OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.05.2008 - 2 B 15.07 - asyl.net: M13819
https://www.asyl.net/rsdb/M13819
Leitsatz:

Asylanerkennung für kolumbianische Staatsangehörige, die wegen ihres Engagement für die Union Patriotica (UP) von Paramilitärs überfallen und misshandelt worden sind; Verfolgungsmaßnahmen der Paramilitärs sind dem kolumbianischen Staat auch nach dem Demobilisierungsprozess zuzurechnen; keine interne Fluchtalternative vor Verfolgung durch Paramilitärs.

Schlagwörter: Kolumbien, Union Patriotica, UP, Mitglieder, Glaubwürdigkeit, Übergriffe, Paramilitärs, Vergewaltigung, Scheinexekution, gesteigertes Vorbringen, traumatisierte Flüchtlinge, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Schutzbereitschaft, Demobilisierung, interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Autodefensas Unidas de Colombia, AUC, Medellín, Bogotá, FARC, Situation bei Rückkehr
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Asylanerkennung für kolumbianische Staatsangehörige, die wegen ihres Engagement für die Union Patriotica (UP) von Paramilitärs überfallen und misshandelt worden sind; Verfolgungsmaßnahmen der Paramilitärs sind dem kolumbianischen Staat auch nach dem Demobilisierungsprozess zuzurechnen; keine interne Fluchtalternative vor Verfolgung durch Paramilitärs.

(Leitsatz der Redaktion)

2. Die Beigeladenen haben Kolumbien auf der Flucht vor politischer Verfolgung verlassen.

a) Die Beigeladene zu 2. hat ihr politisches Engagement und den hierauf erfolgten Überfall im Dezember 1998 durch paramilitärische Kräfte bei ihrer Erstbefragung durch den Bundesgrenzschutz und bei der Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie bei ihrer gerichtlichen Anhörung vor dem Senat glaubhaft und in sich schlüssig geschildert. Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Beigeladenen zu 1 und 2. für die Union Patriotica (UP) als einfache Parteimitglieder ohne herausgehobene Funktion auf lokaler Ebene tätig waren und für diese Partei geworben haben.

Der Senat ist auch davon überzeugt, dass die Beigeladenen zu 2. am 18. Dezember 1999 Opfer des von ihr geschilderten Überfalls durch bewaffnete Einheiten geworden ist.

Die in der mündlichen Verhandlung erstmals erwähnte Vergewaltigung bei dem Überfall im Dezember 1998 stellt zwar neues Vorbringen und eine erhebliche Steigerung gegenüber dem bisher geschilderten Verfolgungsgeschehen dar. Der Senat hält die Angaben gleichwohl für glaubhaft. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgeblich: Die Beigeladene zu 2. konnte damit rechnen, dass bereits die geschilderten Vorfälle, insbesondere die unmittelbare Todesdrohung mit der Pistole, genügen würden, um ihre Asylanerkennung zu begründen. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung ist von den anwesenden Behördenvertretern noch einmal bestätigt worden, dass es ihnen in erster Linie um die rechtlichen Fragen des Falles gehe. Einen Grund, ihren Vortrag der Wahrheit zuwider zu steigern, gab es für die Beigeladene zu 2. daher nicht. Die späte Erwähnung der Vergewaltigung ist auch mit den gefestigten Erkenntnissen der Traumaforschung in Einklang zu bringen, wonach traumatisierte Personen, insbesondere Opfer sexueller Gewalt, oftmals bemüht sind, die traumatisierenden Ereignisse zu verschweigen bzw. Erinnerungen daran zu vermeiden (Haenel Ferdinand, Mechthild Wenk-Ansohn, Hrsg. Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, 2004, S. 61 ff. und S. 161 ff., 172 ff.). Schließlich hatte der Senat auch den Eindruck, dass der Beigeladenen zu 2. die Erwähnung der Vergewaltigung bei ihrer Anhörung vor dem Senat eher unabsichtlich "herausgerutscht" ist, sie eigentlich darüber nicht berichten wollte, zumal in der Gegenwart ihrer Tochter und ihres Mannes. Die Beigeladene zu 2. hatte danach zumindest vorübergehend erkennbare Schwierigkeiten, gefasst zu bleiben.

