OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Urteil vom 28.02.2008 - 2 KO 899/03 - asyl.net: M13816
https://www.asyl.net/rsdb/M13816
Leitsatz:

Armenische Volkszugehörige waren jedenfalls bis 2000 einer mittelbaren Gruppenverfolgung in Aserbaidschan ausgesetzt; Berg-Karabach als mögliche Fluchtalternative ist vom übrigen Aserbaidschan aus nicht erreichbar; Kinder einer sog. Mischehe mit armenischer Mutter und aserbaidschanischem Vater sind zwar offiziell aserbaidschanische Volkszugehörige, werden aber in der Lebenswirklichkeit als Armenier angesehen; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung von armenischen Volkszugehörigen; Berg-Karabach als inländische Fluchtalternative ist zwar von Deutschland aus erreichbar, einer realistische Chance zur Sicherung des Existenzminimums haben dort aber nur wohlhabende Personen oder Personen, die zusammen mit ihrer Großfamilie zurückkehren und über landwirtschaftliche Erfahrungen verfügen; interner Schutz gem. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie ist bei fehlender Erreichbarkeit nur dann nicht ausgeschlossen, wenn es sich um ausräumbare bzw. vorübergehende Hindernisse handelt.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Mischehen, Anerkennungsrichtlinie, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Schutzbereitschaft, Diskriminierung, Übergriffe, Verfolgungsdichte, interne Fluchtalternative, Erreichbarkeit, Berg-Karabach, Nachfluchtgründe, illegale Ausreise, Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitsrecht, Ausbürgerung, Verlust, Registrierung, Anmeldung, Abmeldung, Verfolgungssicherheit, Auswärtiges Amt, Lagebericht, Verfolgungshandlung, Kumulierung, Gebietsgewalt, Existenzminimum, Akademiker, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

Armenische Volkszugehörige waren jedenfalls bis 2000 einer mittelbaren Gruppenverfolgung in Aserbaidschan ausgesetzt; Berg-Karabach als mögliche Fluchtalternative ist vom übrigen Aserbaidschan aus nicht erreichbar; Kinder einer sog. Mischehe mit armenischer Mutter und aserbaidschanischem Vater sind zwar offiziell aserbaidschanische Volkszugehörige, werden aber in der Lebenswirklichkeit als Armenier angesehen; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung von armenischen Volkszugehörigen; Berg-Karabach als inländische Fluchtalternative ist zwar von Deutschland aus erreichbar, einer realistische Chance zur Sicherung des Existenzminimums haben dort aber nur wohlhabende Personen oder Personen, die zusammen mit ihrer Großfamilie zurückkehren und über landwirtschaftliche Erfahrungen verfügen; interner Schutz gem. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie ist bei fehlender Erreichbarkeit nur dann nicht ausgeschlossen, wenn es sich um ausräumbare bzw. vorübergehende Hindernisse handelt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufung des Beteiligten ist zulässig.

Die Berufung ist aber unbegründet.

1. In dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der abschließenden mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) können sich die Klägerinnen mit Erfolg auf ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Bezug auf die Republik Aserbaidschan berufen.

1.1 Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der an die Stelle des früheren § 51 Abs. 1 AuslG getreten ist, darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Die Beantwortung der Frage, welche Wahrscheinlichkeit die in § 60 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzte Gefahr aufweisen muss, hängt davon ab, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist. War er noch keiner asylrechtlich beachtlichen Bedrohung ausgesetzt, kommt es bei der anzustellenden Prognose darauf an, ob ihm bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles bei einer Rückkehr politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Wurde der Ausländer demgegenüber bereits im Herkunftsland politisch verfolgt, so greift zu seinen Gunsten ein herabgestufter Prognosemaßstab ein. Er muss vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. März 1981 - 9 C 237/80 - Juris, Rdnr. 13).

Der Senat geht davon aus, dass an diesen Grundsätzen auch angesichts der nunmehr in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG enthaltenen Verweisung auf Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304, S. 12 - nachfolgend QLR) grundsätzlich festzuhalten ist (so auch: Bayerischer VGH, Urteil vom 31. August 2007 - 11 B 02.31724 - Juris, Rdnr. 28 f.; Urteil vom 24. Oktober 2007 - 11 B 03.30710 - Juris, Rdnr. 19 sowie - für den allgemeinen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit - BVerwG, Urteil vom 12. Juni 2007 - 10 C 24/07 - Juris, Rdnr. 25).

1.3 Die Klägerinnen sind wegen ihrer Abstammung der Gruppe der in Aserbaidschan lebenden ethnischen Armenier zuzurechnen (1.3.1); diese Gruppe unterlag im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerinnen im Januar 2000 zwar keiner unmittelbaren (1.3.2), aber einer mittelbaren staatlichen Verfolgung (1.3.3), die objektiv an deren Volkszugehörigkeit anknüpfte.

1.3.1 Die Klägerin zu 1 entstammt einer Ehe zwischen einer armenischen Mutter und einem aserischen Vater (im Folgenden sog. Mischehe).

Zwischen der amtlichen Volkszugehörigkeit der Klägerinnen (1.3.1.1) und der Einordnung der Volkszugehörigkeit im gesellschaftlichen Umfeld in Aserbaidschan (1.3.1.2) ist zu differenzieren.

1.3.1.1 Die amtliche Volkszugehörigkeit leitet sich in Aserbaidschan bei Kindern aus amtlich registrierten Ehen vom Vater ab (Auskunft des Transkaukasus-Instituts vom 18. Oktober 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern; nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 8. Januar 1997 an das VG München ergibt sich die Volkszugehörigkeit aus einer Vereinbarung der Eltern, zumeist jedoch der Volkszugehörigkeit des Vaters).

Diese amtlich aserbaidschanische Volkszugehörigkeit schließt die Zuschreibung des Betreffenden als "Armenier" in der aserbaidschanischen Lebenswirklichkeit nicht aus. Dafür streiten sowohl die eigenen Angaben der Familienmitglieder in ihren Asylverfahren zur Diskriminierung als "Armenier" als auch die Erkenntnisse zum Konflikt zwischen den Volksgruppen der Aseris und der Armenier.

