VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Beschluss vom 16.07.2008 - 8 L 288/08 - asyl.net: M13915
https://www.asyl.net/rsdb/M13915
Leitsatz:

Minderjährigkeit bei der Begehung einer Straftat alleine führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit einer Aufenthaltsbeendigung gem. Art. 8 EMRK.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, abgelehnte Asylbewerber, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit, einstweilige Anordung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Krankheit, Familienangehörige, Abschiebung, Europäische Menschenrechtskonvention, Privatleben, Verhältnismäßigkeit, Straftat, Jugendstrafe, Minderjährige, Wiederholungsgefahr, EuGH, Rechtsprechung, Integration, Aufenthaltsdauer
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Minderjährigkeit bei der Begehung einer Straftat alleine führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit einer Aufenthaltsbeendigung gem. Art. 8 EMRK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

II. Der sinngemäße Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage 8 K 1640/07 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 8. Mai 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Münster vom 21. August 2007 anzuordnen, hat keinen Erfolg.

1. Wegen der unter Nr. 1 der Ordnungsverfügung vom Antragsgegner angeordneten Ausweisung des Antragstellers ist der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO unzulässig, weil die Klage 8 K 1640/07 ohne Anordnung des Gerichts aufschiebende Wirkung hat und der Antragsgegner die Ausweisung nicht vollzieht.

Der Antragsgegner zweifelt die aufschiebende Wirkung der gegen die Ausweisung gerichteten Klage nicht an, wenn er die Erteilung von Passersatzpapieren für den Antragsteller mit dem Ziel seiner Abschiebung betreibt, ohne den Ausgang des Klageverfahrens abzuwarten. Dass die Klage insoweit aufschiebende Wirkung hat, bestätigte er dem Antragsteller mit Schreiben vom 18. Dezember 2007. Gleichzeitig berief er sich darauf, dass die vollziehbare Ausreiseverpflichtung des Antragstellers im Übrigen fortbestehe. Dieser rechtliche Ansatz trifft auch zu. Der Antragsteller ist nämlich unabhängig von der Ausweisung vollziehbar ausreisepflichtig, nachdem das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) mit Bescheid vom 18. Oktober 1996 den Asylantrag des Antragstellers abgelehnt und ihm die Abschiebung angedroht hat. Diese Abschiebungsandrohung hat sich nicht erledigt; dem Antragsteller wurde bis heute kein Aufenthaltstitel erteilt.

III. Der Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, Abschiebemaßnahmen gegen den Antragsteller zu unterlassen, ist nicht begründet.

2. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 a AufenthG.

b) Ein Anspruch des volljährigen Antragstellers auf Erteilung einer Duldung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung infolge der Beziehung zu seiner Mutter ist ebenfalls nicht gegeben. Er kann sich hier nur aus übergeordnetem Recht ergeben. Dabei kommt den Schutzgewährungen des Art. 6 Abs. 1 GG in Anbetracht der familiären Bindungen zwischen dem Antragsteller und seiner in Deutschland lebenden Mutter zwar Gewicht zu.

Eine Verschlechterung des Gesundheitszustands seiner Mutter für den Fall seiner Abschiebung führt nicht dazu, dass ihm deswegen Abschiebungsschutz zu gewähren wäre. Nach ständiger Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW führt nämlich nicht jede mit der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit eines Bleiberechts für die Bundesrepublik Deutschland und einer bevorstehenden Rückkehr ins Heimatland einhergehende, mithin also letztlich abschiebungsbedingte Gefährdung bzw. Verschlechterung des Gesundheitszustandes auf einen Duldungsgrund. Indem das Aufenthaltsgesetz die Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer unter bestimmten Voraussetzungen vorsieht (vgl. § 58 AufenthG), nimmt es vielfach in diesem Zusammenhang zu erwartende Auswirkungen auf den gesundheitlichen, insbesondere psychischen Zustand der Betroffenen in Kauf und lässt diese nur unter besonderen Umständen als Duldungsgründe gelten.