Angesichts der massiven Bedrohungen am 18. Dezember 1999 hat der Senat auch keine Zweifel, dass die Beigeladenen in der Folgezeit telefonisch weiteren Bedrohungen, die sich gegen alle drei Beigeladenen richteten, ausgesetzt waren und sie die Flucht in einem Familienrat beschlossen haben.

Der Senat zweifelt auch nicht daran, dass die Bedrohung gegenüber den Beigeladenen den paramilitärischen Einheiten zuzuschreiben ist. Die Beigeladenen zu 1 und 2. haben - was ihre Glaubwürdigkeit unterstreicht - nicht behauptet, sie könnten sicher sagen, dass es sich bei den bewaffneten Männern um paramilitärische Einheiten gehandelt habe, sondern sie dies nur vermuten könnten. Diese Vermutung liegt angesichts des politischen Engagements der Beigeladenen und des offenbar allein politisch motivierten Überfalls und der anschließenden Telefonanrufe aber derart nahe und entspricht der bekannten Vorgehensweise paramilitärischer Einheiten (Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 26. Mai 1993 - I 5, und 20. Juni 1991 - I 3; Hörtner, S. 141, 156 ff.), dass keine vernünftigen Zweifel an der Zurechnung bestehen. Die von dem Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Karte über die Hauptverbreitungsgebiete der Paramilitärs und der FARC-Guerilla in Kolumbien im Jahr 2000 spricht nicht dagegen, dass es sich bei den Bewaffneten um Paramilitärs handelte. Im Gegenteil wird hierdurch die Plausibilität der Vermutung der Beigeladenen geradezu belegt, denn die Heimatregion der Beigeladenen (Valle de Cauca) lag nach dieser Karte in einer von beiden Seiten umkämpften Zone.

b) Bei der Verfolgung, die die Beigeladenen vor der Ausreise erlitten haben, handelt es sich auch um politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a GG. Die Maßnahmen der paramilitärischen Gruppen sind dem kolumbianischen Staat zuzurechnen.

Der Paramilitarismus wird als ein traditionelles Phänomen in Kolumbien bezeichnet, das seinen Ursprung in ländlichen Gebieten, in denen der Staat keine oder nur mangelnde Präsenz zeigte, hat. Vier Entstehungslinien, die miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen, werden für das Aufkommen der bewaffneten Verbände genannt: Die Sicherung der Interessen der Großgrundbesitzer, die historisch bedingte Schwäche des Staates, der Kampf gegen die linksgerichteten Guerillagruppen, die sich aufgrund der militärischen Schwäche des Staates über größere Teile des Staatsgebietes ausdehnen konnten und zum Teil einen Staat im Staat gebildet haben, und schließlich der immer mehr an Bedeutung gewinnende und die finanzielle Basis der Aktivitäten bildende Drogenhandel (Hörtner, S. 133 ff. - III 2; Beck, Katharina, Der Demobilisierungsprozess der Paramilitärs in Kolumbien unter der Alvaro Uribe, Universität Köln, Diplomarbeit vom 8. Oktober 2007, S. 30 ff. - III 3, Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 1 - II 5). Die Gründung paramilitärischer Einheiten war in Kolumbien aufgrund eines Dekrets aus dem Jahr 1965, das es Militärangehörigen erlaubte, Zivilpersonen mit Waffen auszurüsten, damit sie als bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen aktiv werden, bis 1989 legal (Beck, S. 32 - III 3). Diese von staatlichen Stellen legalisierte und unterstützte Gründung von Selbstverteidigungsverbänden wird als Informalisierung der Sicherheitspolitik beschrieben, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Staat Funktionen von Polizei, Justiz und Armee ausgelagert hat. Hierdurch sollten unter Inkaufnahme einer Schwächung des staatlichen Gewaltmonopols die grundlegenden Herrschaftsverhältnisse verteidigt werden (Beck, S. 32 -III 3). Auch nach dem Verbot der paramilitärischen Gruppen im Jahre 1989 ist zunächst keine nennenswerte Bekämpfung der paramilitärischen Einheiten zu verzeichnen gewesen. Vielmehr wird von einer fortgesetzten ausgedehnten Kollaboration zwischen Paramilitärs und den kolumbianischen Streitkräften berichtet, die insbesondere bei der Bekämpfung des Linksterrorismus von unterlassenem Einschreiten bis zu verdeckter oder gar offener Unterstützung reichte (Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 11. Juni 2003 - I 13 und 14; zurückhaltender noch Auskunft vom 16. Juli 1990 - I 2). Die paramilitärischen Verbände, die nahezu alle massiv in den Drogenhandel verwickelt sind, werden nach diesen Auskünften des Auswärtigen Amtes auch für einen Großteil der Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien (politische Morde, Entführungen, Erpressungen, Massaker, Verschwindenlassen von Personen etc.) verantwortlich gemacht. Mitte der 1990er Jahre wurden zudem mit den ländlichen Sicherheitskooperativen neue vom Staat initiierte Selbstverteidigungseinheiten mit paramilitärischem Zuschnitt ins Leben gerufen (Beck, S. 33 - III 3).