1.3.1.2 Die Klägerin zu 1 und auch ihre Geschwister haben in ihren Anhörungen jeweils als Ausreisegrund geltend gemacht, sie seien von ihrer Umgebung aufgrund der Abstammung von einer armenischen Mutter als Armenier(innen) eingeordnet worden.

Die Schilderungen der Klägerin zu 1 zu den Drangsalien im Heimatland sind für den Senat - vor dem Hintergrund der Angaben der Geschwister in deren Verfahren - glaubhaft und überzeugend. Die Angaben sind insbesondere frei von (nennenswerten) Widersprüchen und Übertreibungen bzw. Steigerungen. Die Darlegungen sind realistisch und "passen" in die dem Senat vorliegenden Schilderungen über die Situation der Armenier in Aserbaidschan seit dem beginnenden Zerfall der UdSSR Ende der achtziger Jahre.

Dass die Klägerin zu 1 die armenische Sprache nicht beherrscht, erscheint insoweit nicht ungewöhnlich.

Die Einordnung der Klägerinnen als armenisch durch die soziale Umgebung in Aserbaidschan wird von dem gesellschaftlichen Hintergrund getragen, der das Verhältnis der beiden Volksgruppen prägt.

Während die Volksgruppen der Aseri und der Armenier, insbesondere in der Zeit der Existenz der UdSSR, nebeneinander koexistierten und es auch zu zahlreichen familiären Verbindungen ("Mischehen") und Durchmischungen der beiden Ethnien sowohl in den Gebieten Armeniens als auch Aserbaidschans kam, endete diese Periode mit dem Zerfall der UdSSR und der Entstehung der eigenständigen Staaten Armenien und Aserbaidschan. Verstärkt durch den militärischen Konflikt um Berg-Karabach kam es bereits Anfang der neunziger Jahre zu einer weitgehenden gegenseitigen "ethnischen Säuberung" der beiden Länder mit der Konsequenz einer Massenausreise (oder auch -flucht) von Aserbaidschanern aus Armenien und der Region Berg-Karabach (einschließlich der umgebenden besetzten Gebiete) und von Armeniern aus Aserbaidschan.

In der Konsequenz dieser gegenseitigen Fluchtbewegungen lebten in Aserbaidschan (ausgenommen die Region Berg-Karabach) schon Mitte der neunziger Jahre kaum noch Armenier (so bereits die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 18. November 1993 an das VG Schleswig). In der Folge gab es spätestens dann praktisch nur zwei Gruppen von "Armeniern" in Aserbaidschan: einmal die mit einem Aseri verheirateten Personen, meist ältere, weibliche Armenierinnen und andererseits die Abkömmlinge aus aserisch-armenischen Mischehen (so schon der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. Oktober 1994, S. 4 f.; ebenso die späteren Lageberichte sowie etwa die Deutsch-Armenische Gesellschaft in ihrer Auskunft vom 7. Februar 1997 an das VG Ansbach und European Commission against Racism and Intolerance (ECRI) - Report on Azerbaijan - vom 15. April 2003; Anhang zur Stellungnahme von Dr. Savvidis vom 14. Dezember 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern).

Solche Personen, auch mit nur einem armenischen Elternteil, werden in der aserbaidschanischen Gesellschaft, wird die Herkunft er- bzw. bekannt, als "Armenier" von ihrer Umwelt aufgefasst.

1.3.2 Die Klägerinnen unterlagen als Angehörige der den armenischen Volkszugehörigen zugerechneten Personen zum Zeitpunkt ihrer Ausreise keiner unmittelbaren Gruppenverfolgung.

Insoweit gibt es keine hinreichend belegten Tatsachen für eine unmittelbare Gruppenverfolgung, wenn auch gewisse Tendenzen dafür streiten. Dies gilt etwa für den Vertreibungsdruck, der durch den Staat nicht unterbunden wird, und vor allem die verweigerte Wiederaufnahme erkannter armenischer Volkszugehöriger im Falle der Rückkehr nach früherer Ausreise (siehe dazu unten 1.6).

1.3.3 Jedenfalls waren die Klägerinnen vor der Ausreise Anfang 2000 einer mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt (so zugleich für Abkömmlinge einer sog. Mischehe: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. September 2001 - 6 A 11840/00 - Juris, Rdnr. 22 f., der Senat in seinem - insoweit rechtskräftigen - Urteil bezüglich des Bruders der Klägerin zu 1 vom 19. Mai 2005 - 2 KO 156/03 - [UA S. 9 ff.]; ebenso - allgemein für armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan - das grundlegende Urteil des Senats vom 26. August 2003 - 2 KO 155/03 - Juris, Rdnr. 51 ff. sowie OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 12. Dezember 2002 - 1 L 239/01 - Juris, Rdnr. 20; vgl. auch: Hessischer VGH, Beschluss vom 30. Mai 2003 - 3 UE 858/02.A - Juris, Rdnr. 24 und Beschluss vom 15. September 2005 - 3 UE 2381/04.A - Juris, Rdnr. 26, n. rkr.).

Danach ist festzustellen, die Verfolgung der armenischen Volkszugehörigen in Aserbaidschan im letzten Jahrzehnt dauerte noch im Jahr 2000 an; mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte den Klägerinnen deshalb mittelbare Gruppenverfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit noch vor der Ausreise im Januar 2000.

Legt man die vorstehenden Auskünfte zu Grunde, so ist festzustellen, dass die gegen die armenischen Volkszugehörigen gerichteten Maßnahmen nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgingen, was die Bewohner Aserbaidschans aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen hatten (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 - 9 C 321/85 - Juris, Rdnr. 7). Das von staatlichen Stellen geduldete Verhalten der aserbaidschanischen Bevölkerung gegenüber der armenischen Minderheit stellte eine Verfolgung dar. Die mehrheitliche Verweigerung von Wohnraum oder dessen "Wegnahme", der weitere Umstand, dass armenischen Volkszugehörigen in erheblichem Umfang, wenn nicht sogar gänzlich, eine ärztliche Versorgung verweigert wurde, sowie die Tatsache, dass sich weite Bevölkerungsteile schlicht weigerten, Armeniern Lebensmittel zu verkaufen, stellten Maßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben dieser Bevölkerungsgruppe dar. Dies galt auch für die Weigerung, ihnen Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen. Auch wenn letzteres Verhalten nicht durchgängig zu beobachten war, so stellt es dennoch eine asylrechtlich relevante Verfolgung dar. Es führte in der praktizierten und vom Staat geduldeten Form weitgehend zu einer Vernichtung der Existenzgrundlagen der armenischen Volkszugehörigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. März 1987, a.a.O.). Da diese Maßnahmen erkennbar an die Zugehörigkeit zur armenischen Minderheit anknüpften, stellten sie Verfolgungsmaßnahmen im Sinne einer politischen Verfolgung wegen der Nationalität dar.

