VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 30.06.2008 - A 11 K 304/07 - asyl.net: M13686
https://www.asyl.net/rsdb/M13686
Leitsatz:

1. Im Hinblick auf die rechtsstaatlichen Strukturen und die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei sind nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen, zumal die Reformgesetze häufig durch später erlassene Ausführungsbestimmungen konterkariert wurden.

2. Türkische Gerichte verurteilen in politischen Strafverfahren immer noch auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen.

3. Der Einfluss der Ultranationalisten, die meinungsbildend wirken, hat seit 2005 zugenommen. Derzeit ist eine besonders starke nationalistische Stimmung zu spüren, die von den Medien gezielt angeheizt wird.

4. Die Reform des Strafrechtsparagrafen 301 hat auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei keinen Einfluss.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Verdacht der Unterstützung, PKK, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Reformen, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Folter, Anti-Terrorismus-Gesetz, Strafrecht, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Rechtskraft, Verpflichtungsurteil, Rücknahme, Umdeutung, Wiederaufnahme des Verfahrens
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121; VwGO § 153
Auszüge:

1. Im Hinblick auf die rechtsstaatlichen Strukturen und die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei sind nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen, zumal die Reformgesetze häufig durch später erlassene Ausführungsbestimmungen konterkariert wurden.

2. Türkische Gerichte verurteilen in politischen Strafverfahren immer noch auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen.

3. Der Einfluss der Ultranationalisten, die meinungsbildend wirken, hat seit 2005 zugenommen. Derzeit ist eine besonders starke nationalistische Stimmung zu spüren, die von den Medien gezielt angeheizt wird.

4. Die Reform des Strafrechtsparagrafen 301 hat auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei keinen Einfluss.

(Amtliche Leitsätze)

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Dem Kläger wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da er von den türkischen Sicherheitskräften als Unterstützer der PKK angesehen wurde und er deshalb von asylrechtlicher Verfolgung betroffen war.

Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid ausgeführt, die Rechtslage und die Menschenrechtssituation hätten sich deutlich zum Positiven verändert. Konkrete Bezüge auf den Fall des Klägers in seiner speziellen Situation enthält die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids jedoch nicht. Da das Bundesamt es schon versäumt hat, die Anerkennungsgründe konkret und nachvollziehbar mit den aktuellen Verhältnissen in der Türkei zu vergleichen, fehlt bereits der für den Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erforderliche Nachweis, dass die Voraussetzungen für die Flüchtlingszuerkennung nicht mehr vorliegen. Schon deshalb ist der Widerrufsbescheid rechtswidrig, zumal bei dieser Vorgehensweise des Bundesamts offen bleibt, ob nicht in Wirklichkeit eine unzulässige Neubewertung der Asylrelevanz der geltend gemachten Vorfluchtgründe erfolgt ist. Im Übrigen hat das Bundesamt zu Unrecht auf angebliche Veränderungen seit der Ausreise des Klägers abgestellt; maßgebend ist jedoch nach dem oben Ausgeführten, ob sich die Verhältnisse nach dem Ergehen des Urteils des VG Stuttgart vom 01.12.1998 erheblich verändert haben.

Unabhängig davon sind entgegen der Behauptung des Bundesamts seit dem Urteil des VG Stuttgart vom 01.12.1998 keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.

Eine durch Umsturz hervorgerufene Verbesserung der politischen Verhältnisse im Sinne eines Systemwechsels - eine solche Veränderung hatte dem Gesetzgeber in erster Linie vor Augen gestanden (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 a.a.O.) - ist in der Türkei unzweifelhaft nicht eingetreten.

Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.10.2007). Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des nationalen Sicherheitsrates, Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als türkisch, die Benutzung dieser Sprache in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelung zur Erschwerung von Parteiverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter.

Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen, zumal die Reformgesetze häufig durch später erlassene Ausführungsbestimmungen konterkariert wurden (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Minderheitenschutz und Religionsfreiheit sind nur eingeschränkt gewährleistet. In Bezug auf die Meinungsfreiheit haben die acht Gesetzespakete keine Änderungen bewirkt (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 28.05.2007 an VG Magdeburg). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt.

In der Rechtsprechung wird weiter nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. OVG Münster, Urt. v. 26.05.2004 - 8 A 3852/03.A - juris = Asylmagazin 10/2004, 30; Urt. v. 19.04.2005 - 8 A 273/04.A - juris -; Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - juris - und Urt. v. 17.04.2007 - 8 A 2771/06.A; OVG Koblenz, Urt. v. 12.03.2004 - 10 A 11952/03 - juris - = Asylmagazin 7-8/2004, 27; OVG Weimar, Urt. v. 18.03.2005 - 3 KO 611/99 -, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 29.11.2004 - 3 L 66/00 -, Asylmagazin 1-2/2005, 32; OVG Saarland, Urt. v. 01.12.2004 - 2 R 23/03 -, Asylmagazin 4/2005, 30; OVG Bautzen, Urt. v. 19.01.2006 - A 3 B 304/03 - und Urt. v. 25.10.2007 - A 3 B 238/05; VG Berlin, Urt. v. 01.03.2006, Asylmagazin 7-8/2006, 37 und Urt. v. 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32; VG Frankfurt, Urt. v. 02.03.2006, Asylmagazin 6/2006, 20; VG Weimar, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 20643/04 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2006 - 26 K 1747/06 -; Urteil vom 24.08.2006 - 4 K 1784/06.A - juris - und Urteil vom 24.01.2007 - 20 K 4697/05.A - juris -; VG Ansbach, Urteil vom 06.03.2007, AuAS 2007, 141; VG Münster, Urteil vom 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - juris -; VG Bremen, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 1611/04 -).

Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes hat sich die Lage in der Türkei in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007).

In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft.

Zwar hat das türkische Parlament unter dem Druck der Europäischen Union am 30.04.2008 eine Reform des Strafrechtsparagrafen 301 beschlossen, der die Beleidigung des "Türkentums" unter Strafe stellte. Aufgrund dieses Gesetzes wurden in den letzten Jahren tausende kritischer Intellektueller und Bürgerrechtler angeklagt und viele verurteilt (vgl. StZ vom 02.05.2008; Nützliche Nachrichten 4/2008, 6). Ersetzt wurde nunmehr der Begriff "Türkentum" durch "Türkische Nation", der Strafrahmen wurde reduziert und eine Anklage setzt jetzt die Zustimmung des Justizministers voraus. Auch die EU-Kommission verweist jedoch zu Recht darauf, dass es neben § 301 türkStGB mehr als ein Dutzend andere Strafbestimmungen (beispielsweise §§ 216, 300, 305, 318, 323 türkStGB) gibt, die die Meinungsfreiheit in der Türkei einschränken (vgl. StZ vom 21.04.2008 und vom 02.05.2008). Da viele Staatsanwälte und Richter in der Türkei immer noch die Überzeugung haben, dass den Menschen in wichtigen Dingen wie der Meinungsfreiheit nicht zu trauen ist, haben sie auch in Zukunft ein reichhaltiges Arsenal von Gummiparagrafen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit zur Hand (vgl. Weser Kurier vom 16.04.2008; StZ vom 21.04.2008). Die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin hat die Änderung des § 301 türkStGB deshalb zu Recht auch als bloße „Show“ mit dem Ziel, die Europäische Kommission zu beeindrucken, bezeichnet (vgl. StZ vom 02.05.2008).

Es kann auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund des Verdachts, Unterstützer der PKK zu sein, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen und vom 09.08.2006 an VG Berlin; Oberdiek, Gutachten vom 15.08.2007 an VG Sigmaringen; Taylan, Gutachten vom 21.12.2007 an VG Sigmaringen).

Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind (ebenso der überwiegende Teil der in den letzten Monaten bekannt gewordenen Gerichtsentscheidungen: u.a. OVG Bautzen, Urt. v. 23.03.2007 - A 3 B 372/05 -; OVG Münster, Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - juris = Asylmagazin 7-8/2007, 28; VG Ansbach, Urt. v. 24.07.2007 - AN 1 K 07.30135 - juris -; Urt. v. 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 - juris - und Urt. v. 12.03.2008 - AN 1 K 07.30561 - juris -; VG Münster, Urt. v. 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - juris -; VG Düsseldorf, Urt. v. 22.03.2007 - 4 K 172/07.A - juris - und Urt. v. 05.09.2007 - 17 K 3754/07.A -; VG Oldenburg, Urt. v. 04.10.2007 - 5 A 4386/06 - juris -; VG Minden, Urt. v. 10.03.2008 - 8 K 831/07.A; VG Lüneburg, Urt. v. 06.12.2006 - 5 A 34/06 -; VG Hamburg, Urt. v. 21.11.2006 - 15 A 429/06 - und Urt. v. 25.10.2007 - 15 A 387/07 - juris -; VG Hannover, Urt. v. 30.01.2008 - 1 A 7832/05 -; VG Aachen, Urt. v. 26.03.2008 - 6 K 1094/07.A - juris -; VG Berlin, Urt. v. 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32 und Urt. v. 25.01.2008, Asylmagazin 3/2008, 17; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 04.03.2008 - 14a K 3288/06.A - juris -; VG Karlsruhe, Urt. v. 25.09.2007, Asylmagazin 11/2007, 17; VG München, Urt. v. 14.09.2007 - M 24 K 07.50342 - juris - und Urt. v. 07.02.2008, AuAS 2008, 81). Dass die Beklagte im Lichte neuerer Erkenntnisse die konkrete Verfolgungsgefahr für den Kläger anders bewertet, also aus heutiger Sicht bei der damaligen Sachlage keinen Flüchtlingsstatus mehr gewähren würde, rechtfertigt den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 a.a.O. und Urt. v. 08.05.2003 a.a.O.). Damit ist für den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes kein Raum.

Außerdem steht dem Widerruf der Flüchtlingszuerkennung die Rechtskraft des Urteils des VG Stuttgart vom 01.12.1998 entgegen.

Der angefochtene Bescheid kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Rücknahme statt eines Widerrufs aufrecht erhalten werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, BVerwGE 108, 30). Der Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft steht bereits die Rechtskraft des Urteils des VG Stuttgart vom 01.12.1998 entgegen, durch das die Beklagte verpflichtet worden ist festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Die Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft ist aber nur möglich, wenn die Rechtskraft dieses Urteils beseitigt wurde. Dies setzt eine rechtskräftige Entscheidung in dem dafür vorgesehenen Verfahren nach § 153 VwGO voraus (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998 a.a.O.). Ein solches Wiederaufnahmeverfahren wurde bislang jedoch nicht durchgeführt.