Die staatliche Verantwortung für die Übergriffe paramilitärischer Einheiten wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach dem Verbot der paramilitärischen Gruppen bereits im Jahr 2000 die Regierung von Präsident Pastrana im Rahmen der damaligen Verhandlungen mit der linksgerichteten FARC Maßnahmen gegen die AUC ergriffen hat und es zu Entlassungen von 300 Militärangehörigen, darunter 38 Offizieren, wegen Zusammenarbeit mit den paramilitärischen Einheiten gekommen ist (vgl. Hörtner, S. 240 - III 2). Denn zum einen bestätigt die Zahl der Verhafteten den Befund, dass es mehr als nur vereinzelt eine Zusammenarbeit zwischen militärischen Stellen und den paramilitärischen Verbänden gab. Zum anderen hat sich während der bis 2002 dauernden Regierungszeit des Präsidenten Pastrana das paramilitärische Phänomen nicht nur nicht verringert, sondern ausgedehnt. Die Zahl der Angehörigen der Paramilitärs ist stark angewachsen und die paramilitärischen Gruppen konnten sich konsolidieren und sind mit mindestens 11.000 Bewaffneten zur zweitstärksten Gewaltgruppe des Landes angewachsen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11. Juni 2003 - I 13; Hörtner, S. 241 - III 2). Die Bemühungen der Regierung, dagegen vorzugehen, werden vom UNHCR als schwach und inkonsistent bezeichnet (vgl. Hörtner, a.a.O.).