Für dieses allgemeine Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmilieu und Übergriffsgeschehen in der Folge der pogromartigen Ausschreitungen und der massiven Abwanderung, dem die noch im Land verbliebene kleine Restgruppe von Armeniern und Personen mit armenischer Herkunft durch die Mehrheitsbevölkerung der Aserbaidschaner ganz allgemein ausgesetzt war, lassen sich angesichts der Größenverhältnisse quantifizierbar keine gesicherten Relationen mehr herstellen. Die Verfolgungsmaßnahmen Dritter haben keine Öffentlichkeit mehr erreicht, sodass nach Anzahl und Intensität eine Relation zwischen Restgruppe und der Bevölkerungsmehrheit gebildet werden könnte. Die erreichbaren und dargestellten Erkenntnisse vermitteln indessen in wertender Gesamtbetrachtung ein eindeutiges Bild: Angehörige der Restgruppe konnten ganz allgemein und jederzeit ohne Unterschied Opfer von Verfolgungsschlägen werden, sodass die Regelvermutung eigener Betroffenheit gerechtfertigt ist. Diese Verfolgung war dem Staat auch zurechenbar. Denn grundsätzlich obliegt es jedem Staat, allen seinen Staatsangehörigen ohne Ansehen der Person Schutz zu bieten, um eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen. Der aserbaidschanische Staat war, wie sich aus den oben dargestellten Auskünften ergibt, ersichtlich "schutzunwillig".

1.4 Die Klägerinnen verfügten zum Zeitpunkt ihrer Ausreise auch über keine inländische Fluchtalternative im Gebiet von Berg-Karabach.

Die Frage, ob der aserbaidschanische Staat über das unter armenischer Militärhoheit stehende Gebiet von Berg-Karabach Hoheitsgewalt ausüben konnte und ob eine solche inländische Ausweich- bzw. Zufluchtsmöglichkeit überhaupt in Betracht kam, kann der Senat an dieser Stelle offen lassen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes setzt das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative voraus, dass die betreffende Region für den Zuflucht Suchenden auch tatsächlich erreichbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 - 9 C 59/92 - Juris, Rdnr. 12). Ist der Ort der inländischen Fluchtalternative für den Verfolgten nicht erreichbar, besteht die Möglichkeit, durch ein Ausweichen in verfolgungsfreie Zonen der Verfolgung zu entgehen, nicht. Der Bedrohte ist in einem solchen Fall - trotz des nur regionalen Charakters der Verfolgung - auf ausländischen Schutz angewiesen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2001 - 9 C 16/00 - Juris, Rdnr. 10).

Daran hat sich durch Art. 8 Abs. 3 QRL (i. V. m. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG) nichts geändert. Danach schließen praktische Hindernisse eine Anwendung der Regelungen über den internen Schutz (Art. 8 Abs. 1 QRL) nicht aus. Die Gesetzesmaterialien sprechen diesbezüglich etwa von fehlenden Verkehrsverbindungen (vgl. die BR-Drs. 224/07 S. 327; ebenso die Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der QRL vom 13. Oktober 2006). Dabei muss es sich um ausräumbare (vgl. Lehmann, NVwZ 2007, 508, 512) bzw. vorübergehende Hindernisse handeln (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 16. Mai 2007 - 3 L 54/03 - Juris, UA S. 24; Marx, a. a. O., § 14 Rdnr. 15). Diesbezüglich erscheint insbesondere der Hinweis von Marx (a.a.O.) auf den in der englischen Version des Art. 8 Abs. 3 QRL verwendeten Begriff der "technical obstacles" überzeugend.

Das ist hier nicht der Fall.

Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerinnen konnte man von Aserbaidschan aus in die Region von Berg-Karabach nur durch die streng bewachten feindlichen Linien der an der Auseinandersetzung beteiligten Militärs gelangen; damit war eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben verbunden. Dementsprechend ging auch das Auswärtige Amt noch in seinem Lagebericht vom 13. April 1999 (S. 6) davon aus, dass dem betroffenen Personenkreis eine inländische Fluchtalternative nicht zur Verfügung stehe (so auch Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17. Februar 1998, S. 5).

Dass die Einreise in das Gebiet von Berg-Karabach etwa gefahrlos über Armenien oder gegebenenfalls andere angrenzende Staaten möglich war, rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise. Denn diese Möglichkeit eröffnete für die Klägerinnen keine Fluchtalternative ohne ausländischen Schutz. Die notwendige Inanspruchnahme der Hilfe eines fremden Staats, um hinreichende Verfolgungssicherheit zu erlangen, lässt das Asyl- bzw. Abschiebungsschutzrecht nicht wegen seiner Subsidiarität entfallen. Dies gilt erst recht für die ethnischen Armenier unter bestimmten Voraussetzungen offen stehende Alternative, in die Republik Armenien überzusiedeln. Damit hätten die Klägerinnen in einem anderen Staat als ihrem Heimatstaat Zuflucht gesucht (vgl. hierzu auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. September 2001, a.a.O., Rdnr. 29).

Die Klägerinnen sind deshalb verfolgungsbedingt wegen mittelbarer Gruppenverfolgung ausgereist.

1.5 Auf subjektive Nachfluchtgründe können sie sich nicht berufen.

Eine etwaige illegale Ausreise der Klägerinnen aus Aserbaidschan führt ebenfalls nicht zu einer Gefährdung. Nach dem am 1. September 2000 in Kraft getretenen neuen Strafgesetz ist die Flucht eines aserbaidschanischen Staatsangehörigen aus seinem Heimatland oder ein Auslandsaufenthalt nicht mehr unter Strafe gestellt (vgl. die Stellungnahme von amnesty international vom 29. April 2002 an das VG Berlin, S. 5).

