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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 02.07.2008 - 2 BvR 1073/06 - asyl.net: M13673
https://www.asyl.net/rsdb/M13673
Leitsatz:

Die Anordnung von Verbringungshaft nach § 59 Abs. 2 AsylVfG ist nur insoweit verhältnismäßig, wie die Haft notwendig zur Durchsetzung der Verlassenspflicht ist; die Möglichkeit der Inhaftierung des Betroffenen aufgrund einer Anordnung von Sicherungshaft hat außer Betracht zu bleiben.

 

Schlagwörter: D (A), Verbringungshaft, räumliche Beschränkung, Aufenthaltsgestattung Verlassenspflicht, Freiheit der Person, Verhältnismäßigkeit, Untertauchen, Abschiebungshaft, Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit
Normen: GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; GG Art. 104 Abs. 1; AsylVfG § 59 Abs. 2; AsylVfG § 56 Abs. 3; BVerfGG § 90 Abs. 1
Auszüge:

Die Anordnung von Verbringungshaft nach § 59 Abs. 2 AsylVfG ist nur insoweit verhältnismäßig, wie die Haft notwendig zur Durchsetzung der Verlassenspflicht ist; die Möglichkeit der Inhaftierung des Betroffenen aufgrund einer Anordnung von Sicherungshaft hat außer Betracht zu bleiben.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, soweit der Beschluss des Landgerichts aufgehoben und die sofortige Beschwerde gegen die amtsgerichtliche Haftanordnung zurückgewiesen wird.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist der Beschwerdeführer beschwerdebefugt. Er hat die Möglichkeit einer Verletzung in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht. Es ist möglich, dass ein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG vorliegt, weil die Haftanordnung in § 59 Abs. 2 AsylVfG keine Rechtsgrundlage finden konnte. Es spricht einiges dafür, dass die Fortgeltung der räumlichen Beschränkung einer Aufenthaltsgestaltung nach deren Erlöschen gemäß § 56 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG nur diejenigen räumlichen Beschränkungen erfasst, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung am 1. Januar 2005 (Art. 15 Abs. 3 des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30. Juli 2004, BGBl I S. 1950) noch wirksam waren oder die später erstmals wirksam geworden sind. Das Fortwirken der dem Beschwerdeführer ursprünglich auferlegten Aufenthaltsbeschränkung ist von den Gerichten ebenso wenig erörtert worden wie die Frage, ob eine weiter wirkende räumliche Beschränkung ihre Wirksamkeit durch die Erteilung einer asylunabhängigen Duldung verloren haben könnte (vgl. dazu Zeitler, HTK-AuslR / § 56 AsylVfG / räumliche Beschränkung 03/2007).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Der Beschwerdeführer wird durch den angegriffenen Beschluss in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt,

c) Die Anordnung von. Verbringungshaft war offenkundig nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig zur Durchsetzung der vom Oberlandesgericht angenommenen asylrechtlichen Verlassenspflicht.

aa) Die Anordnung von Verbringungshaft nach § 59 Abs. 2 AsylVfG unterliegt der Prüfung der Unverhältnismäßigkeit auch im Hinblick auf eine damit verbundene Verlängerung der Dauer des mit der Durchsetzung der Verlassenspflicht verbundenen Eingriffs in die Freiheit der Person (vgl. Grünewald, in GK-AsylVfG, Stand: Januar 2005, § 59 AsylVfG Rn. 36).

cc) Jedenfalls hat das Oberlandesgericht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in verfassungsrechtlich erheblicher Weise verkannt. Zur Durchsetzung der - hier als zutreffend unterstellten - Verlassenspflicht des Beschwerdeführers hätte es genügt, ihn in das benachbarte Land Niedersachsen zu bringen und gegebenenfalls den dortigen Behörden zur weiteren Verbringung in den Landkreis Lüchow-Dannenberg zu übergeben, wozu keine längere Vorbereitung oder gar eine mehrtägige Inhaftierung des Beschwerdeführers notwendig gewesen wäre. Es ist durch nichts belegt, dass sich der Beschwerdeführer der Durchsetzung der Verlassenspflicht in einer Weise widersetzt hätte, dass eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Vorbereitung der Durchsetzung der Verlassenspflicht hätte erforderlich sein können. Die Erwägung des Oberlandesgerichts, aufgrund des früheren Verhaltens des Beschwerdeführers sei zu befürchten gewesen, dass er erneut in die Illegalität abtauchen würde, und deshalb habe davon ausgegangen werden dürfen, dass ohne die Inhaftierung die freiwillige Erfüllung der Verlassenspflicht nicht gesichert gewesen sei, verfehlt die maßgebliche Frage, ob die Beschränkung des räumlichen Aufenthalts im Fall des Beschwerdeführers gerade mit dem gravierenden Mittel einer mehrtägigen Freiheitsentziehung durchgesetzt werden durfte und nicht die sofortige Verbringung unter Anwendung unmittelbaren Zwangs das schonendere Mittel gewesen wäre.

Indem das Amtsgericht und ihm folgend das Oberlandesgericht in ihren Erwägungen zur Erforderlichkeit von Verbringungshaft an die im Haftantrag erwähnten notwendigen Vorbereitungen der Ausländerbehörde des Landkreises Lüchow-Dannenberg zur Verschubung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt Hannover-Langenhagen anknüpfen, beziehen sie Aspekte ein, die für die Haftanordnung gemäß § 59 Abs. 2 AsylVfG ohne Bedeutung sind. Die Möglichkeit einer Inhaftierung des Beschwerdeführers aufgrund der Anordnung von Sicherungshaft hat bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Verbringungshaft außer Betracht zu bleiben. Die Verbringungshaft dient nach ihrer gesetzlichen Zweckbestimmung nicht der Vorbereitung einer sich anschließenden Sicherungshaft, sondern ist ausschließlich zur Durchsetzung der Verlassenspflicht bestimmt. Die Haftgründe nach § 59 Abs. 2 AsylVfG und § 62 AufenthG unterscheiden sich und können, worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen hat, nicht wechselseitig substitutiert werden (zur strikten Bindung an die gesetzlichen Haftzwecke vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Mai 2007 - 2 BvR 2106/05 -, NVwZ 2007, S. 1296 <1297>). Zum Zeitpunkt der Anordnung der Verbringungshaft war zudem über die Anordnung von Sicherungshaft gegen den Beschwerdeführer noch nicht entschieden, so dass die weitere Inhaftierung des Beschwerdeführers nicht hätte vorausgesetzt oder - etwa zum Zweck der Koordinierung der Haftanordnungen - berücksichtigt werden dürfen.