Durch den 2003 eingeleiteten Demobilisierungsprozess und den so genannten Parapolitikskandal des Parlaments (siehe SZ vom 18. Mai 2007, NZZ vom 19. Februar 2007; NZZ vom 19. Januar 2007) sind die Verbindungen der Paramilitärs mit staatlichen Stellen, insbesondere den Sicherheitskräften, offenkundig geworden. Es sei durch diesen Skandal, so die Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrer Bewertung (Konrad-Adenauer-Stiftung vom 14. August 2007 - II 15), ans Tageslicht gekommen, was vor Jahresende 2006 nur ein Gespinst gewesen sei: Knapp ein Drittel der Abgeordneten im Abgeordnetenhaus und im Senat hätten mit den Paramilitärs gemeinsame Sache gemacht oder seien gar mit deren Hilfe auf ihre Posten gekommen. Beispielhaft verweist der Bericht unter anderem auf den Fall der Außenministerin Kolumbiens, die zurücktreten musste, nachdem der oberste Gerichtshof Ermittlungen gegen ihren Bruder wegen Verbindungen zu den Paramilitärs einleitete. Amnesty international berichtet im aktuellen Jahresbericht davon, dass die Generalstaatsanwaltschaft mehr als 100 Fällen mutmaßlicher geheimer Absprachen zwischen Paramilitärs und Staatsbediensteten nachgehe und der Oberste Gerichtshof Haftbefehle gegen Kongressabgeordnete erlassen habe, weil ihnen Verbindungen zu paramilitärischen Einheiten und die Verantwortung für Massaker an Kleinbauern zur Last gelegt werden. Ebenfalls im November 2006 wurde dem Leiter des Geheimdienstes (DAS) zur Last gelegt, Listen von Gewerkschaftern an paramilitärische Einheiten weitergegeben zu haben (zu allem Vorstehenden ai, Jahresbericht 2007 - II 16). Dass flächendeckende Kontakte und Verflechtungen zwischen staatlichen Stellen und den paramilitärischen Einheiten bestanden, lässt sich schließlich auch aus den Auskünften des Auswärtigen Amtes vom 23. und 24. Januar 2007 (I 18 und 19) entnehmen. In diesen Auskünften bestätigt das Auswärtige Amt, dass die nach der offiziellen Demobilisierung neu gebildeten paramilitärischen Verbände trotz der Auflösung des zentralen Dachverbandes AUC und der durchgeführten Demobilisierung in der Lage sind, ihnen missliebige Personen in ganz Kolumbien, einschließlich der Großstädte, aufzuspüren. Hierzu bedienen sie sich ihrer eigenen Stadtmilizen und Informanten, die sich auch bei Militär und Behörden befinden. Die Sicherheitskräfte seien teilweise von der Guerilla oder der (ehemaligen) AUC unterwandert, so dass die staatlichen Schutzprogramme nicht sicher seien.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Gründung paramilitärischer Einheiten vom kolumbianischen Staat gefördert und rechtlich abgesichert wurde und ihnen - in regional unterschiedlichem Ausmaß - polizeiliche und militärische Aufgaben überlassen wurden. Infolge der erheblichen Verflechtungen zwischen staatlichen Stellen, bis hinein in höchste Regierungsämter und das Parlament, mit paramilitärischen Einheiten stellen sich auch das gegen die paramilitärischen Einheiten ausgesprochene Verbot und die teilweise gegen diese eingeleiteten Maßnahmen nicht als eine effektive und grundsätzlich erfolgreiche Bekämpfung dar. Im Gegenteil muss für den Ausreisezeitpunkt und für die Zeit danach eine fortgesetzte Unterstützung und Duldung der paramilitärischen Gruppen durch große Teile des staatlichen Apparates einschließlich von Teilen der Regierung und des Parlaments festgestellt werden. Die Beigeladenen konnten auch bei den staatlichen Stellen keinen ausreichenden Schutz erhalten. Selbst gegenwärtig wird vom Auswärtigen Amt eine ausreichende Schutzgewährung in einem Schutzprogramm wegen der Unterwanderung der Polizeikräfte und anderer staatlicher Stellen klar verneint (Auskunft vom 24. Januar 2007 - I 19). Auch in der Zeit vor der Ausreise der Beigeladenen gewährten die kolumbianischen Polizeibehörden bei Bedrohungen nicht ausreichend Schutz (Auswärtiges Amt, Auskunft 15. April 2003 - I 11 und 7. Februar 1995 - I 8). Angesichts der Unterwanderung der Sicherheitskräfte dürfte eine Anzeige sogar mit einer nicht kalkulierbaren Gefahr einer Weitergabe der Daten und damit einer zusätzlichen Gefährdung verbunden gewesen sein.

c) Die Beigeladenen konnten sich der Verfolgung auch nicht durch einen Umzug in einen anderen Landesteil entziehen. Es kann daher dahin stehen, ob das Konzept der inländischen Fluchtalternative nach Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie einer Korrektur bedarf und dies gegebenenfalls auch für das Asylgrundrecht des Art. 16 a GG gilt (vgl. hierzu HessVGH, Urteil vom 21. Februar 2008 - 3 UE 191/07-, S. 16 -, zitiert nach juris; a.A. BayVGH, Urteil vom 31. August 2007 - 11 B 02.31724 -, zitiert nach juris; ebenso VG Berlin, Urteil vom 18. März 2008 - 38 X 87.08 -).

Es kann nicht mit mehr als überwiegender Wahrscheinlichkeit eine erneute Verfolgung an einem anderen Ort Kolumbiens ausgeschlossen werden.

