OLG Braunschweig

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Zitieren als:
OLG Braunschweig, Beschluss vom 05.06.2008 - 6 W 22/08 - asyl.net: M13645
https://www.asyl.net/rsdb/M13645
Leitsatz:

Bei der Anhörung eines Ausländers ist jede einzelne im Haftantrag aufgeführte Tatsache, aus der die Ausländerbehörde das Vorliegen der Voraussetzungen der Abschiebungshaft entnimmt, zu übersetzen und dem Ausländer die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Anhörung, rechtliches Gehör, Übersetzung, Haftantrag, Belehrung, Auslandsvertretung, Benachrichtigung, Entscheidungserheblichkeit
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2; GG Art. 104; WüK Art. 36 Abs. 1 Bst. b S. 3
Auszüge:

Bei der Anhörung eines Ausländers ist jede einzelne im Haftantrag aufgeführte Tatsache, aus der die Ausländerbehörde das Vorliegen der Voraussetzungen der Abschiebungshaft entnimmt, zu übersetzen und dem Ausländer die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Soweit mit der sofortigen Beschwerde die Feststellung beantragt wird, dass die bisherige Inhaftierung der Betroffenen rechtswidrig war, ist sie teilweise - für den in der Beschlussformel im Einzelnen genannten Zeitraum - begründet.

Zu Recht hat der Prozessbevollmächtigte der Betroffenen beanstandet, dass die Antragsschrift der Stadt Braunschweig vom 4. April 2008, mit welcher der Erlass eines Haftbeschlusses nach § 62 Abs. 2 AufenthG gegen die Betroffene erwirkt werden sollte, der Betroffenen vor Erlass der Haftentscheidung durch entsprechende Übersetzung nicht hinreichend zur Kenntnis gebracht worden ist. Damit hat das Amtsgericht gegen grundrechtlich geschützte Verfahrensgarantien verstoßen.

Laut Anhörungsprotokoll des Richters vom 4. April 2008, welches unter Hinzuziehung der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in der äußeren Form des § 159 ZPO abgefasst und sowohl vom Richter als auch von der Urkundsbeamtin unterschrieben wurde (vom Richter sogar zusätzlich "für die Richtigkeit der Übersetzung"), wurde der Betroffenen - soweit es die o.g. Antragsschrift der Stadt Braunschweig betrifft - lediglich "bekannt gegeben, dass ihre Abschiebung angeordnet ist und die Ausländerbehörde Abschiebungshaft beantragt hat".

Nur indem der Richter, dem die Entscheidung über die genannten Tatbestände obliegt, jede einzelne Tatsache, aus denen die Antragstellerin das Vorliegen der genannten Voraussetzungen entnimmt, durch Übersetzung mitteilt und der Betroffenen durch entsprechende Fragen Gelegenheit zur jeweiligen Äußerung gibt (dies gebietet bereits die Fürsorgepflicht, da die Betroffene ohne anwaltlichen Beistand war), wird ihr das rechtliche Gehör zu allen Umständen gewährt, die für die vorzunehmende Gesamtbewertung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht relevant werden konnten. Dass die Betroffene grundsätzlich bereit war, zu einer Fülle von Fragen Stellung zu nehmen, ergibt sich aus der Vernehmung der Betroffenen durch die Polizei vom 4. April 2008. Eine Anhörung im genannten Umfang kann weder dem Sitzungsprotokoll noch dem Vermerk des Richters entnommen werden, mit dem der Versuch einer "Berichtigung" des Protokolls unternommen wurde.

Diese jedenfalls in nicht ausreichendem Maß erfolgte mündliche Anhörung der Betroffenen führt zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung durch das Amtsgericht. Denn die mündliche Anhörung vor der Entscheidung über die Freiheitsentziehung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht, und ist Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren (BVerfG, 2 BvR 2042/05 vom 12. März 2008, zit. nach www.bverfg/Entscheidungen, m.w.N.).

Andererseits kann die Rechtswidrigkeit der Inhaftierung der Betroffenen vor Erlass des Beschlusses des Amtsgerichts Braunschweig vom 4. April 2008 nicht daraus hergeleitet werden, dass die Betroffene bei ihrer Festnahme am 03. April 2008 nicht gem. Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 3 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WüK) vom 24. April 1963 (BGBl. II 1969 Seite 1585) darüber belehrt worden ist, dass sie die unverzügliche Benachrichtigung ihrer konsularischen Vertretung verlangen kann. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist dies erst durch den Richter des Amtsgerichts im Zusammenhang mit dem Erlass der Haftanordnung geschehen. Allerdings ist nach den Feststellungen weiterhin gegen die Vorschrift verstoßen worden, weil die konsularische Vertretung trotz entsprechenden Antrags der Betroffenen nicht unverzüglich, sondern erst am 30. April 2008 durch Mitteilung an die nigerianische Botschaft erfolgt ist. Ob dieser Verfahrensfehler durch die - späte - Benachrichtigung geheilt worden ist, wie das Landgericht meint, kann im vorliegenden Zusammenhang dahinstehen. Denn durch diesen Verfahrensfehler wird die Inhaftierung der Betroffenen vom 3. April 2008 bis zum Erlass des Haftbeschlusses des Amtsgerichts vom 4. April 2008 nicht rechtswidrig. Der Verfahrensfehler hat nämlich auf die kurze - etwa eintägige - Festnahme bis zum Erlass des genannten Beschlusses keinen Einfluss und beruht daher hierauf nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat am Ende seiner in NJW 2007, 499, abgedruckten Entscheidung vom 19.09.2006 ausdrücklich die Prüfung den Fachgerichten übertragen, ob bzw. inwieweit die jeweilige Entscheidung auf dem Verfahrensfehler der Verletzung des Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 3 WüK beruht. Noch den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der genannten Entscheidung dient diese Norm dem Schutz des ausländischen Staatsangehörigen im Hinblick auf seine im Vergleich zu Inländern regelmäßig schwächere rechtliche und psychische Position. Vorliegend hätte die inzwischen benachrichtigte nigerianische Botschaft der Betroffenen zu deren Schutz im vorliegenden Verfahren nur einen mit der Spezialmaterie des Abschiebehaftverfahrens vertrauten Rechtsanwalt vermitteln bzw. zur Verfügung stellen können. Dies hätte sich aber selbst bei allerschnellster Reaktion der Botschaft auf den ersten Tag der Inhaftierung bis zum Erlass des amtsgerichtlichen Beschlusses nicht auswirken können.