1.6 Eine politische Verfolgung durch Entziehung der Staatsangehörigkeit bzw. die staatlich verweigerte Wiedereinreise (als objektive Nachfluchtgründe) erscheinen - auf den Einzelfall der Klägerinnen bezogen - nicht überwiegend wahrscheinlich. Die Aberkennung der Staatsangehörigkeit selbst würdigt der Senat nach den Gesamtumständen im Herkunftsland ebenso wie die neuere Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu Aserbaidschan als Akt politischer Verfolgung (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 25. Januar 2007 - 9 B 05.30531 - Juris, Rdnr. 26 und OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 16. Mai 2007, a.a.O.). Entsprechende Feststellungen lassen sich für die Klägerinnen indessen nicht treffen.

Die Klägerinnen, die bei In-Kraft-Treten des neuen aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 1998 in Aserbaidschan lebten, dürften wohl noch aserbaidschanische Staatsangehörige sein.

Es ist zwar weitgehende Praxis in Aserbaidschan, Personen, die am Stichtag 1. Oktober 1998 im Ausland lebten, aus den Melderegistern zu streichen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Mai 2007, S. 19). Außerdem sollen Personen, die sich langfristig im Ausland aufhalten, aus den Melderegistern gelöscht werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 2. April 2007 an das VG Münster). Diese Streichung führt aber nach der aserbaidschanischen Praxis nicht zwingend zum Verlust der Staatsangehörigkeit; so werden die etwa zwei Millionen in Russland lebenden Aseris weiterhin als Staatsangehörige angesehen und erhalten von Konsulaten in Russland auch aserbaidschanische Pässe. Bezüglich amtlich armenischer Volkszugehöriger wird die Streichung im Melderegister, insbesondere nach der Stichtagsregelung, andererseits als Verlusttatbestand für die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit gehandhabt (siehe nochmals den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Mai 2007, a.a.O.). Daneben gab es wohl - unabhängig vom dem Stichtag - willkürliche und unsystematische "Säuberungswellen" in den Melderegistern, auch schon vor 1998 zu (amtlich) armenischen Volkszugehörigen bzw. zu Personen mit armenisch klingenden Namen (vgl. die Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 12. Dezember 2005 an das VG Schleswig und vom 25. November 2005 an das VG Osnabrück). Dementsprechend konnten nach der erwähnten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 2. April 2007 armenische Volkszugehörige in der Vergangenheit oft (noch zu > 50 %) im Geburtsregister aufgefunden werden, nicht jedoch im Personenregister. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass es Intention des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1998 war, nicht mehr in Aserbaidschan lebende armenische Volkszugehörige aus der Staatsangehörigkeit zu "entlassen" (so die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 29. August 2005 an das OVG Hamburg). Auch das Transkaukasus-Institut geht in seinem Gutachten vom 28. März 2007 (an das VG Braunschweig, S. 5) davon aus, dass das Staatsangehörigkeitsgesetz 1998 de jure zwar nicht zu einem Verlust der Staatsangehörigkeit bei einer Ausreise geführt hat, sich bezüglich (amtlich) armenischer Volkszugehöriger eine gegenteilige Praxis aber ausnahmslos durchgesetzt hat. Auch Dr. Savvidis (Gutachten vom 14. Dezember 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 6) nimmt an, das Staatsbürgerschaftsgesetz 1998 sei so formuliert, dass vor allem die armenischen Volkszugehörigen, die in der Hauptfluchtwelle 1988 bis 1994 Aserbaidschan verlassen hatten, keine Chance haben, die Staatsangehörigkeit zu erwerben; es handele sich de facto um eine Ausbürgerung auf kaltem Wege. Eine Rücknahme dieser dadurch staatenlosen armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan lehne der Staat Aserbaidschan ab; er verweigere (amtlich) armenischen Volkszugehörigen ausnahmslos die Wiedereinreise (siehe das Gutachten des Transkaukasus-Instituts vom 16. April 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 3). Das Transkaukasus-Institut berichtet in dem zitierten Gutachten von dem Fall einer armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan, die nach längerem Bemühen aus dem Ausland heraus zwar (ausnahmsweise) die Bestätigung der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit erhalten habe, der aber eine Einreise oder ein Reisepass gleichwohl verweigert wurden.

Über armenische Volkszugehörige, die (wie die Klägerinnen) erst nach 1998 ausgereist sind, liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor (vgl. Dr. Savvidis, a.a.O., S. 3). Bei deren Abwehr durch den aserbaidschanischen Staat - mit unterschiedlichen Argumentationen insbesondere zur Konsequenz der Stichtagsregelung - wird nach den Erfahrungen des Transkaukasus-Instituts immer an die amtliche Volkszugehörigkeit angeknüpft, allenfalls aserische Volkszugehörige im Familienverbund mit einem armenischen Volkszugehörigen würden mit "abgeblockt" (siehe das Gutachten vom 17. Juli 2006 an das VG Ansbach, S. 25). Dementsprechend sei eine Abmeldung eines (amtlichen) Aserbaidschaners bzw. die Nichtanerkennung seiner aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit allein wegen einer armenischen Mutter (dem entspricht die Situation der Klägerin zu 1) dem Transkaukasus-Institut nicht bekannt (siehe das Gutachten vom 6. Oktober 2005 an das VG Ansbach, S. 9).

1.7 Im Falle der Rückkehr nach Aserbaidschan sind die Klägerinnen derzeit und für die überschaubare Zukunft jedenfalls nicht hinreichend sicher vor einer mittelbaren (nichtstaatlichen) Verfolgung, weil sie in Aserbaidschan der Ethnie der Armenier zugerechnet werden.

1.7.1 Eine unmittelbare Gruppenverfolgung scheidet aus. Allein die Duldung von Übergriffen der Bevölkerung oder von Schikanen (etc.) durch untere, lokale Behörden reicht dafür nicht aus (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 7. Mai 2004 - 9 B 01.31154 - Juris, Rdnr. 28).