Während die paramilitärischen Gruppen zunächst in lokalen Gruppen organisiert waren, vollzog der Paramilitarismus 1997 mit der Gründung einer nationalen Dachorganisation, der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) unter Führung von Carlos Castano einen qualitativen Sprung. Mit dem AUC hatten die paramilitärischen Einheiten einen zentralen Dachverband, der Schätzungen zufolge aus über 250 Gruppen bestand, die sich in verschiedenen Blöcken (bloques) organisiert haben (Beck, S. 35 - III 3) und landesweit tätig waren. Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 2003 kann nicht ausgeschlossen werden, dass die verschiedenen paramilitärischen Gruppen, die nach gesicherter Erkenntnis des Auswärtigen Amtes jeweils Listen über zu verfolgende Personen führen, diese Listen untereinander austauschen und damit landesweit verbreiten (Auskunft vom 11. Juni 2003 - I 14). Damit bestand die Gefahr, dass die Beigeladenen auch an einem anderen Ort allein aufgrund ihrer Personaldaten als Feind der Paramilitärs hätten identifiziert werden können. Dies gilt insbesondere, wenn sie in ländliche Gegenden, die in besonderer Weise von den paramilitärischen Einheiten kontrolliert wurden, ausgewichen wären. Aber auch ein Umzug in eine andere Großstadt, wie Medellin oder Bogota, hätte ihnen keine hinreichende Sicherheit gebracht. Die paramilitärischen Verbände haben sich über die ländlichen Bereiche hinaus in die Großstädte ausgebreitet und hier Stadtmilizen und Informationsnetzwerke aufgebaut (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. Januar 2007- I 19, Hörtner, S. 144, 238 - III 2). Insbesondere von Medellin liegen Berichte über die Kontrolle einzelner Stadtviertel und wichtiger Positionen innerhalb der Stadtverwaltung durch paramilitärische Gruppen auch nach der offiziellen Demobilisierung (Hörtner, S. 238 f. - III 2; Beck, S. 85, 93 - III 3; Human Rights Watch, S. 5 - II 4) vor. Ähnliche Schilderungen finden sich für Bogota (Human Rights Watch, S. 19 - II 7). Die Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 23. und 24. Januar 2007 (I 18 und I 19), wonach selbst die demobilisierten paramilitärischen Kräfte bzw. deren Nachfolgeorganisationen landesweit tätig und aufgrund des ihnen zur Verfügung stehenden Informationsnetzes in der Lage sind, missliebige Personen überall in Kolumbien aufzuspüren, sprechen dafür, dass jedenfalls auffällig gewordene Personen landesweit mit Nachstellungen zu rechnen haben und hatten. Zu diesem Personenkreis zählten die Beigeladenen im Zeitpunkt ihrer Ausreise. Nimmt man hinzu, dass insbesondere die Hauptverbindungsstraßen in der Vergangenheit unsicher waren und praktisch alle Akteure des Konflikts in Kolumbien in der Vergangenheit Straßensperren eingerichtet hatten (Auskunft der Deutschen Botschaft in Bogota vom 10. März 2003 - I 16; Konrad-Adenauer-Stiftung, 22. Mai 2007, S. 7 - II 15; s. auch Jahresbericht 2007, Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien, S. 5 - II 17), kann von einer hinreichenden Sicherheit für Personen, die, wie die Beigeladenen, von den Paramilitärs als feindliche politische Akteure individuell bedroht worden sind, und deren Personalien den paramilitärischen Einheiten bekannt sind, nicht gesprochen werden. Dass den Beigeladenen nicht zugemutet werden konnte, Gebiete aufzusuchen, die von der FARC kontrolliert wurden, bedarf angesichts des Charakters dieser Guerillaorganisation, die ebenfalls für Entführungen, Ermordungen und Zwangsrekrutierungen verantwortlich gemacht wird und sich wesentlich aus dem Drogenhandel finanziert, keiner weiteren Darlegungen.

