VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 11.06.2008 - 8 E 1954/07 - asyl.net: M13766
https://www.asyl.net/rsdb/M13766
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Zwangsvollstreckung, Vollstreckungsgegenklage, Vergleich, Prozessvergleich, Ausweisung, Duldung, Bewährung, Auslegung, Nichtigkeit
Normen: ZPO § 767 Abs. 2; ZPO § 795; ZPO § 794 Abs. 1 Nr. 1; VwGO § 167 Abs. 1 ; VwGO § 168 Abs. 1; BGB § 133; BGB § 157; VwVfG § 59 Abs. 1; VwVfG § 59 Abs. 2; VwVfG § 44 Abs. 1
Auszüge:

Die vom Kläger erhobene Vollstreckungsabwehrklage ist zulässig, insbesondere statthaft.

Nach § 767 ZPO können Einwendungen, die einen durch ein Urteil festgestellten Anspruch selbst betreffen, im Wege der Klage bei dem Prozessgericht des ersten Rechtszuges geltend gemacht werden. Nach Absatz 2 dieser Vorschrift sind Einwendungen jedoch nur insoweit zulässig, als die Gründe, auf denen sie beruhen, erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung, in der sie spätestens hätten geltend gemacht werden müssen, entstanden sind und durch Einspruch nicht mehr geltend gemacht werden können.

Diese Regelung findet auf Prozessvergleiche entsprechende Anwendung (§§ 795, 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), wobei vorliegend der für den Ausschluss von Einwendungen maßgebliche Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ersetzt wird durch den Zeitpunkt des Zustandekommens des Vergleiches, weil eine mündliche Verhandlung nicht stattgefunden hat.

Auf den vorliegenden Fall sind diese Regelungen gemäß §§ 167 Abs.1, 168 Abs. 1 Nr. 3 VwGO entsprechend anzuwenden. Mit dem "durch den Vergleich festgestellten Anspruch" der Beklagten ist insoweit die Befugnis der Beklagten gleichzusetzen, die gegen den Kläger ergangene ausländerrechtliche Verfügung vom 16.11.2005 unter den Voraussetzungen des von den Beteiligten im Verfahren 8 E 2134/05 (2) geschlossenen Prozessvergleiches zu vollziehen, mithin den Kläger abzuschieben, wenn er sich während des festgelegten Bewährungszeitraumes erneut, in welcher Weise auch immer, strafbar macht. Gegen diese Befugnis richten sich die vom Kläger erhobenen Einwendungen, weshalb die von ihm erhobene Vollstreckungsabwehrklage grundsätzlich statthaft ist.

Die Klage ist jedoch unbegründet, weil der Kläger keine Gründe geltend macht, die der Befugnis der Beklagten, den Kläger abzuschieben, entgegenstehen, ohne dass es noch darauf ankommt, ob die vom Kläger geltend gemachten Gründe im Sinne des § 767 Abs. 2 ZPO nachträglich entstanden sind.

Der Einwand, dass die sich aus dem vorgenannten Prozessvergleich ergebenden Voraussetzungen für die Vollziehung der ausländerrechtlichen Verfügung der Beklagten vom 16.11.2005 nicht erfüllt seien, greift nicht durch, weil die nach dem Wortlaut des Vergleiches maßgeblichen Voraussetzungen zweifelsohne erfüllt sind. Die ausdrücklich formulierten Bedingungen für die Vollziehbarkeit der ausländerrechtlicher Verfügung der Beklagten vom 16.11.2005 sind entgegen der Auffassung des Klägers aber auch nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung um ein Therapieerfordernis zu erweitern.

Der Prozessvergleich ist aufgrund seiner Doppelnatur allerdings nicht nur ein vollstreckbarer Titel, sondern auch ein materiell-rechtlicher Vertrag im Sinne des § 55 HVwVfG i.V.m. § 54 Satz 2 HVwVfG und damit grundsätzlich einer Auslegung zugänglich (vgl. bspw. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.12.1989 – 8 C 17/87, in: BVerwGE 84, 157–167, hier zitiert nach juris).

Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einerWillenserklärung der wirklicheWille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Gemäß § 157 BGB sind zudem Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Eine darauf beruhende ergänzende Vertragsauslegung setzt voraus, dass das Vertragswerk eine planwidrige Unvollständigkeit aufweist, wobei es unerheblich ist, ob diese von Anbeginn bestanden hat oder erst nachträglich entstanden ist. Keine Lücke liegt vor, wenn die getroffene Regelung nach dem Willen der Vertragsschließenden bewusst abschließend sein sollte, und zwar ungeachtet dessen, ob sie sich als unbillig erweist (vgl. Palandt, BGB, 64. Aufl., 2005, § 157 RdNr. 3 m. w. Nw.).

Nach dem Wortlaut des von den Beteiligten im Verfahren 8 E 2134/05 (2) geschlossenen Prozessvergleiches deutet alles darauf hin, dass die Beteiligten bewusst eine abschließende Regelung haben treffen wollen, weil der Zweck des Prozessvergleiches ersichtlich darin bestanden hat, den Rechtsstreit der Beteiligten durch eine dezidierte Regelung möglichst endgültig beizulegen. Danach sollte dem Kläger "nur" die Möglichkeit eingeräumt werden, sich zu bewähren, und die Ausweisungsverfügung sollte selbst im Falle einer erfolgreichen Bewährung weiter Bestand haben, wenn auch ihre Wirkung zeitnah befristet worden wäre. Im Falle eines Bewährungsversagens, welcher Qualität auch immer, sollte die Ausweisungsverfügung ohne Weiteres vollziehbar sein.