1.7.2 Der Senat geht angesichts der ihm inzwischen vorliegenden weiteren Erkenntnisse über Aserbaidschan in Fortentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung nun davon aus, dass eine Reihe von Tatsachen für ein sich fortsetzendes, diskriminierendes Handeln von wesentlichen Teilen der Bevölkerungsmehrheit sprechen, die sich gegen die wenigen noch im Land verbliebenen Personen mit armenischem Hintergrund richten. Folglich wird auch ein definierter Endzeitpunkt Ende 1999 bzw. Anfang 2000 nicht mehr aufrechterhalten werden können, von dem an eine mittelbare Gruppenverfolgung aserbaidschanischer Staatsangehöriger mit armenischer Volkszugehörigkeit auszuschließen ist (vgl. Urteile vom 26. August 2003 - 2 KO 155/03 -, a. a. O., Rdnr. 77 ff. und vom 18. Mai 2005 - 2 KO 1076/03 - Juris). Inzwischen hat sich die obergerichtliche Rechtsprechung ebenso weiter entwickelt. So nimmt etwa das OVG Schleswig-Holstein an, in Aserbaidschan verbliebene armenische Volkszugehörige müssten immer noch zahlreiche Nachteile erleiden, sodass Rückkehrer nicht hinreichend sicher wären, falls ihnen überhaupt die Rückkehr gelingen sollte (vgl. Beschluss vom 31. Mai 2007 - 1 LB 8/07 - Juris). Das OVG Mecklenburg-Vorpommern hingegen lässt zwar nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnisse offen, ob für Personen mit armenischer Abstammung im Hinblick auf Eingriffsintensität, dem Bezug zur Ethnie und nicht zuletzt wegen der notwendigen Verfolgungsdichte die Voraussetzungen für eine mittelbare Gruppenverfolgung vorliegen, greift aber ebenso die inzwischen eingetretene Entwicklung auf (Urteil vom 16. Mai 2007 - 3 L 54/03 -).

Für den hier zu entscheidenden Fall bedarf es einer abschließenden Festlegung nicht; jedenfalls reichen die Erkenntnisse zum Gruppenverfolgungsgeschehen aus, um die Annahme fehlender Verfolgungssicherheit für die Klägerinnen zu rechtfertigen, die die Entscheidung trägt (vgl. unten 1.7.3).

Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Aserbaidschan vom 16. März 2000 (S. 6) wird ausgeführt, Personen armenischer Abstammung würden de facto noch vielfach schlechter behandelt als andere Personengruppen. Staatliche Stellen griffen auch, von Ausnahmen abgesehen, nicht gegen solche Übergriffe ein.

Die Bezeichnung als "Armenier" gilt in Aserbaidschan als Beleidigung (siehe die Zusammenstellungen von accord vom 9. Februar 2006 und vom 11. August 2006). Auch bei Angriffen auf Personen des öffentlichen Lebens in den Massenmedien (Zeitungen, Radio, Fernsehen) wird nach dem Bericht des US Department of State (Azerbaijan Country Reports on Human Rights Practises - 2004 vom 28. Februar 2005) durchaus auf ihren armenischen Hintergrund hingewiesen (ebenso das Transkaukasus-Institut in seinem Gutachten vom 2. Juni 2003 an das VG Ansbach, S. 3). In diesem Gutachten (a.a.O.) wird erwähnt, dass gerade weite Teile der Sicherheitskräfte offen und "von Herzen" - vielfach aufgrund von Erfahrungen im Berg-Karabach-Krieg - antiarmenisch seien.

Der Konflikt ist immer noch ungelöst. Aserbaidschan hat die aus den besetzten Gebieten geflohenen Aserbaidschaner - im Gegensatz zu den aus Armenien geflohenen Aseris - nicht integriert.

Die offizielle Anwesenheit von Armeniern in Aserbaidschan, speziell in Baku, führt zu heftigen Reaktionen, so dass teilweise schon von einer "Armenophobie" in Aserbaidschan gesprochen wird (vgl. nochmals die Zusammenstellung von accord vom 11. August 2006).

Das US Department of State berichtet in seinem letzten Menschenrechts-Länderreport (Country Reports on Human Rights Practises - 2006 vom 6. März 2007) über Diskriminierungen armenischer Volkszugehöriger in Aserbaidschan in zahlreichen Lebensbereichen ("Some of the approximately 20,000 citiziens … have complained of discrimination …") wie Beschäftigung, Schule, Unterkunft.

Die Registrierung bzw. Übertragung von Grund- bzw. Wohnungseigentum ist für (erkannte) armenische Volkszugehörige wohl praktisch unmöglich. Ihnen ist es verwehrt, ihrem (legalen) Erbrecht Geltung zu verschaffen und etwa Immobilien auf sich umregistrieren zu lassen (so das Transkaukasus-Institut in seinem Gutachten vom 20. März 2007 an das VG Schleswig, S. 9); die Bediensteten der staatlichen Notariate sollen sich dabei regelmäßig gesetzeswidrig verhalten und allenfalls auf die Verschaffung eigener Vorteile bedacht sein. Beispielhaft wird in dem oben erwähnten Gutachten des Transkaukasus-Instituts (vom 2. Juni 2003) erwähnt, dass der frühere Bürgermeister von Baku (bis Oktober 2000, verheiratet mit einer Armenierin) vergeblich versucht habe, ruhende armenische Immobilienrechte zu schützen.

Auch das Auswärtige Amt hält es für möglich, dass jemand aufgrund seiner armenischen Volkszugehörigkeit (kurzfristig) inhaftiert, "enteignet" (in Form der Verweigerung der Umschreibung des geerbten Hauses) und zur Ausreise aufgefordert wird (Auskunft vom 17. Juli 2003 an das VG Ansbach unter Nr. 1 f + g). Dies wird ebenso im Gutachten von Dr. Savvidis (vom 15. Juli 2003 an das VG Ansbach, S. 1 bis 8) angenommen; dort wird ein solches Vorgehen gegen einen Abkömmling aus einer Mischehe als wahrscheinlich und als einer von zahlreichen Fällen beurteilt. Bei einer Rückkehr der betreffenden Person nach Aserbaidschan gehen die von Dr. Savvidis (a.a.O.) befragten Personen (frühere Bewohner von Aserbaidschan) von einer hohen Wahrscheinlichkeit von Übergriffen eher seitens der Bevölkerung, aber unter Duldung staatlicher Stellen, aus.

