vom 31. März 2006 – 2 L 40/06 – Juris, aufgehoben unter Zurückverweisung mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2007 – 1 C 24.06 – Juris).

a. Tschetschenische Volkszugehörige sind gegenwärtig in anderen Teilen der Russischen Föderation – jedenfalls außerhalb von Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Dagestan, Nord-Ossetien, Krasnodar und Stawropol – vor Verfolgung hinreichend sicher.

Soweit demnach von Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens (und der oben genannten weiteren Regionen) durch die Verweigerung von Registrierungen, polizeiliche Übergriffe, ungerechtfertigte strafrechtliche Anschuldigungen oder fremdenfeindliche Aggressionen auszugehen ist, handelt es sich entweder nicht um asylrelevante Übergriffe oder sie erreichen nicht, auch nicht in der Gesamtschau, eine Häufigkeit bzw. Intensität, dass sie asylrelevante Übergriffe für tschetschenische Flüchtlinge wie die Kläger als nicht ganz entfernte und damit durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen.

Tschetschenen wird in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens entweder wegen ihrer Volkszugehörigkeit oder wegen ihrer regionalen Herkunft zwar mit signifikanter Häufigkeit die Registrierung, d.h. die amtliche Bestätigung darüber verweigert, dass sie sich am Ort ihres dauernden oder vorübergehenden Aufenthalts angemeldet haben. Diese verbreitete rechtswidrige Praxis ist im Regelfall (d.h. vorbehaltlich besonderer, sich aus der Person eines Betroffenen ergebender Umstände) asylrechtlich jedoch irrelevant, da das Vorenthalten der Einstempelung in den Inlandspass, durch den die erfolgte Anmeldung einer Person beurkundet wird, als solches nicht mit einer Verletzung der in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" und "Freiheit" einhergeht, und ein derartiges behördliches Verhalten weder die Menschenwürde verletzt noch hierdurch im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikationsrichtlinie grundlegende Menschenrechte schwerwiegend beeinträchtigt werden. Zwar legalisiert erst eine Registrierung den Aufenthalt des Betroffenen; zudem ist sie Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich geförderten Wohnungen, zum (prinzipiell) kostenlosen Gesundheitssystem, zum offiziellen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. März 2007, S. 29, sowie Gannuschkina, Ausarbeitung vom 25. November 2006, S. 6). Die Ausgrenzung aus der staatlichen Rechtsgemeinschaft, die der fehlende Besitz einer Registrierung in Bezug auf wichtige Lebensbereiche deshalb nach sich ziehen kann, wird jedoch, was die Legalität des Aufenthalts anbetrifft, dadurch spürbar gemildert, dass die Registrierungspflicht nunmehr erst nach 90 Tagen ab dem Beginn des Aufenthalts an einem Ort Platz greift (Gannuschkina, ebda., S. 4 f.). Da diese Regelung nach anfänglichen Umsetzungsschwierigkeiten nunmehr auch tatsächlich angewendet wird (ebda. S. 5), sind innerhalb der ersten drei Monate auch Tschetschenen vor polizeilichen und administrativen Sanktionen wegen fehlender Registrierung sicher.

Da in polizeilichen Sistierungen, Durchsuchungen sowie kurzzeitigen Eingriffen in die persönliche Fortbewegungsfreiheit, so lange sie sich innerhalb des auch in einem Rechtsstaat üblichen Rahmens halten, keine Verfolgungshandlungen im asylrechtlichen Sinne liegen, scheidet die Tatsache, dass sich Tschetschenen nach den ins Verfahren eingeführten Erkenntnissen häufiger als andere Bewohner der Russischen Föderation mit derartigen Maßnahmen konfrontiert sehen, von vornherein als Anknüpfungspunkt für die Bejahung einer kollektiven Verfolgung der Angehörigen dieser Volksgruppe aus.

Soweit pauschal behauptet wurde, in Zusammenhang mit Kontroll- und Durchsuchungsmaßnahmen komme es "nicht selten zu tätlichen Übergriffen und anderen Einschüchterungsversuchen durch die Polizei" (amnesty international an den VGH München vom 16. April 2004, S. 2), und Tschetschenen müssten ständig befürchten, mittels gefälschter Beweismittel eines Verbrechens beschuldigt zu werden (Gannuschkina, Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20. September 2006, S. 6, und Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007, S. 4), lassen die zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht den Schluss zu, dass tschetschenische Flüchtlinge wie die Kläger in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und außerhalb der oben genannten weiteren Gebiete) derartige Repressalien nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu befürchten haben.