3. Die Anerkennung als Asylberechtigter setzt weiter voraus, dass dem Betroffenen bei einer Rückkehr in seinem Heimatland bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung im oben beschriebenen Sinne erneut droht, wobei die insoweit erforderliche Prognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat und auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1985 - 9 C 22.85 -, NVwZ 1986, 760). Für den Ehegatten und die minderjährigen Kinder eines politisch Verfolgten besteht dabei die Regelvermutung, dass sie in die asylerhebliche Verfolgung einbezogen werden (BVerwG, Urteil vom 26. April 1988 - 9 C 28.86 - BVerwGE 79, 24).

a) Der Demobilisierungsprozess der paramilitärischen Gruppen ist von Präsident Uribe im Jahre 2003 eingeleitet worden, nachdem der AUC im Dezember 2002 einen einseitigen Waffenstillstand verkündet hatte, der zu einer erkennbaren Reduzierung der Gewalt führte. Im Juni 2003 unterzeichneten Regierung und ein Großteil der Paramilitärs eine gemeinsame Erklärung, in der vereinbart wurde, die überwiegende Mehrheit der paramilitärischen Gruppen bis Ende 2005 zu demobilisieren und zu reintegrieren.

Mit der Demobilisierung der Paramilitärs ging zwar eine Stärkung der staatlichen Sicherheitskräfte und der staatlichen Institutionen und eine Verbesserung der Sicherheitslage im Land einher (Konrad-Adenauer-Stiftung, S. 2 - II 15; Beck, a.a.O., S. 99; NZZ vom 28. Februar 2008). Gleichzeitig wird die Demobilisierung zum Teil kritisiert und insbesondere eingewandt, dass eine echte Demobilisierung nicht stattgefunden habe. Es sei nur ein Teil der Waffen abgegeben worden, die große Zahl der offiziell Demobilisierten weise darauf hin, dass eigens hierfür Personen rekrutiert worden seien (Beck, a.a.O., S. 69 ff.). Die alten Strukturen und Verbindungen würden jedenfalls zum Teil verdeckt weiter existieren. Das ohnehin schwer eingrenzbare Phänomen des Paramilitarismus zeichne sich nunmehr durch einen hohen Grad der Zersplitterung und Undurchsichtigkeit aus. Die einzelnen Gruppen wiesen zunehmend mafiöse Strukturen auf, die politische Motivation habe an Gewicht verloren. Die weiter existierenden Verbände seien mehrfach in Subgruppen aufgeteilt, was die Präsenz in fast dem ganzen Land garantiere. Auch bei der "Organisation Neue Generation", bei der die Fortführung des Kampfes gegen die FARC und die ELN noch Motiv des Zusammenschlusses sei, spiele die Kontrolle des Drogenanbaus und des Drogenhandels die Hauptrolle. Die Unterscheidung zwischen paramilitärischen Gruppen und Kriminalität sei angesichts der Zersplitterung der Gruppen noch schwerer geworden als früher (Beck, S. 82 f. - III 3). Die Organisation Amerikanischer Staaten gibt die Zahl der neu gegründeten gewalttätigen Gruppen mit 22 an, die in 102 Gemeinden und 16 von 32 Provinzen aktiv sein sollen (Konrad-Adenauer-Stiftung, S. 12 - II 15; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. Januar 2007 (II 19): 23 Gruppen). Aber auch die Zahl von 36 und sogar von 76 Nachfolgegruppen wird genannt (Hanns-Seidel-Stiftung, - II 13; Nachweise bei Beck, S. 82 - III 3). Die Schätzungen der Zahl der neu Bewaffneten schwanken stark zwischen 3000 und 9000 Personen (KAS, a.a.O.; Auswärtiges Amt, Auskunft 23. Januar 2007 I 18).

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Aktionen der Paramilitärs nunmehr jeglichen politischen Bezug verloren hätten und eine Bedrohung durch sie in ihrer objektiven Gerichtetheit nicht mehr an asylrelevante Merkmale anknüpfen würde. Allein der Umstand, dass bei den paramilitärischen Einheiten das kriminelle Element in den Vordergrund gerückt ist, lässt eine solche allgemeine Schlussfolgerung nicht zu. Nach den übereinstimmenden aktuellen Berichten sind nach wie vor insbesondere gewerkschaftlich organisierte und politisch gegen die Interessen der Paramilitärs tätige Personen in Kolumbien gefährdet, Opfer von Bedrohungen und von Mordanschlägen zu werden.