Ebensowenig wie nach dem Vorstehenden eine ergänzende Vertragsauslegung mit der Folge vorzunehmen ist, dass nicht alle Voraussetzungen für die Vollziehbarkeit der ausländerrechtlichen Verfügung der Beklagten vom 16.11.2005 vorlägen, kann der Kläger mit dem Einwand der (Teil-) Nichtigkeit des von den Beteiligten im Verfahren 8 E 2134/05 (2) geschlossenen Prozessvergleiches durchdringen. Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Vereinbarung in Punkt 4 des vorgenannten Prozessvergleiches nicht nichtig, womit dahingestellt bleiben kann, ob diese Teilnichtigkeit den Prozessvergleich insgesamt nichtig machen würde (§ 59 Abs. 3 HVwVfG).

Da der Prozessvergleich aufgrund seiner Doppelnatur auch ein materiell-rechtlicher Vertrag im Sinne des § 55 HVwVfG i.V.m. § 54 Satz 2 HVwVfG ist, gelten für ihn die Regelungen des § 59 HVwVfG, der bestimmt, unter welchen Voraussetzungen öffentlich-rechtliche Verträge nichtig sind.

Gemäß § 59 Abs. 1 HVwVfG ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag nichtig, wenn sich die Nichtigkeit aus der entsprechenden Anwendung von Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs ergibt, insbesondere §§ 134 ff BGB. Hierzu hat der Kläger nichts vorgetragen und es sind solche Gründe auch ansonsten nicht ersichtlich. Vor allem hat der Kläger den mit der Beklagten geschlossenen Prozessvergleich nicht angefochten, aber auch ein Verstoß gegen die guten Sitten ist nicht zu erkennen.

Der von den Beteiligten geschlossene Prozessvergleich ist auch nicht nach § 59 Abs. 2 HVwVfG nichtig. Nach dessen Ziffer 1 ist ein Vertrag im Sinne des § 54 Satz 2 HVwVfG und damit auch ein Vergleichsvertrag nach §§ 55 HVwVfG, 106 VwGO nichtig, wenn ein Verwaltungsakt mit entsprechendem Inhalt nichtig wäre. Gemäß § 44 Abs. 1 HVwVfG ist ein Verwaltungsakt nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommender Umstände offensichtlich ist.

Dem Kläger ist allerdings darin zu folgen, dass eine vertragliche Vereinbarung, auch wenn sie im Wege des Prozessvergleiches getroffen wird, ebenso wie eine inhaltsgleiche Verfügung keinen rechtlichen Bestand haben kann, wenn ihr jede gesetzliche Grundlage fehlt. Hierbei würde es sich zweifelsfrei um einen offenkundigen und besonders schwerwiegenden Fehler handeln. Vorliegend stellt sich allerdings die Frage, ob sich der Kläger hierauf mit Erfolg berufen könnte, weil der von den Beteiligten geschlossene Prozessvergleich eine für ihn, gemessen an der bereits erfolgten Ausweisung, nur günstige Regelung enthält: Die Beklagte hat ihm unbeschadet der Ausweisungsverfügung die Erteilung von Duldungen und nachfolgend einer Aufenthaltserlaubnis zugesagt, wenn die Zusage auch an Bedingungen geknüpft war, die die Zusage eingeschränkt haben.

Desgleichen ist der von den Beteiligten geschlossene Prozessvergleich auch nicht nach § 59 Abs. 2 Nr. 2 HVwVfG nichtig. Danach ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag nichtig, wenn ein Verwaltungsakt mit entsprechendem Inhalt nicht nur wegen eines Verfahrens- oder Formfehlers im Sinne des § 46 HVwVfG rechtswidrig wäre und dies den Vertragsschließenden bekannt war.

Ein Verwaltungsakt mit dem Inhalt der von den Beteiligten getroffenen Vereinbarung hätte sich schon nicht als rechtswidrig erwiesen.

Es liegt ferner auch kein Fall des § 59 Abs. 2 Nr. 3 HVwVfG vor. Danach ist ein Vergleichsvertrag im Sinne des § 55 HVwVfG nichtig, wenn die Voraussetzungen zum Abschluss eines Vergleichsvertrages nicht vorlagen und ein Verwaltungsakt mit entsprechendem Inhalt nicht nur wegen eines Verfahrens- oder Formfehlers im Sinne des § 46 HVwVfG rechtswidrig wäre.

Nach § 55 HVwVfG kann ein öffentlich-rechtlicher Vertrag im Sinne des § 54 Satz 2 HVwVfG, durch den eine bei verständiger Würdigung des Sachverhalts oder der Rechtslage bestehende Ungewissheit durch gegenseitiges Nachgeben beseitigt wird (Vergleich), geschlossen werden, wenn die Behörde den Abschluss des Vergleichs zur Beseitigung der Ungewissheit nach pflichtgemäßem Ermessen für zweckmäßig hält. Diese Voraussetzungen lagen im Zeitpunkt des Zustandkommens des von den Beteiligten geschlossenen Prozessvergleiches vor.