Diese in Bezug auf den gesundheitlichen Zustand eines von der Abschiebung selbst betroffenen Ausländers bestehende Wertung des Gesetzgebers gilt auch für den Gesundheitszustand der Familienangehörigen des Abzuschiebenden, da das Aufenthaltsgesetz ebenso wie zuvor das Ausländergesetz die gesundheitlichen und damit auch die hier geltend gemachten psychischen Auswirkungen der Abschiebung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auf seine nahen Familienangehörigen, die ein Bleiberecht in der Bundesrepublik besitzen, gleichermaßen in Kauf nimmt (OVG NRW, Beschluss vom 21. April 2005 - 18 B 377/05 -, www.nrwe.de; Beschluss vom 29. August 2003 - 18 B 1459/03 -, www.nrwe.de).

Besondere Umstände, die ausnahmsweise eine von den vorstehenden Grundsätzen abweichende Beurteilung rechtfertigen, sind nicht dargetan oder sonst ersichtlich.

c) Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung folgt ebenfalls nicht aus dem mit Art. 2 GG und Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz des Privatlebens.

aa) Es mag hier unterstellt werden, dass der Schutzbereich des Art 8 Abs. 1 EMRK auf Achtung des Privatlebens eröffnet ist (vgl. aber auch EGMR, Urteil vom 7. Oktober 2004 - 33743/03 - [Dragan], NVwZ 2005, 1043, 1045).

bb) Ist aber der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK eröffnet, führt dies nicht "quasi automatisch" zu einem Aufenthaltsrecht. Art. 8 EMRK sichert einem Ausländer nicht das Recht, sich in einem bestimmten Staat aufhalten zu dürfen. Auch für langjährig ansässige Einwanderer, die in Deutschland geboren oder in jungen Jahren nach Deutschland eingereist sind, kann aus Artikel 8 der Konvention kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 - 46410/99 - [Üner ./. Niederlande], www.coe.int = NVwZ 2007, 1279).

Vielmehr ist im Rahmen der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermitteln, ob dem Ausländer wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit nicht zugemutet werden kann. In diesem Zusammenhang ist seine Rechtsposition gegen dem Recht der Bundesrepublik Deutschland auf Einwanderungskontrolle - insbesondere der Aufrechterhaltung der Ordnung im Fremdenwesen - in einer Weise abzuwägen, dass ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt ist (vgl. EGMR, Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 - [Baghli], InfAuslR 2000, 53 und Entscheidung vom 16. September 2004 - 11103/03 - [Ghiban], NVwZ 2004, 1046). Insoweit ist zum Einen in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist.

Dabei sind als Gesichtspunkte seine wirtschaftliche und soziale Integration, sein rechtlicher Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland, seine Kenntnisse der deutschen Sprache und seine persönliche Befähigung von Bedeutung. Auf der anderen Seite ist - erneut - zu fragen, inwieweit der Ausländer - wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland - von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Februar 2006 - 18 E 1534/05 -; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 24. Februar 2006 - 7 B 10020/06.OVG -, Asylmagazin 2006, 28). Im Zusammenhang mit Straftaten eines Ausländers hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Kriterien für eine Feststellung von Umständen, nach denen eine Ausweisungsmaßnahme in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig und gegenüber dem verfolgten Ziel nicht verhältnismäßig ist und nach denen die Maßnahme damit eine Verletzung des Art. 8 der Konvention darstellt, angeführt:

- die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat; die Dauer des Aufenthalts des Ausländers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;

- die seit der Tatzeit verstrichene Zeitspanne und das Verhalten des Ausländers in dieser Zeit;

- die Staatsangehörigkeit der einzelnen Betroffenen;

- die familiäre Situation des Ausländers und insbesondere gegebenenfalls die Dauer seiner Ehe und andere Faktoren, welche die Effektivität eines Familienlebens bei einem Paar belegen;

- die Frage, ob der Ehegatte von der Straftat wusste, als die familiäre Beziehung aufgenommen wurde;

- die Frage, ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und wenn ja, welches Alter sie haben,

- und das Maß an Schwierigkeiten, denen der Ehegatte in dem Land unter Umständen begegnet, in das der Ausländer auszuweisen ist

(vgl. EGMR, Urteil vom 2. August 2001 - 54273/00 - [Boultif ./. Schweiz], InfAuslR 2001, 476; Urteil vom 18. Oktober 2006 - 46410/99 - [Üner ./. Niederlande], a.a.O.).