Ergänzend ist auf den in allen Auskunftsquellen vermeldeten Zwang zur Assimilation, zum Verstecken und zur Anpassung auch des Namens von armenischen Volkszugehörigen hinzuweisen.

Soweit vereinzelt davon die Rede ist, dass es wohl weiter auch Abkömmlinge aus Mischehen gebe, die in Regierungskreisen arbeiten (siehe den Bericht des US Department of State vom 28. Februar 2005), und Armenier (als solche) in Fernsehsendungen in Interviews aufträten, soll es sich um eine Art "Vorzeige-Armenier" des Regimes handeln (siehe auch hierzu das Gutachten des Transkaukasus-Instituts vom 18. Oktober 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 2 sowie den Bericht im Gutachten des Transkaukasus-Instituts vom 16. April 2005 an das gleiche Gericht, S. 10 [z. B. über die Sendung in Azad TV am 23. Juli 2005]). Das Bild einer vielfältig diskriminierten Minderheit kann dadurch nicht entscheidend in Frage gestellt werden.

Bei einer Gesamtschau spricht mehr dafür, dass hinsichtlich der Verfolgung von armenischen Volkszugehörigen und von Personen mit armenischem Hintergrund auch in der Zeit nach der Jahrtausendwende, mithin nach der Ausreise der Klägerinnen, kein grundsätzlicher Wandel festzustellen ist. Die massive Abwanderung und Flucht während und nach dem Ende der kriegerischen Konflikte um die Region Berg-Karabach hat sich weiter fortgesetzt. Daraus ergeben sich zugleich Folgerungen für die notwendige Relationsbetrachtung zur Häufung der Verfolgungshandlungen, wenn schon für das Jahr 2000 die noch verbliebene Restbevölkerung mit armenischer Abstammung nur noch 10.000 bis 30.000 Personen in Aserbaidschan betragen haben soll.

Gewichtige Tatsachen, die für eine Reduzierung der Gefährdung von armenischen Volkszugehörigen ab dem Jahr 2000 in Aserbaidschan angeführt werden können, werden nicht erkennbar. Das Auswärtige Amt äußert sich zwar zum Gefährdungsgrad eher zurückhaltend (vgl. etwa Frage Nr. 3 in dem Schreiben des VG Ansbach vom 12. Mai 2003 und die Antwort des Auswärtigen Amtes in der Auskunft vom 17. Juli 2003). Der Rückgang von Beschwerden armenischer Volkszugehöriger werde von Menschenrechtsorganisationen in Aserbaidschan so beschrieben: bis 2000 noch 20 bis 30 pro Jahr; 2001 nur noch 5 bis 16, zumal nur in Alltagsproblemen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Juni 2002 an das VG Wiesbaden). Stellte man auf diesen Rückgang ab, der auch nur ein Jahr betrifft, wären Übergriffe nur noch ein Randproblem. Die demografische Entwicklung, die Zusammensetzung der Restgruppe der armenischen Volkszugehörigen und die zugemutete Existenz quasi unter Verleugnung der Abstammung erklären indessen das zurückgehende öffentliche Erscheinungsbild. Weiterhin wandern Personen mit armenischem Hintergrund (d.h. insbesondere von Abkömmlingen aus Mischehen) aus. Das US Department of State (Azerbaijan Country Reports on Human Rights Practises - 2004 vom 28. Februar 2005) berichtet von 200 bis 250 Auswanderungen im Jahr. Es kommt die im bereits zitierten Gutachten von Dr. Savvidis (vom 14. Dezember 2005) wiedergegebene Überzeugung beider Volksgruppen (Aseris wie Armenier) hinzu, dass letztere keine Zukunft in Aserbaidschan habe. Die den Hauptteil der armenischen Volkszugehörigen ausmachende Gruppe der verheirateten älteren Frauen (s. o. unter 1.3.1.2) verringert sich aufgrund der Mortalität zudem ebenfalls immer weiter. Auf die fortdauernde Reduzierung des armenischen Bevölkerungsanteils durch einerseits Auswanderung und andererseits Versterben macht auch das Transkaukasus-Institut in seinem Gutachten vom 18. Oktober 2005 (an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, dort S. 2) aufmerksam.

Diese Entwicklung liegt im Interesse des Staates Aserbaidschan, dem ersichtlich an einer Reduzierung des armenischen Bevölkerungsanteils auf "Null" gelegen ist. Dies zeigt sich nicht nur in der Duldung von Übergriffen auf armenische Volkszugehörige, sondern gerade in der verweigerten Wiedereinreise von amtlich erkannten Armeniern sowie der Praxis, Personen in den Melderegistern zu streichen und armenischen Volkszugehörigen die Staatsangehörigkeit abzuerkennen (vgl. oben 1.6).

Im Ergebnis streitet für den Rückgang der Diskriminierungen im Alltag mithin, dass immer weniger armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan leben und dass es sich nun nahezu ausschließlich um versteckt lebende Ehefrauen bzw. Abkömmlinge aus Mischehen handelt, die im normalen Leben oft - auch gerade gegenüber den vom Transkaukasus-Institut in den Vordergrund gestellten "gefährlichen" Bevölkerungsgruppen - als Aseri "durchgehen". Speziell die vom Auswärtigen Amt als Hauptgruppe der im Lande verbliebenen armenischen Volkszugehörigen angenommenen älteren Ehefrauen wird nach außen kaum in Erscheinung treten und mag ggf. durch das sie umgebende aserische Beziehungsgeflecht ("Netzwerk") geschützt sein.

Kommt es entscheidend auf dieses Abdrängen aus dem gesellschaftlichen Leben in eine verdeckte Existenz an und kann die Gruppe der Personen mit - noch - armenischer Herkunft nicht mehr als ca. 20.000 Bewohner betreffen, hat darauf die wertende Betrachtung der Verfolgungsdichte unter Wahrung des abstrakten Maßstabs Rücksicht zu nehmen.

Die wenigen Menschen mit armenischem Hintergrund, die noch in Aserbaidschan verblieben sind, werden in der Öffentlichkeit praktisch nicht mehr wirksam.

