VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 17.06.2008 - A 5 K 2161/07 - asyl.net: M13718
https://www.asyl.net/rsdb/M13718
Leitsatz:

1. Zu den zeitlichen Grenzen der Rechtskraft eines Urteils, mit dem die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet wurde, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für einen türkischen Staatsangehörigen vorliegen, weil dieser sich im Bundesgebiet in herausgehobener Weise für die PKK betätigt habe.

2. Im Vergleich zum Herbst 2000 haben sich die maßgeblichen allgemeinen Verhältnisse für die Beurteilung der Frage, ob türkische Staatsangehörige wegen exilpolitisch hervorgehobener Aktivität für die PKK bei ihrer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Nachteile hinnehmen müssen, nicht hinreichend geändert.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Verpflichtungsurteil, Rechtskraft, Rechtskraftwirkung, Änderung der Rechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, PKK, Verdacht der Unterstützung, exilpolitische Betätigung, Folter, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

1. Zu den zeitlichen Grenzen der Rechtskraft eines Urteils, mit dem die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet wurde, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für einen türkischen Staatsangehörigen vorliegen, weil dieser sich im Bundesgebiet in herausgehobener Weise für die PKK betätigt habe.

2. Im Vergleich zum Herbst 2000 haben sich die maßgeblichen allgemeinen Verhältnisse für die Beurteilung der Frage, ob türkische Staatsangehörige wegen exilpolitisch hervorgehobener Aktivität für die PKK bei ihrer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Nachteile hinnehmen müssen, nicht hinreichend geändert.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Rechtsgrundlage für den Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (bzw. früher § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, ist § 73 Abs. 1 AsylVfG in der Fassung von Art. 3 Nr. 46a des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970).

Hat das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter bzw. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Befolgung eines rechtskräftig gewordenen gerichtlichen Urteils ausgesprochen, ist ein Widerruf dieser Entscheidung allerdings nur zulässig, soweit dem die Rechtskraft des Urteils gemäß § 121 VwGO nicht entgegensteht (vgl., auch zum Folgenden, BVerwG, Urt. v. 18.09.2001 - 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 m.w.N.). Dessen Rechtskraftwirkung endet - in zeitlicher Hinsicht - erst, wenn sich die für die gerichtliche Entscheidung maßgebliche Sach- und Rechtslage nachträglich verändert hat. Dabei lässt nicht jegliche nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Rechtskraftwirkung entfallen. Gerade im Asylrecht liefe diese ansonsten weitgehend leer. Ihr Zweck, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu gewährleisten, wäre nicht mehr gewährleistet. Naturgemäß sind insbesondere die allgemeinen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers ständigen Änderungen unterworfen. Die Rechtskraftbindung eines stattgebenden Urteils in Asylsachen entfällt somit erst dann, wenn neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn das rechtskräftige Urteil zu der geänderten Sachlage keine verbindlichen Aussagen mehr enthält.

Daraus folgt, dass sich allein aus dem Zeitablauf grundsätzlich noch keine für eine Beendigung der Rechtskraftwirkung hinreichende Änderung der Sachlage ergibt. Freilich kann, je länger der Zeitraum ist, der seit dem Erlass des rechtskräftigen Urteils vergangen ist, umso eher die Annahme gerechtfertigt sein, dass die Entwicklung im Heimatland zu einer Änderung der tatsächlichen Grundlagen der Gefahrenprognose geführt hat. Dies bedarf jedoch jeweils einer umfassenden Würdigung der für das Rechtsschutzbegehren maßgeblichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Erlasses des rechtskräftigen Urteils einerseits und der Entscheidung über den Widerruf andererseits.

Wegen des Urteils des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 22.09.2000 (7 A 188/97 MD) steht rechtskräftig fest, dass sich der Kläger nach seiner Einreise in das Bundesgebiet exilpolitisch in einer Weise betätigt hat, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Urteils geeignet war, im Falle seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein asylrechtlich erhebliches Verfolgungsrisiko zu begründen.

Stützen lässt sich der angefochtene Widerruf auch nicht auf eine Änderung der allgemeinen Verhältnisse für Personen, die wegen hervorgehobener exilpolitischer Betätigung im Bundesgebiet im Jahr 2000 mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei davon bedroht waren, von staatlichen Stellen festgehalten und in asylerheblicher Weise belangt zu werden (vgl. zu Asylberechtigten, die wegen vor der Ausreise entstandenem Separatismusverdacht als asylberechtigt anerkannt worden sind, VG Karlsruhe, Urteile vom 02.02.2007 - A 5 K 696/06 -, vom 08.12.2006 - A 7 K 99/06 -, vom 16.04.2008 - A 5 K 391/07 -; VG Stuttgart Urteil vom 15.05.2006 – A 11 K 711/06 -; VG Minden Urteil vom 28.07.2006 – 8 K 275/06.A-; VG Ansbach Urteil vom 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 -).

