FG Düsseldorf

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Zitieren als:
FG Düsseldorf, Urteil vom 31.07.2008 - 14 K 2206/06 Kg - asyl.net: M13878
https://www.asyl.net/rsdb/M13878
Leitsatz:

Anspruch auf Kindergeld für türkische Staatsangehörige trotz Besitzes einer Duldung nach dem Vorläufigen Europäischen Sozialabkommen.

 

Schlagwörter: D (A), Kindergeld, Türken, Duldung, Vorläufiges Europäisches Sozialabkommen, Wohnen, gewöhnlicher Aufenthalt, Gemeinschaftsunterkünfte
Normen: EStG § 62 Abs. 2; EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1; AO § 9 S. 1
Auszüge:

Anspruch auf Kindergeld für türkische Staatsangehörige trotz Besitzes einer Duldung nach dem Vorläufigen Europäischen Sozialabkommen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist begründet.

Zwar kann die Klägerin als nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin nach der vom Senat in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vertretenen Rechtsauffassung kein Kindergeld nach § 62 Abs. 2 EStG beanspruchen, weil ihr Aufenthaltsrecht im Streitraum, der von der Antragstellung bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung reicht (vgl. Finanzgericht – FG – Düsseldorf Urteil vom 23.01.2007 10 K 5107/05 Kg, Revisionsverfahren III R 13/07, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2007, 295) lediglich auf Duldungen beruhte (vgl. Grundsatzurteil des BFH vom 15.03.2007 III R 93/03, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFHE – 217, 443; Finanzgericht – FG - Düsseldorf vom 10.06.2008 14 K 2182/06Kg, n.v.). Da die Klägerin nach dem Akteninhalt im Streitzeitraum nicht erwerbstätig war bzw. keine Lohnersatzleistungen bezogen hat, erfüllt sie auch nicht die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nach dem Deutsch-Türkischen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 30.04.1964 (Bundesgesetzblatt – BGBl - II 1965, 1169) i.d.F. des Zusatzabkommens vom 02.11.1984 (BGBl II 1986, 1040) oder nach Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19.09.1980 (ARB 3/80; Amtsblatt EG Nr. C 110 S. 60).

Die Klägerin hat jedoch auf Grund einer Gleichstellung mit Inländern nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen vom 11.12.1953 über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Individualität und zu Gunsten der Hinterbliebenen (BGBl II 1956, 507) einen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG.

Gemäß Art. 1 Abs. 1 d findet das Abkommen Anwendung auf alle Gesetze und Regelungen über soziale Sicherheit, die in jedem Teil des Gebietes der Vertragschließenden am Tage der Unterzeichnung Geltung haben oder in der Folge in Kraft treten und sich unter anderem auf Familienbeihilfen beziehen. Der Gewährleistungsanspruch nach den Art. 2 Abs. 1 d, Art. 1 Abs. 1 d des Abkommens umfasst dabei nach einhelliger Auffassung auch das nach deutschen Recht zu gewährende Kindergeld, dessen Leistung nicht auf Beiträgen beruht und welches sich als Familienbeihilfe im Sinne des Abkommens darstellt (BSG, BSGE 93, 194; FG Düsseldorf Urteil vom 23.06.2006 18 K 1773/05 Kg, n.v.; Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleich – DA-FamEStG - 62.4.3 Abs. 4 Satz 4, BStBl I 2007, 489). Denn durch das Schreiben des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland vom 19.08.1956 (vgl. hierzu Art. 7 Abs. 2 Vorläufiges Europäisches Abkommen; die Liste der Erklärungen zu diesem Abkommen ist aufrufbar unter www.conventions.coa.int/treaty) ist der Anhang I des Abkommens auf "family allowances" erweitert worden. In den nachfolgenden bundesdeutschen Bekanntmachungen über das Inkrafttreten sowie über den Geltungsbereich des Vorläufigen Europäischen Abkommens vom 08.01.1958 (BGBl II 1958 18, 19) und die Bekanntmachung der Neufassung der Anhänge I, II und III vom 08.03.1972 (BGBl II 1972, 175, 177) und vom 17.01.1985 (BGBl II 1985, 311, 313) wird dann in der deutschen Übersetzung der Begriff "Kindergeld" angeführt.

Die Klägerin wird auch von dem persönlichen Anwendungsbereich des Vorläufigen Europäischen Abkommens erfasst. Art. 2 Abs. 1 d des Abkommens gewährt den Staatsangehörigen eines der vertragsschließenden Staaten einen Anspruch auf die Leistungen nach den Gesetzen und Regelungen jedes anderen Vertragschließenden unter denselben Bedingungen wie den Staatsangehörigen des letzteren, sofern sie bezüglich der nicht auf Beiträgen beruhenden Leistungen – also vorliegend des Kindergeldes – seit wenigstens sechs Monaten im Gebiet des letzteren Vertragschließenden wohnen.