Die diskriminierenden Akte gegenüber armenischen Volkszugehörigen sind auch als politische Verfolgung einzustufen. Dies gilt ohne weiteres für die genannten staatlichen Maßnahmen. Nicht anders ist dies für direkte psychische oder physische Angriffe (Nötigungen oder Körperverletzungen und mehr) zu beurteilen, insbesondere durch Vertriebene oder Veteranen, die die armenische Volkszugehörigkeit erkennen (Transkaukasus-Institut vom 6. Juni 2003 an das VG Ansbach, S. 8; Dr. Savvidis im Gutachten vom 15. Juli 2003 zu Drangsalien bei den befragten Personen). Die Eingriffe sind primär wohl eher wirtschaftlicher Natur, können sich aber etwa bei dem Zugang zu medizinischen Leistungen nur gegen erhöhtes Entgelt oder auch dem verweigerten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen (Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 8. Juni 2006 unter Nr. 6) ebenfalls auf das Leben oder die Gesundheit auswirken. Entscheidend ist, dass die Diskriminierungen die Schwelle einer bloßen Beeinträchtigung überschreiten, weil sie nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und damit über das hinausgehen, was die Menschen in Aserbaidschan aufgrund des dortigen Systems allgemein hinzunehmen haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80, 1 BvR 181/80, 1 BvR 182/80 - Juris, Rdnr. 46). Beides ist bei einer realistischen Gefahr, keine Wohnung und allenfalls nur eine "illegale" Arbeit (s. o.) zu finden, zu bejahen. Beeinträchtigungen der beruflichen Betätigung wirken dann Schutz begründend, wenn die wirtschaftliche Existenz bedroht und damit jenes Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist, was ein menschenwürdiges Dasein erst ausmacht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1987 - 9 C 42/87 - Juris, Rdnr. 12).

Selbst von einer Vielzahl diskriminierender Nadelstiche, die die asylrechtliche Relevanz nicht erreiche (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. April 1995 - 9 B 758/94 - Juris, Rdnr. 3) ließe sich nicht mehr sprechen. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b QRL (i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG) liegt eine Verfolgung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie bei einer "klassischen" Verfolgungshandlung (definiert in Art. 9 Abs. 1 Buchstabe a QRL). Bestimmte Maßnahmen, die für sich genommen nicht als asylerheblich erscheinen (wie sie etwa für die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung behördlicher Anliegen in Aserbaidschan dokumentiert sind), dürfen nicht vorschnell ausgeklammert werden (Marx, a.a.O., Rdnr. 7; ähnlich aber auch schon BVerfG, [Kammer-] Beschluss vom 28. Januar 1993 - 2 BvR 1803/92 - Juris, Rdnr. 26).

1.8 Eine inländische Fluchtalternative in der Region von Berg-Karabach besteht für die Klägerinnen im Falle ihrer Rückkehr nach Aserbaidschan im Ergebnis nicht.

1.8.1 Eine Fluchtalternative kann in einem solchen Gebiet des Herkunftslandes bestehen, in dem (erneute) politische Verfolgung durch denselben Verfolger regelmäßig nicht stattfindet. Der Betroffene muss auf absehbare Zeit verfolgungsfrei dort leben können (vgl. hierzu schon die Ausführungen oben zu 1.4). Dies gilt nicht nur innerhalb eines Staates, sondern auch für solche Regionen des Staatsgebietes, in denen er seine wirksame Gebietshoheit und Verfolgungsmacht, sei es infolge eines Bürgerkrieges oder sei es wegen des Eingreifens fremder Mächte, vorübergehend eingebüßt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember1998 - 9 C 17/98 - Juris, Rdnr. 14). Die für eine so genannte inländische Fluchtalternative aufgestellten Grundsätze gelten allerdings dann nicht mehr, wenn der (Verfolgungs-) Staat in der als Alternative in Betracht gezogenen Region auf Dauer die Gebietsherrschaft verloren hat; dann wird dieses Gebiet asylrechtlich zum Ausland (vgl. zu der insoweit ähnlich gelagerten Problematik im Nordirak: BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998, a.a.O.).

Gemessen daran gehört das Gebiet von Berg-Karabach völkerrechtlich zum Territorium der Republik Aserbaidschan. Es handelt sich um eine Region, die zwar von der dort lebenden armenischen Bevölkerungsmehrheit im Dezember 1991 für unabhängig erklärt wurde. Dieser Schritt wurde jedoch weder von der Aserbaidschanischen Republik noch von anderen Staaten, selbst von Armenien, zu irgendeinem Zeitpunkt anerkannt. Es handelt sich bei Berg-Karabach mithin nicht um einen eigenen Staat (so auch die übereinstimmende Rechtsprechung: vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 28. August 2006 - 6 A 10813/06 - Juris, Rdnr. 4; Bayerischer VGH, Urteil vom 25. Januar 2007, a.a.O., Rdnr. 22; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 16. Mai 2007, a.a.O.).

1.9 Die Frage, ob Berg-Karabach für Asylbewerber in Deutschland auf zumutbare Art und Weise tatsächlich erreichbar ist, ist nach Auffassung des Senats dagegen grundsätzlich (weiterhin) zu bejahen.

Die Einreisemöglichkeit nach Berg-Karabach wird allerdings vom Bayerischen VGH (Urteil vom 4. August 2006, a. a. O.; Urteil vom 25. Januar 2007, a.a.O., Rdnr. 31 ff.; Beschluss vom 21. Juli 2007 - 9 B 05.30123 - Juris) und vom OVG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 9. März 2006, a. a. O., Rdnr. 63; Urteil vom 16. Mai 2007, a. a. O.) letztlich verneint, während der Hessische VGH sie noch im Urteil vom 15. September 2005 - 3 UE 2381/04.A - Juris, Rdnr. 27 f. [n. rkr.], bejaht hat.

Die Annahme, der "Staat" Berg-Karabach sei an einer Einreise der betreffenden Asylbewerber nicht interessiert (sondern nur an Investoren und sog. Wehrbauern), erscheint dem Senat angesichts der Auskunftslage nicht hinreichend untermauert.

Die weitere Annahme, dass Berg-Karabach nur über eine Asylantragstellung in Armenien erreichbar sei, berücksichtigt nicht ausreichend die Auskunftslage, wie sie das Auswärtige Amt für Einreisepapiere durch den "Staat" Berg-Karabach über die armenische Botschaft in Berlin vermittelt.