Auch aus der Zeit nach Beginn des Demobilisierungsprozesses gibt es Berichte darüber, dass Paramilitärs Stadtviertel beherrschen (NZZ vom 6. Dezember 2005, Spiegel vom 16. September 2005; vgl. auch Hörtner, S. 232 f. - III 2) und aufgrund eines Informationsnetzes, das auch in Militär und Behörden reicht, landesweit Personen aufspüren können (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. Januar 2007, I 19). Hörtner (III 2, S. 298). Die Konrad-Adenauer-Stiftung (II 14, S. 3) berichtet, dass Paramilitärs im Zuge der Etablierung des Paramilitarismus als politische Bewegung auch nach der Demobilisierung mehrfach Drohungen gegen politische Gegner und Oppositionelle ausgesprochen haben. Beck kommt unter sorgfältiger Auswertung und Differenzierung der aktuellen Quellenlage (OAS, UNHCR, Ombudsmann) ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Paramilitärs weiterhin Gewalttaten begehen (S. 79 ff. - III 3).

Angesichts dieses Befunds stellt sich das Risiko der Beigeladenen, bei einer Rückkehr nach Kolumbien erneut Opfer politischer Verfolgung zu werden, nicht als ein nur theoretisches und damit unbeachtliches dar. Zwar ist nach der Überzeugung des Senats angesichts des Zeitablaufs und der nur niedrig profilierten Parteitätigkeit der Beigeladenen zu 1. und 2. nicht damit zu rechnen, dass die alten und neuen paramilitärischen Gruppen noch aktiv nach ihnen, besonders nach der Beigeladenen zu 2., suchen würden. Insoweit stellen sie eher die vom Auswärtigen Amt beschriebenen "kleinen Fische" dar. Etwas anderes kann hinsichtlich der Gefahrenlage jedoch schon dann gelten, wenn die Beigeladenen in ihren Heimatort zurückkehren. Hier leben noch die (Schwieger-) Eltern bzw. Großeltern der Beigeladenen. Die Familie ist dort bekannt, nicht zuletzt in tragischer Weise dadurch, dass zwei der Brüder der Beigeladenen zu 2. dort im Jahre 2005 auf offener Straße unter ungeklärten Umständen erschossen wurden. Nach einer aktuellen Auskunft des Auswärtigen Amtes steht fest, dass sich im Heimatdepartement der Beigeladenen eine neue paramilitärische Gruppierung gebildet hat, deren Wirkungskreis das Auswärtige Amt nicht eindeutig abschätzen kann (Auskunft vom 24. Januar 2007 - I 19). Aber nicht nur in ihrem Heimatort oder ihrer Heimatregion kann eine erneute Gefährdung nicht mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Dies gilt vielmehr landesweit jedenfalls dann, wenn sie sich nach einer Rückkehr erneut gemäß ihren politischen Überzeugungen engagieren und versuchen, auf andere Menschen im Sinne ihrer Vorstellungen Einfluss zu nehmen. Dass die Beigeladene zu 2. ihre politischen Überzeugungen aufgegeben hätte oder für sich jede weitere politische Betätigung auch in der Zukunft ausschließen würde, kann nicht festgestellt werden. Ihre Aussage in der mündlichen Verhandlung, sie habe keine Kraft mehr für irgend etwas zu kämpfen, war erkennbar durch die sie sehr belastende Situation in der mündlichen Verhandlung selbst und - wie der Hinweis auf die Angstattacken zeigt - die Erinnerung an die Vorkommnisse in der Vergangenheit in Kolumbien geprägt. Eine bewusste und dauerhafte Abkehr von ihren politischen Überzeugungen auch für den ihr gegenwärtig nicht vorstellbaren Fall einer Rückkehr nach Kolumbien lässt sich diesen Aussagen aber nicht entnehmen. Eine negative Wiederholungsprognose, dass sich aufgrund geänderter Umstände die Verfolgung, in die auch die Familienangehörigen erneut mit einbezogen werden (vgl. zur Regelvermutung BVerwG, Urteil vom 26. April 1988 - 9 C 28.86 - BVerwGE 79, 244), nicht wiederholen wird (hierzu BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97, 101), kann mithin nicht gestellt werden.

b) Der kolumbianische Staat muss sich die Bedrohungen durch die paramilitärischen Gruppen auch nach wie vor zurechnen lassen.