Die Klägerin besitzt die türkische Staatsangehörigkeit. Neben der Staatsangehörigkeit sind – abgesehen von einem sechsmonatigen Wohnen – weder nach dem Abkommenswortlaut noch nach der zur Abkommensauslegung heranzuziehenden Zielsetzung des Abkommens (vgl. zu den Auslegungsgrundsätzen nach Art. 31 Wiener Übereinkommen vom 23.05.1969 über das Recht der Verträge, Wiener Vertragsrechtskonvention, BGBl 1985 II, 926, BSG, BSGE, 93, 194) weitere Voraussetzungen für die Gleichstellung zu erfüllen. Für die Zielsetzung des Abkommens ist insbesondere dessen Präambel maßgeblich, wonach das Abkommen dem "Grundsatz der Gleichbehandlung der Angehörigen aller Vertragsschließenden" dient. Daraus folgt, dass es das Ziel der Vertragsschließenden war, in dem geregelten Umfang eine Gleichstellung mit Inländern zu erreichen. Damit scheidet eine besondere Ausländerbehandlung aus und es kann kein spezifischer Aufenthaltstitel als Anspruchsvoraussetzung verlangt werden (vgl. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, II Kommentierung Abkommen, Vor. Europ. Abkommen D Rz. 4; anders demgegenüber die im Zusammenhang mit der Zielsetzung des ARB 3/80 vertretenen unterschiedlichen Auffassungen BSGUrteil vom 05.10.2006 B 10 EG 6/04 R, SozR 4 -1300 § 48 Nr. 8; Rz. 32; FG Köln Urteil vom 28.06.2001 3 K 3355/97, InfAuslR 2001, 430; Niedersächsisches FG Urteil vom 09.05.2000 14 K 333/98 Ki, EFG 1998, 750).

Für die Auslegung des Begriffs des Wohnens gelten dieselben Auslegungsgrundsätze. Er ist abkommensspezifisch und jedenfalls in den verschiedenen Signaturstaaten nicht unterschiedlich auszulegen, da Sinn des Abkommens insoweit eine einheitlich geltende Regelung ist. Zur Auslegung ist deshalb ein Rückgriff auf nationales Recht nicht zulässig. Aus dem Abkommen lassen sich keinerlei Gesichtspunkte für die von der Beklagten angenommene Einschränkung entnehmen, wonach ein Wohnen im Sinne des Abkommens nur bei einer privaten Wohnungsanmietung gegeben sein soll (ebenso ohne nähere Begründung Lange/Novak/Sander/Stahl/Weinhold, Kindergeldrecht im öffentlichen Dienst, § 62 EStG Erl. D VI 1 Rz. 118). Die vertragsschließenden Staaten haben die Gleichstellung unabhängig vom ausländerrechtlichen Status und vom Erwerbsstatus lediglich von der Voraussetzung eines sechsmonatigen Wohnens im jeweiligen Vertragsstaat abhängig gemacht. Der Anwendungsbereich des Vorläufigen Europäischen Abkommens kann deshalb nicht nachträglich im Wege ergänzender einschränkender Vertragsauslegung – etwa im Hinblick auf Asylproblematiken und die damit im Zusammenhang stehende Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften - korrigiert werden. Auch nach der Dienstanweisung des Beklagten DAFamEStG 62.4.3 Abs. 4 Satz 4 (BStBl I 2007, 489, 492) hängt der Kindergeldanspruch lediglich von einem inländischen Aufenthalt ab (anders hingegen die im BA-Rundbrief 76/2002 vom 03.12.2002, Anlage 2, 2.5 Abs. 4 Satz 6 vertretene Auffassung, wonach die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft nicht ausreichen soll). Allgemein wohnt eine Person an dem Ort, an dem sie sich gewöhnlich aufhält und sich der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen befindet, an dem sie sich also nicht lediglich besuchsweise aufhält.

Nach diesen Grundsätzen wohnte die Klägerin zu Beginn des Streitzeitraums bereits seit sechs Monaten im Inland. Sie hielt sich ab der Antragstellung bereits ununterbrochen seit ca. 5 Jahren in Deutschland auf. In Deutschland befand sich damit ihr Lebensmittelpunkt und ihr stand in der Gemeinschaftsunterkunft eine Wohnmöglichkeit zur Verfügung.

Zugleich erfüllt die Klägerin auch die für Inländer geltenden Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG, denn auf Grund der Länge ihres Aufenthaltes hatte sie im Inland zumindest ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Nach § 9 Satz 1 AO unterhält jemand einen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort nicht nur vorübergehend weilt. Dabei gilt nach der gesetzlichen Definition des § 9 Satz 2 1. Halbsatz AO ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten stets von Beginn an als gewöhnlicher Aufenthalt. Die Tatsache, dass die Klägerin im Streitzeitraum lediglich im Besitz von Duldungen war und damit ausländerrechtliche Bestimmungen einem dauerhaften Aufenthalt im Inland zunächst entgegenstanden, ändert hieran nichts. Denn die Prüfung der Voraussetzungen des § 9 AO ist allein anhand tatsächlicher Gegebenheiten vorzunehmen (vgl. Tipke/Kruse, AO/FGO, 16. Aufl., § 9 Tz. 2 m.w.N.). Schließlich hatten auch die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).