Dabei kann die Kammer offen lassen, ob dies schon deshalb gilt, weil, wofür manches spricht, die Verfolgungsprognose im rechtskräftigen Urteil nicht ohne Weiteres als zutreffend erscheint. Weder lässt sich der Kläger aufgrund der festgestellten Tatsachen ohne Weiteres dem Kreis der exilpolitisch hervorgehoben Aktiven zuordnen, wie er in dem vom VG Magdeburg in Bezug genommenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster beschrieben sind, noch lässt sich jenem Urteil eine hinreichend sichere Verfolgungsprognose für Angehörige dieses Kreises entnehmen (vgl. OVG NW, Urt. v. 25.01.2000 a.a.O. Rdnrn. 778 ff., 821 ff.); es befasst sich mit dieser Frage gar nicht, weil der Kläger jenes Verfahrens gerade nicht exilpolitisch hervorgetreten war. Würde sich die Beurteilung im rechtskräftigen Urteil insoweit als fehlerhaft erweisen, wäre dieses "von Anfang an" fehlerhaft; auf eine Änderung der allgemeinen Verhältnisse käme es nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in einem solchen Fall nicht an (Urt. v. 01.06.2005 a.a.O.). Den insoweit sich stellenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen braucht die Kammer jedoch nicht abschließend nachzugehen; denn jedenfalls im Vergleich zum Herbst 2000 haben sich die maßgeblichen allgemeinen Verhältnisse für die Beurteilung der Frage ob türkische Staatsangehörige wegen exilpolitisch hervorgehobener Aktivität für die PKK bei ihrer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Nachteile hinnehmen müssen, nicht hinreichend geändert.

Zwar hat sich die innenpolitische Situation in der Türkei, soweit sie die politischen Anliegen der Kurden betrifft, in den letzten Jahren merklich entspannt. Die positive Entwicklung erscheint aber bei allen Anstrengungen als zerbrechlich und damit noch nicht als unumkehrbar; auch lässt sich noch nicht mit der notwendigen Gewissheit feststellen, dass die vor allem auf der Gesetzesebene vorgenommenen Änderungen insbesondere in den Polizeidienststellen im Wesentlichen befolgt werden.

Insgesamt wurden seit 2002 acht sog. "Reformpakete" verabschiedet, die in kurzer Zeit umwälzende gesetzgeberische Neuerungen brachten. Die Umsetzung einiger Reformen geht langsamer als erwartet voran. Strukturelle Probleme bestehen fort.

Verbessert hat sich die Lage der Kurden hinsichtlich Minderheitenschutz und Ausübung kultureller Rechte. Die PKK verkündete jedoch zum 01.06.2004 die Beendigung des von ihr ausgerufenen Waffenstillstands. Seitdem kam es im Südosten der Türkei nach offiziellen Angaben wieder vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und PKK-Kämpfern, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind, obwohl die PKK in den Jahren 2005 und 2006 jeweils einseitig einen Waffenstillstand ausrief.

In Reaktion auf die Rückkehr der PKK zur Gewalt hat das türkische Parlament schon im Jahr 2006 ein Anti-Terror-Gesetz verabschiedet.

Nach wie vor können bekannt gewordene oder vermutete Verbindungen zur PKK bei der Einreise zur vorübergehenden Ingewahrsamnahme, zum Verhör durch die Grenzpolizei und ggf. durch die Terrorabteilung der Polizei führen (vgl. AA v. 21.11.2005 an VGH Hessen, Az. 508-516.80/44245). Auch der Sachverständige Kaya führt aus, dass es möglich sei, als vermeintlicher PKK-Sympathisant oder -Unterstützer bei der Einreise in die Türkei festgenommen und einige Zeit festgehalten zu werden, wobei in einem solchen Fall mit einem Festhalten für maximal 24 Stunden zu rechnen sei (Kaya v. 09.08.2006 an VG Berlin und v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen). Die Feststellung des Auswärtigen Amtes, dass in den letzten Jahren kein einziger Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter oder abgeschobener abgelehnter Asylbewerber gefoltert oder misshandelt worden sei, sei zwar zutreffend; unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen habe sich nach seinen Informationen aber keine Person befunden, die Mitglied oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation gewesen oder als solche verdächtigt worden sei (Nieders. OVG, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -). Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist es der Türkei bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlungen weitestgehend zu unterbinden (Lageberichte d. AA v. 11.01.2007, S. 37 f. und vom 25.10.2007, S. 29).

Bei der Beurteilung, ob sich aus all dem gegenüber den Tatsachen, die dem rechtskräftigen Urteil zu Grunde liegen, eine qualitative und nachhaltige Verbesserung hinsichtlich der Bedrohung von Rückkehrern in die Türkei ergibt, in asylerheblicher Weise wegen herausgehobener exilpolitischer Aktivitäten für die PKK belangt zu werden, ist zudem noch zu berücksichtigen, dass sich die Entwicklung im hier maßgeblichen Zeitpunkt im September 2000 bereits zum Guten gewendet hatte. Insbesondere war die Sorge, es könne wegen der Verhaftung und Verurteilung des PKK-Führers Öcalan zu einem Wiederaufflammen der Gewalt kommen, schon im Jahr 1999 nicht mehr begründet (OVG NW, Urt. v. 25.01.2000 a.a.O. Rdnr. 327 ff.). Das rechtskräftige Urteil ist zu einem Zeitpunkt ergangen, in dem sich die Wende zum Besseren bereits abzeichnete und teilweise eingeleitet war. So war schon 1999 die Strafdrohung für den staatliche Folter erfassenden Straftatbestand verschärft worden. Schon damals war, wohl auch wegen der Aufmerksamkeit von Regierungen (vgl. auch den deutsch-türkischen Schriftwechsel vom 10.03.1995, mit dem für Rückkehrer ein rechtsstaatliches Verfahren gesichert werden sollte) und Nichtregierungsstellen insoweit, die Gefahr für Angehörige der genannten Rückkehrergruppe, bei im Anschluss an die Einreise der Folter unterzogen zu werden, geringer als für Personen unter PKK-Verdacht, die anlässlich konkreter Vorfälle in den westlichen Großstädten der Türkei oder in den südöstlichen Provinzen festgenommen wurden (vgl. AA, Lagebericht v. 20.03.2002, III Nr. 2, unter Bezugnahme auf ältere Lageberichte).