Die bis in die Gegenwart reichenden Verbindungen der paramilitärischen Gruppen mit staatlichen Stellen sind durch den bereits erwähnten so genannten Parapolitikskandal des Parlaments (siehe SZ vom 18. Mai 2007, NZZ vom 19. Februar 2007 und 19. Januar 2007) deutlich und öffentlich geworden. Die Ermittlungen insbesondere der Justiz belegen das bisher allenfalls vermutete Ausmaß der Beeinflussung der politisch-administrativen Ebene durch die paramilitärischen Kräfte. Gleichzeitig belegen diese Ermittlungen, dass gegen paramilitärische Gruppierungen und gegen Parlamentarier, die Verbindungen mit diesen haben oder hatten, vorgegangen wird.

Auf der anderen Seite zeigen die Erkenntnisse übereinstimmend auf, dass nach wie vor paramilitärische Strukturen existieren, diese in der Lage sind, lokal und regional Macht auszuüben und sie - worauf es in erster Linie ankommt - dabei nicht nur vereinzelt auf die stillschweigende oder verdeckte Unterstützung staatlicher Stellen rechnen dürfen. Nach den letzten Auskünften des Auswärtigen Amtes ist zu konstatieren, dass immer noch von einer umfangreichen, insbesondere flächendeckenden Zusammenarbeit von staatlichen Sicherheitskräften mit nichtstaatlichen paramilitärischen Verbänden ausgegangen werden muss. Das Auswärtige Amt bestätigt in seiner Auskunft vom 24. Januar 2007 (I 19), dass sich das Informationsnetz der Paramilitärs auch auf Militär und Behörden erstrecke und diese in der Lage seien, in allen Gebieten des Landes, auch in den Großstädten, wichtige Zielpersonen aufzuspüren und auszuschalten. Dies stimmt mit den jüngst aufgedeckten Fällen von Datenübermittlungen durch staatliche Spitzenbeamte an paramilitärische Organisationen überein. Nach dem vorliegenden, im Kern übereinstimmenden Zahlenmaterial, wonach trotz der Demobilisierung tausende Kolumbianer von paramilitärischen Kräften ermordet wurden und sich der Einfluss der verbliebenen oder neu gegründeten Gruppen nach wie vor über weite Teile des Staatsgebietes erstreckt und sie landesweit Aktionen durchführen können, kann auch nicht davon gesprochen werden, dass es sich nur um Schwierigkeiten bei der Eindämmung der Gewalt handelt, die keine Rückschlüsse auf die grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates zulassen würden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es die kolumbianische Regierung und Justiz zwar nicht nur bei einer rein verbalen Bekämpfung der Paramilitärs belassen, sondern - jedenfalls in Teilen - Anstrengungen unternehmen, den Einfluss dieser Gruppen zurückzudrängen. Andererseits kann angesichts der Tatsache, dass - anders als bei der FARC - die paramilitärischen Einheiten staatlicherseits zunächst gefördert und offen oder verdeckt unterstützt wurden, es mithin keine strenge Trennlinie zu den Paramilitärs gab, nicht übersehen werden, dass die Voraussetzungen für eine weiterexistierende Verquickung von staatlichen Stellen und paramilitärischen Gruppen bestehen - und eine solche auch weiterhin in nicht unerheblichem Umfang festgestellt werden muss, und zwar bis in hohe und höchste Regierungs- und Parlamentskreise hinein. Die nach wie vor bestehende Verquickung wird sehr deutlich vom kolumbianischen Verfassungsgericht benannt, das in seinem Urteil vom 11. Juli 2007 den Paramilitärs den Status als "Aufständische" abgesprochen hat mit dem bezeichnenden Argument, dass diese niemals gegen den Staat gehandelt hätten, sondern als dessen Komplize anzusehen seien (Beck, S. 63 - III 3). Im Ergebnis kann noch nicht eine grundsätzlich effektive und im Großen und Ganzen erfolgreiche Bekämpfung der paramilitärischen Gruppen festgestellt werden, die das Zusammenwirken von Amtsträgern mit den nichtstaatlichen Akteuren als nicht vermeidbare "Panne" oder Einzelfallphänomen erscheinen ließe.