Für ein "flächendeckendes", eine reale Gefahr begründendes Vorgehen des russischen Staates gegen zehntausende von tschetschenischen Flüchtlingen und zehntausende von jeher außerhalb Tschetscheniens in der übrigen Russischen Föderation lebende Tschetschenen gibt es im Übrigen auch keinen einsehbaren Grund.

b. Zurückkehrenden tschetschenischen Volkszugehörigen ist es auch möglich, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und der o.g. Gebiete) ein zumutbares Unter- und Auskommen zu finden. Dabei wird es den Betroffenen regelmäßig zwar nicht leicht gemacht; in der Regel wird es ihnen administrativ erschwert, insbesondere einen legalen Aufenthalt und diesen wiederum insbesondere an bestimmten Orten zu nehmen. Dies ist im Endeffekt jedoch nicht unmöglich, mag es auch nicht immer am bevorzugten Ort oder stets auf Anhieb möglich sein. In diesem Zusammenhang ist auf die Verhältnisse in der Russischen Föderation insgesamt abzustellen, insbesondere ohne die Verhältnisse in den russischen Großstädten, wie etwa Moskau und St. Petersburg, zu verallgemeinern, weil dort u.a. wegen der angespannten Wohnraumsituation ein besonderer Zuwanderungsdruck für die hinsichtlich der restlichen Russischen Föderation (mit Ausnahme Tschetscheniens) nicht repräsentativen Verhältnisse ursächlich ist, wovon im Übrigen nicht nur Tschetschenen betroffen sind.

(1) Bei hinreichendem Bemühen können russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation eine Registrierung erreichen.

Sollten die amtlichen Stellen entgegen der Rechtslage eine Registrierung verweigern, können sich Tschetschenen hiergegen mit sehr guten Erfolgsaussichten zur Wehr setzen.

Darüber hinaus lässt sich den Erkenntnisquellen nicht entnehmen, dass die Registrierungsschwierigkeiten "flächendeckend" in der Russischen Föderation bestehen. Es gibt Regionen, in denen keine örtlichen Vorschriften zur Registrierung erlassen worden sind oder diese nicht restriktiv angewandt werden, in denen also eine Registrierung leichter möglich ist.

(2) Im Übrigen können Tschetschenen auch ohne eine legale Registrierung ein zumutbares Auskommen finden. Die vergleichsweise hohe Zahl der in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen belegt, dass es unabhängig von bürokratischen Schwierigkeiten (etwa bei Registrierung oder Ausweispapierbeschaffung), teilweisen Diskriminierungen und auch Übergriffen von Behördenangehörigen und trotz Ressentiments in der Bevölkerung möglich ist, zumindest einen faktischen Aufenthalt zu erlangen und – wenn auch auf dem landesüblichen niedrigen Niveau – dabei eine wirtschaftliche Grundlage zu finden und sei es auch nur im Bereich der – sehr weit verbreiteten (Auswärtiges Amt an das VG Stuttgart vom 30. Juni 2000, S. 2) – Schattenwirtschaft.

(3) Die Gebiete, in denen eine inländische Fluchtalternative offen steht, sind für die Kläger auch erreichbar. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht dorthin gelangen könnten oder gar mit einer zwangsweisen Rückführung nach Tschetschenien rechnen müssten (Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht Tschetschenien vom 16. Februar 2004, S. 19).

(4) Die inländische Fluchtalternative scheitert weiterhin nicht am fehlenden Existenzminimum. Auch in den Fällen, in denen es tschetschenischen Volkszugehörigen nicht gelingt, eine Registrierung zu erhalten, besteht keine Gefahr der Verelendung und des Hungertodes. Soweit Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker in ihrer Auskunft an den VGH Kassel vom 14. Juni 2007 (S. 11) für die "absolute Mehrheit der tschetschenischen Flüchtlinge“ bei fehlender Registrierung keine Existenzmöglichkeit in der Russischen Föderation erkennen, wird dies nicht belegt. Dabei wird zudem außer Acht gelassen, dass bereits eine ganz erhebliche Anzahl nicht registrierter Tschetschenen über Jahre (irgend-) ein Auskommen in der Russischen Föderation gefunden hat und findet. Gannuschkina (Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007, S. 78 ff.) führt aus, dass nicht registrierte Binnenflüchtlinge weniger Rechte als registrierte haben, belegt aber ebenfalls nicht, dass zumutbare Anstrengungen zur Existenzsicherung unmöglich erscheinen. Es liegen auch keine Erkenntnisse dazu vor, dass es unter der erheblichen Anzahl in verschiedenen russischen Regionen niedergelassenen Tschetschenen zu gravierenden Versorgungsengpässen oder gar zu Hungersnöten oder vergleichbaren humanitären Katastrophen gekommen wäre (vgl. OVG Saarlouis, Urteil vom 23. Juni 2005, a.a.O., Rn. 48).

c. Auch der Umstand, dass die Kläger einen neuen (Inlands-) Pass benötigen, führt zu keiner anderen Beurteilung.

