VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 04.08.2008 - 8 K 1001/08 - asyl.net: M13891
https://www.asyl.net/rsdb/M13891
Leitsatz:

1. Zweifel an der biologischen Vaterschaft ändern nichts daran, dass nach einer wirksamen Vaterschaftsanerkennung zumindest eine formal-rechtliche Vaterschaft auch im aufenthaltsrechtlichen Sinn besteht.

2. Je mehr im Einzelfall auf eine missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung deutet, umso mehr rechtfertigt dies zumindest eine strenge Prüfung der "tatsächlichen Verbundenheit" zwischen Vater und Kind im Sinn der Rechtsprechung des BVerfG zur aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkung des Art. 6 GG.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Vater, Vaterschaftsanerkennung, Eltern-Kind-Verhältnis, Scheinvaterschaft
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

1. Zweifel an der biologischen Vaterschaft ändern nichts daran, dass nach einer wirksamen Vaterschaftsanerkennung zumindest eine formal-rechtliche Vaterschaft auch im aufenthaltsrechtlichen Sinn besteht.

2. Je mehr im Einzelfall auf eine missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung deutet, umso mehr rechtfertigt dies zumindest eine strenge Prüfung der "tatsächlichen Verbundenheit" zwischen Vater und Kind im Sinn der Rechtsprechung des BVerfG zur aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkung des Art. 6 GG.

(Amtliche Leitsätze)

 

Der Antragsteller hat jedoch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

1. Aus dem grundrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG folgt ein zwingendes Abschiebungshindernis nach § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Beziehungen durch Ausreise zu unterbrechen (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 04.06.1997 - 1 C 9.95, juris Rn. 37). Der Antragsteller kann sich jedoch nicht erfolgreich auf die aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung des Art. 6 GG berufen. Eine nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützte familiäre Bindung liegt nicht vor.

a) Der Antragsteller ist formal-rechtlich Vater des Kindes, für welches er die Vaterschaft anerkannt hat. Die formal-rechtliche Vaterschaft in diesem Sinne wurde durch die vorgelegte Kopie einer Geburtsurkunde des Standesamtes M. glaubhaft gemacht, welche den Antragsteller als Vater ausweist. Es hat nach der familienrechtlichen Systematik keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Vaterschaftsanerkennung und das dadurch begründete Verwandtschaftsverhältnis, wenn eine Anerkennung im Bewusstsein abgegeben wird, nicht der biologische Vater zu sein (vgl. § 1598 Abs. 1 BGB und Diederichsen, in: Palandt, BGB, § 1598 Rn. 2). Das väterliche Verwandtschaftsverhältnis wird im Falle einer Anerkennung durch eine reine Willenserklärung begründet, durch welche die Absicht zur Vaterschaft bekundet wird; sie stellt aber nicht zusätzlich eine Wissenserklärung dar, durch die der Erklärende auch die biologische Vaterschaft behauptet (h.M., vgl. Hahn, in: Bamberger/Roth, BGB, § 1594 Rn. 3; Rauscher, in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2004, § 1592 Rn. 53).

b) Art. 6 GG entfaltet allerdings nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen ausländerrechtliche Schutzwirkungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 18). Dabei verbietet es sich, zwischen aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdigen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften einerseits oder bloßen Begegnungsgemeinschaften ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung andererseits nur durch schematische Einordnungen zu unterscheiden. Bereits der persönliche Kontakt durch Umgang mit dem Kind ist unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung und steht daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. insgesamt BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002 - 2 BvR 231/00). Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter oder durch Dritte entbehrlich wird, sondern im Rahmen einer Vater-Kind-Beziehung eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05, m.w.N.). Dementsprechend umfasst der Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch die Beziehungen zwischen einem Vater und seinem nichtehelichen Kind (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02.05.2000 - 13 S 2456/99, juris Rn. 8).

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist insbesondere maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04). Die Annahme eines entsprechenden Abschiebungshindernisses im Verfahren der einstweiligen Anordnung setzt danach voraus, dass zwischen dem Ausländer und dem Kind eine "sozial-familiäre Beziehung" glaubhaft gemacht wird. Eine solche Beziehung und damit die schutzwürdige familiäre (Lebens-)Gemeinschaft zwischen einem Elternteil und seinem minderjährigen Kind ist getragen von tatsächlicher Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes. Leben die Familienmitglieder getrennt, bedarf es anderer Anhaltspunkte für eine familiäre Lebensgemeinschaft. Als maßgebliche Kriterien für das Vorliegen einer verantwortungsvoll gelebten Eltern-Kind-Gemeinschaft können daher regelmäßige Kontakte des Elternteils mit seinem Kind, die die Übernahme elterlicher Erziehungs- und Betreuungsverantwortung zum Ausdruck bringen, sowie eine emotionale Verbundenheit herangezogen werden; auch Unterhaltsleistungen sind ein Zeichen für die Wahrnehmung elterlicher Verantwortung (vgl. insg. BVerfG, Beschl. v. 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 02.05.2000 - 13 S 2456/99).

c) Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg: Ist nach den gesamten Umständen davon auszugehen, dass eine Vaterschaft bewusst wahrheitswidrig und in kollusivem Zusammenwirken erfolgte, um dem Antragsteller gestützt auf Art. 6 GG auf diese Weise unter Umgehung einfachrechtlicher Aufenthaltsbestimmungen den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu sichern, so sollen sich darauf keine ausländerrechtliche Ansprüche stützen lassen. Unter Verweis auf die Rechtsprechung zur "Scheinehe" dürfe aus dem rein formalen Vaterschaftsanerkennen kein aufenthaltsrechtlicher Nutzen gezogen werden (vgl. insgesamt VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 03.03.2005 - 13 S 3035/04, juris Rn. 9: dort zum Antrag eines Kindes und dessen Mutter nach Vaterschaftsanerkennung durch einen Ausländer mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis; allerdings str.: a. A. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 01.10.2004 - 2 M 441/04). Eine vergleichbare Wertung wie die des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg lässt sich inzwischen § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG bei den Regelungen zum Familiennachzug entnehmen.

Letztlich kann im vorliegenden Verfahren offen bleiben, ob dieser Rechtsprechung in vollem Umfang zu folgen ist, mit dem Ergebnis, dass eine missbräuchliche Anerkennung ungeachtet ihrer familienrechtlichen Wirkung keinerlei ausländerrechtliche Schutzwirkung entfaltet. Es sind Grenzfälle vorstellbar, in denen - ungeachtet der primär aufenthaltsrechtlich geprägten Motivation für die Vaterschaftsanerkennung - tatsächlich eine Lebensbeziehung aufgebaut werden mag. Auch wenn die rechtliche Vaterschaft von der biologisch Vaterschaft abweicht, müsste dies dann nicht als "Scheinvaterschaft" missbräuchlich sein und könnte damit dennoch dem Schutz des Art. 6 GG unterfallen. Die notwendige Bekämpfung von missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennungen rechtfertigt es aber zumindest, umso strenger die tatsächliche Verbundenheit zu hinterfragen, je mehr im Einzelfall auf Missbrauch deutet.