1.10 Auch bei einer erreichbaren Rückkehr nach Berg-Karabach drohen den Klägerinnen dort Gefahren bzw. Nachteile, die zum Ausschluss dieses Gebietes als inländische Fluchtalternative führen.

In einem verfolgungsfreien Gebiet darf der Zufluchtsuchende nicht durch andere Nachteile und Gefahren, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, in eine für ihn ausweglose Lage geraten, soweit diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort nicht ebenfalls besteht (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, a.a.O., Rdnr. 66). Diese Einschränkung kann aber angesichts der nunmehrigen Regelung durch Art. 8 Abs. 2 QRL (i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG) nicht mehr aufrechterhalten werden. Nach dieser Vorschrift sind bei der Prüfung des internen Schutzes in einem Teil des Herkunftslandes (das entspricht der in der Rechtsprechung entwickelten Rechtsfigur der inländischen Fluchtalternative) nach Art. 8 Abs. 1 QRL die dortigen allgemeinen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Damit scheidet eine alternative Betrachtung der Situation im Rest des Heimatlandes aus (ebenso: Bayerischer VGH, Urteil vom 31. August 2007, a.a.O., Rdnr. 130 unter Hinweis auf Lehmann, NVwZ 2007, 508, 514 f.; anders: Hessischer VGH, Urteil vom 15. September 2005, a.a.O.); davon gehen auch die Gesetzgebungsmaterialien zur Einbeziehung des Art. 8 QRL durch § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG aus (siehe BR-Drs. 224/07, S. 327).

1.10.1 Ob den Klägerinnen davon ausgehend in der Region von Berg-Karabach bereits politische Verfolgungsmaßnahmen durch die dortigen berg-karabachischen "staatsähnlichen Selbstverwaltungsorgane" und/oder der ansässigen Bevölkerung drohen, kann gleichfalls offen gelassen werden.

1.10.2 In der Region von Berg-Karabach droht den Klägerinnen aber jedenfalls die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Der Senat ist überzeugt davon, dass sie dort wirtschaftlich nicht existieren können. Wie sich aus Art. 8 Abs. 2 QRL (i. V. m. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG) ergibt, sind zusätzlich die persönlichen Umstände der Klägerinnen zu berücksichtigen. Die für die inländische Fluchtalternative auf eine eher generelle Betrachtung abstellende bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (etwa im Urteil vom 15. Juli 1997 - 9 C 2/97 - Juris, Rdnr. 11) kann deshalb für die Prüfung des internen Schutzes nach Art. 8 Abs. 1 QRL nicht mehr allein maßgebend sein (vgl. Marx, a.a.O., § 14 Rdnr. 57 f.). Zu diesen individuellen Umständen der Klägerin zu 1 gehören ihre persönliche Biografie und das bisherige Lebensumfeld nahezu ausschließlich in der Landeshauptstadt Baku, einer Millionenstadt. Die Klägerin zu 1 hat eine akademische Ausbildung als Geophysikerin und war - bis zu der von der Schwiegermutter erreichten Kündigung - an einem wissenschaftlichen Institut tätig; danach hatte sie bis zur Ausreise eine Bürotätigkeit. Sie hat zugleich eine akademisch geprägte Familiengeschichte. Die Klägerin zu 2 hat als Kind in Aserbaidschan nur in Baku gelebt und dann nahezu die Hälfte ihres Lebens in Deutschland.

Diese Lebensweise, das akademisch geprägte familiäre Umfeld und auch die bisherige berufliche Tätigkeit in Aserbaidschan (der Klägerin zu 1) verweisen nicht auf Fähigkeiten, die für ein wirtschaftliches Überleben in Berg-Karabach unverzichtbar notwendig sind, weil eine Existenz allenfalls in der Landwirtschaft erreichbar erscheint.

Zwar zeichnet das Auswärtige Amt ein recht positives Bild der wirtschaftlichen Lage in Berg-Karabach.

Die Verwertbarkeit dieser Auskünfte des Auswärtigen Amtes wird aber eingeschränkt durch dessen fehlende Möglichkeit der Recherche vor Ort. Weder Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Baku/Aserbaidschan noch Mitarbeiter der Botschaft in Armenien in Eriwan können/dürfen Berg-Karabach bereisen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 18. November 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, dort unter Nr. 14). Die dem Gericht aus den sonstigen Auskunftsquellen zur Verfügung stehenden Informationen bestätigen zwar in Teilen die Feststellungen des Auswärtigen Amtes, zeichnen aber eine andere Lage zu einer erreichbaren wirtschaftlichen Existenz.

Nach den Ausführungen im Gutachten von Dr. Savvidis (Stellungnahme vom 14. Dezember 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern) leben 50 % der Bevölkerung in Berg-Karabach in "sehr schwierigen sozialen Verhältnissen" (Zitat des "Sozialministers" von Berg-Karabach).

Angesichts dieses Gesamtbildes hätte wohl nur eine wohlhabende Person oder ein zusammen mit seiner Großfamilie sich in Berg-Karabach ansiedelnder Rückkehrer mit landwirtschaftlicher Erfahrung realistische Chancen, in Berg-Karabach eine das Existenzminimum sichernde Lebensgrundlage aufzubauen. Für akademisch geprägte "Großstadtmenschen" fehlt jede Anschlussmöglichkeit. Aufgrund der skizzierten Lebensbedingungen in Berg-Karabach erscheint es nicht "vernünftig" i.S. des Art. 8 Abs. 2 QRL, von einer alleinstehenden weiblichen Person mit einem Kind und ohne jegliche landwirtschaftliche Erfahrung eine Existenzgründung in Berg-Karabach zu versuchen. Denn einer alleinstehenden Mutter - wie hier - mit nahezu erwachsener Tochter ist es in Berg-Karabach - ohne enges verwandtschaftliches Netz - weder möglich, eine das Überleben sichernde Arbeit zu finden noch sich - auch angesichts fehlender Sprachkenntnisse - in die Gesellschaft zu integrieren. Insbesondere die Klägerin zu 2 würde dort zudem wohl als Aserbaidschanerin angesehen und von der Bevölkerung (nicht unbedingt von offizieller Seite) abgelehnt.

Unterstützung erhalten in Berg-Karabach nur Einheimische oder Rückkehrer, aber kaum Zuwanderer.