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Zitieren als:
, Beschluss vom 10.07.2008 - S 1 AY 5/08 ER - asyl.net: M13735
https://www.asyl.net/rsdb/M13735
Leitsatz:

Die Eilbedürftigkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ergibt sich aus dem Willen des Gesetzgebers, nach 48 Monaten Leistungen nach SGB XII zu gewähren, wenn der Ausländer die Aufenthaltsdauer nicht rechtsmissbräuchlich verlängert hat; die Sozialbehörde trägt die Darlegungs- und Beweislast für die rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts; der Nachweis der rechtsmissbräuchlichen Verlängerung des Aufenthalts im Fall verzögerter Mitwirkungshandlungen setzt voraus, dass der Ausländer eine ihm konkret aufgegebene, zumutbare Handlung aus nicht zu rechtfertigenden Gründen nicht durchführt.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Mitwirkungspflichten, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung, Beweislast, Zumutbarkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: SGG § 86b Abs. 2; AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Die Eilbedürftigkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ergibt sich aus dem Willen des Gesetzgebers, nach 48 Monaten Leistungen nach SGB XII zu gewähren, wenn der Ausländer die Aufenthaltsdauer nicht rechtsmissbräuchlich verlängert hat; die Sozialbehörde trägt die Darlegungs- und Beweislast für die rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts; der Nachweis der rechtsmissbräuchlichen Verlängerung des Aufenthalts im Fall verzögerter Mitwirkungshandlungen setzt voraus, dass der Ausländer eine ihm konkret aufgegebene, zumutbare Handlung aus nicht zu rechtfertigenden Gründen nicht durchführt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, wenn der einstweilige Rechtsschutz nicht durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage gewährt werden kann (§ 86 b Abs. 1 SGG), auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Anspruch auf Regelung eines vorläufigen Zustandes (Anordnungsanspruch) und der Grund für die Dringlichkeit der Maßnahme (Anordnungsgrund) sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen.

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zwar ist mit den ihnen bislang gewährten Leistungen nach § 3 AsylbLG ihre Existenz nicht gefährdet und sie haben auch keine besondere Härte vorgetragen, die es erlauben würde, schon deshalb eine Dringlichkeit der Maßnahme anzunehmen. Die Eilbedürftigkeit ergibt sich aber bereits aus dem Willen des Gesetzgebers, der sich aus § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der ab 28. August 2007 geltenden Fassung des EURLAsylUmsG) ableiten lässt (vgl. Beschluss des LSG Sachsen-Anhalt vom 7. März 2006 - L 8 B 13/05 AY ER). Danach sollen grundsätzlich alle Asylbewerber, die mindestens 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen haben, Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 12. Buch (SGB XII - Sozialhilfe) entsprechend dem soziokulturellen Existenzminimum erhalten, wenn sie die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Nach der Interpretation des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt (a.a.O.), welche sich auch auf die Gesetzesbegründung bezieht (BT-Drs. 15/420, S. 121), wollte der Gesetzgeber dokumentieren, dass ein deutlich herabgesenkter Leistungssatz nur in dem im Gesetz festgelegten Bezugszeitraum zumutbar ist. Bei einem länger dauernden Aufenthalt könne, auch wegen der zu erwartenden Integration, auf diesen nicht mehr zumutbar verwiesen werden, wenn nicht ausnahmsweise Gründe in der Person vorliegen, welche die Absenkung rechtfertigen.

Zwar hegt die Kammer Bedenken gegen diese Auslegung, letztlich stimmt sie aber im Ergebnis zu, weil der zunächst dominierende Gedanke, keine Anreize für den Verbleib in Deutschland zu schaffen, nach dem Willen des Gesetzgebers nach vier Jahren Bezugsdauer verdrängt und einer möglichen sozialen Integration Vorrang eingeräumt wird. Dies bedeutet, dass in diesen Fällen die Eilbedürftigkeit vorläufiger Leistungen nach den Vorschriften des SGB XII allein dadurch glaubhaft gemacht ist, dass nach Ablauf einer vierjährigen Bezugsdauer das gesetzlich zugestandene soziokulturelle Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist, es sei denn, es liegen ausnahmsweise Gründe in der Person vor, welche die Absenkung rechtfertigen.

Auch nach dem Vorbringen des Antragsgegners haben die Antragsteller bereits mehr als 50 Monate Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen und damit die Bezugsdauer überschritten, nach der ihnen Leistungen nach dem SGB XII weiterzugewähren wären. In ihrem Fall ist daher schon aus diesem Grund die Dringlichkeit der vorläufigen Gewährung der Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG gegeben.

Hieraus folgt auch, dass der notwendige Anordnungsanspruch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht ist. Aus dem Anhörungsprotokoll im Aufnahmeverfahren ist ersichtlich, dass die Antragsteller zu 1. und 2. keine Angaben gemacht haben, die eine Erschwerung der Ausstellung von Passersatzdokumenten verursachen könnten. Der Nachweis einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung des Aufenthalts durch verzögerte Mitwirkungshandlungen kommt erst dann in Betracht, wenn der Berechtigte eine ihm konkret aufgegebene, zumutbare Handlung aus nicht zu rechtfertigenden nicht durchführt. Daher obliegt es dem Antragsgegner, festzustellen, welche weiteren konkreten Maßnahmen den Antragstellern zuzumuten sind, um die Reisedokumente zu erhalten. Hierzu dürfte z.B. auch gehören, zunächst einmal durch Befragen aufzuklären, bei wem sich die erforderlichen, aber zurückgelassenen Personaldokumente und das Familienbuch der Antragsteller in Syrien befinden (was bei der Anhörung im Anerkennungsverfahren versäumt wurde), bevor anschließend gezielte weitere Mitwirkungshandlungen (der Form und dem Inhalt nach belegbare Kontaktaufnahme mit dem Besitzer der Dokumente etc.) aufgegeben werden.