Zwar war bislang ein neuer Inlandspass bei dem Meldeamt zu beantragen, bei dem der Betreffende bisher (offiziell) registriert ist (Auswärtiges Amt an das VG Berlin vom 22. November 2005, Nr. 4), weil die Geltungsdauer des Befehls Nr. 347, der einen Passumtausch auch an einem mit dem Ort der letzten Anmeldung nicht identischen Wohnort des Betroffenen vorsah, zwischenzeitlich ausgelaufen war und es auch sonst keine Sonderregelungen für Tschetschenen mehr gab (ebda., Nrn. 1 und 7). Dies hatte zur Folge, dass z.B. ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit, der offiziell in Tschetschenien registriert war, nur dort einen (neuen) russischen Inlandspass beantragen konnte. Jedoch ist inzwischen eine Neuregelung über die Ausstellung von Inlandspässen in Kraft gesetzt worden. Seit Inkrafttreten der Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20. Dezember 2006 kann die Ausstellung eines Passes "am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung“ erfolgen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Januar 2008, S. 28; Auskunft an das VG Köln vom 4. Dezember 2007, S. 1). Dafür, dass es für tschetschenische Volkszugehörige trotz dieser neuen Rechtslage schwierig oder gar unmöglich ist, am Ort der Antragstellung einen neuen Pass zu erhalten, gibt es keine Anhaltspunkte.

Selbst bei Zugrundelegen der bisherigen Rechtslage bzw. einer erforderlichen Passausstellung in Tschetschenien ergäbe sich keine andere Beurteilung. Die Notwendigkeit, zwecks Erlangung eines neuen Inlandspasses Tschetschenien aufzusuchen, bestand nur für wenige Tage. Denn der Erlass Nr. 828 sieht für dieses Verwaltungsgeschäft eine maximale Bearbeitungsdauer von zehn Tagen vor (Auswärtiges Amt an den VGH München vom 3. März 2006, Nr. 3). Auskünften der Pass- und Visaverwaltung der Tschetschenischen Republik in Grosny zufolge wird diese Frist auch in Tschetschenien in der Regel eingehalten (ebda.).

d. Die vorstehenden Ausführungen gelten jedenfalls für "unauffällige" tschetschenische Volkszugehörige, die sich im Tschetschenien-Konflikt für die tschetschenische Sache nicht besonders engagiert oder eines solchen Engagements verdächtig gemacht haben und deshalb konkret gesucht werden (vgl. OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 – 11 A 2307/03.A – Juris Rn. 171). Zu dieser "Risikogruppe", die nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Januar 2008 (S. 26 unten) bei einer Rückführung "besondere Aufmerksamkeit" durch die russischen Behörden erfährt und auf die daher die vorstehenden Ausführungen möglicherweise nicht oder nur eingeschränkt anwendbar sind, zählen bekannte oder prominente Funktionäre oder Parteigänger Maschadows und der "Tschetschenischen Republik Itschkeria" (Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 14; so auch UNHCR an den VGH Kassel vom 8. Oktober 2007, S. 5, der allerdings auch solche Personen als besonders gefährdet ansieht, die "sehr niedrige" offizielle Positionen im Regime Maschadow innehatten; hierfür werden jedoch keinerlei Belege angeführt), sowie die den russischen Sicherheitskräften bekannten Freischärler/Rebellen/Widerstandskämpfer bzw. die von ihnen als solche verdächtigt und deshalb konkret gesucht werden (Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 21; Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 14. Juni 2007, zu Frage 4; amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April 2007, S. 9, mit Fallbeispielen S. 11-15; siehe hierzu auch VGH München, Urteil vom 31. August 2007, a.a.O., Rn. 68; Siegert an den VGH Kassel vom 20. April 2007, zu Frage 6; UNHCR an den VGH Kassel vom 8. Oktober 2007, S. 5, spricht von "Mitgliedern illegaler, bewaffneter Formationen"; Heinrich/Lobova, Ausarbeitung vom 7. März 2006, S. 11 u. S. 17, sprechen von Angehörigen von "Terrorismusverdächtigen").

Soweit in den Auskünften auch Familienangehörige solcher (vermuteter) Widerstandskämpfer als besonders gefährdet angesehen werden, überzeugt dies für die bei der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative allein relevanten Gebiete der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und der weiteren oben genannten Gebiete) nicht. Denn für die Russische Föderation außerhalb dieser Gebiete werden Vorfälle, die unter dem Aspekt der "Sippenhaft" gesehen werden könnten, nicht berichtet (so auch VGH München, Urteil vom 24. Oktober 2007 – 11 B 03.30711 – S. 17 des Entscheidungsabdruckes).

Soweit auch (bewaffnete) Teilnehmer des 1. Tschetschenien-Krieges als besonders gefährdet angesehen werden (so VGH München, nicht rechtskräftiges Urteil vom 24. Oktober 2007 – 11 B 03.30710 – S. 34 des Urteilsabdruckes und rechtskräftiges Urteil vom 15. Oktober 2007 – 11 B 06.30875 – Juris Rn. 79), überzeugt dies (zumindest) für die Gebiete der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht, jedenfalls soweit es sich um Personen mit untergeordneten Funktionen gehandelt hat. Es ist schon nicht plausibel, dass die russischen Sicherheitskräfte diese Personen auch heute noch besonders im Blick haben sollten.