Bei Anwendung dieser Vorgaben ist insbesondere eine Ausreise bzw. Abschiebung des Antragstellers verhältnismäßig.

Die Straftaten des Antragstellers wiegen schwer. Selbst wenn zugunsten des Antragstellers die am ... durch das Amtsgericht Münster erfolgte letzte strafrechtliche Verurteilung des Antragstellers, die nach einer Rücknahme des Rechtsmittels des Antragstellers rechtskräftig wurde, unberücksichtigt bliebe, beging er jedenfalls derartige Straftaten, für die eine ganz erhebliche Jugendstrafe von zwei Jahren die Untergrenze des Zulässigen ist (Landgericht Münster, Urteil vom 10. November 2006 - 1 a Ns 63 Js 3699/05 (41/06) -). Die Schwere der Straftaten wird bei Anwendung des Art. 8 EMRK in erster Linie durch die Höhe der verhängten Strafen gekennzeichnet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, www.bverfg.de Rn. 16 = NVwZ 2004, 852 = InfAuslR 2004, 280 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR).

Minderjährigkeit bei Begehung der Straftaten allein führt nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, a.a.O.). Dies gilt auch für den vorliegenden Fall. Der Antragsteller hat die hier zu bewertenden Taten nicht in einem sehr jugendlichen Alter, sondern nach Vollendung des 17. Lebensjahres begangen. Die Schwere der Taten folgen auch nicht nur aus der Strafhöhe; ihre Schwere wird auch durch die Art der Taten vom ... belegt. Der Antragsteller war nicht "nur" an einer Prügelei unter Jugendlichen beteiligt. Er verursachte ein ganz erhebliches Gefährdungspotential nicht nur für Leib, sondern auch für das Leben anderer, indem er mit einer Gaspistole auf Menschen schoss und während der Schlägerei mehrere Menschen mit einem Messer verletzte, wobei er in einem Fall einem Menschen von oben hinten in die Schulter stechend eine tiefe, stark blutende Verletzung beibrachte. Entgegen der Behauptung des Antragstellers waren mit dem Strafurteil des Amtsgerichts Münster vom ... auch nicht alle Straftaten, die er begangen hatte, erstmals Gegenstand eines Strafverfahrens. Der Antragsteller war bereits im November ... der gefährlichen Körperverletzung in zwei Fällen schuldig gesprochen worden.

Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem vom Antragsteller angeführten Fall Moustaquim (vgl. EGMR, Urteil vom 18. Februar 1991 - 31/1989/191/291 -, InfAuslR 1991, 149), bei dem der EGMR die Ausweisung eines Ausländers, der wegen mehrerer als Jugendlicher begangener Raubüberfälle und einer Vielzahl von Fällen qualifizierten und versuchten qualifizierten Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt worden war, als Verstoß gegen Art. 8 EMRK gewertet hat. Dies findet hier keine Entsprechung. Der Antragsteller hat mit gegen Leib und Leben anderer gerichteten Straftaten eine andere Art der Gefährlichkeit gezeigt. Er war nach den letzten Straftaten nicht in Freiheit, ohne Straftaten zu begehen.

Es kann bei einer Anwendung ausländerrechtlichen Kategorien weiterhin nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit erwartet werden, dass der Antragsteller nach Vollstreckung der Jugendstrafe in der Lage ist, nicht wieder straffällig zu werden.

Nach Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt kann der bisher nicht aufgearbeitete Erziehungsbedarf ebenfalls nicht gedeckt oder auch nur anders ersetzt werden.

Eine sonstige soziale Integration des Antragstellers ist nicht dargelegt oder sonst ersichtlich.