VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 07.05.2008 - AN 15 K 07.30677 - asyl.net: M13636
https://www.asyl.net/rsdb/M13636
Leitsatz:
Schlagwörter: Aserbaidschan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Drei-Monats-Frist, Änderung der Sachlage, neue Beweismittel, Sachverständigengutachten, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2; VwVfG § 51 Abs. 3; VwVfG § 51 Abs. 5
Auszüge:

Die ausschließlich auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (zuvor: Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG) gerichtete zulässige Klage ist begründet.

I. Die Klägerin hat allerdings im Hinblick auf allein geltend gemachte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht schon nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG einen Anspruch auf Aufhebung des angegriffenen Bescheids der Beklagten sowie auf Wiederaufgreifen des Verfahrens (zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) und damit auf dieser Grundlage (§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG) auch nicht weitergehende Ansprüche auf Feststellung der Voraussetzungen der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.

Soweit die Klägerin gesundheitliche Probleme in psychischer Hinsicht vorgetragen hat, behauptet sie zwar eine nachträgliche Änderung der Sachlage zu ihren Gunsten. Mit diesem Vortrag als einem geänderten Sachverhalt nach § 51 Abs.1 Nr.1 VwVfG ist sie aber schon deshalb ausgeschlossen, weil sie diese gesundheitlichen Probleme nach dem Attest spätestens ab Januar 2006 (Beginn der fachärztlichen Behandlung) gehabt hat, so dass die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG bei Eingang des Folgeantrags am 14. Mai 2007 schon abgelaufen war. Es ist auch nicht erkennbar, dass die Klägerin gehindert gewesen wäre, diese Gründe nicht schon spätestens drei Monate früher geltend zu machen.

Auch unter dem Gesichtspunkt neuer Beweismittel (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) ergibt sich kein Anspruch auf Durchführung eines neuen Verfahrens. Für die Zulässigkeit des Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ist zum einen erforderlich, dass ein Beweismittel "neu" ist. "Neu" ist ein Beweismittel dann, wenn es während der Anhängigkeit des früheren Verwaltungsverfahrens entweder noch nicht existierte oder zwar schon vorhanden war, aber ohne Verschulden des Betroffenen nicht oder nicht rechtzeitig beigebracht werden konnte (BVerwG, Urteil vom 21.4.1982 NJW 1982, 2204). Sachverständigengutachten sind nur dann neue Beweismittel, wenn sie nicht nur nach Abschluss des ersten Verfahrens erstellt wurden, sondern auch zusätzlich neue, nämlich seinerzeit nicht bekannte, Tatsachen verwerten (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.1.1994 BayVBl 1994, 632).

Auch muss das neue Beweismittel in Verbindung mit dem Antragsvorbringen geeignet erscheinen, dem Antrag zum Erfolg zu verhelfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.1982 NJW 1982, 2204). Weiter muss - ebenfalls bereits für die Zulässigkeit - die Eignung des Beweismittels für eine günstigere Entscheidung schlüssig dargelegt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.4.1982 a.a.O.; Beschluss vom 18.9.1989 NVwZ 1990, 359). Selbst ein zulässiger Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bzw. auf Durchführung eines neuen Asylverfahrens würde noch nicht zum Wiederaufgreifen bzw. zur Durchführung ausreichen. Vielmehr müsste der Antrag auch begründet sein. Begründet ist er nur, wenn feststeht, dass das neue Beweismittel tatsächlich eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte (BVerwG, Urteil vom 21.4.1982 a.a.O.).

Die die Klägerin betreffenden Atteste der Facharztpraxis vom 4. Mai 2007 und 16. November 2007 sind danach zwar "neu", weil sie im ersten Asylverfahren nicht vorlagen. Es werden auch damals nicht bekannte Umstände verwertet.

Sie sind aber deshalb nicht zur Durchführung eines neuen Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG geeignet, weil nicht erkennbar ist, inwieweit die diagnostizierten schweren depressiven Episoden, ausgelöst im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), gesundheitliche Beeinträchtigungen darstellen, die sich bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan in einem angemessenen Prognosezeitraum wesentlich oder gar lebensbedrohend verschlechtern würden. Von einer solchen wesentlichen Verschlechterung kann nicht schon dann gesprochen werden, wenn eine Heilung eines gegebenen Krankheitszustands nicht zu erwarten ist. Denn § 60 Abs. 7 AufenthG soll nur vor gravierender Beeinträchtigung der Rechtsgüter von Leib und Leben schützen, nicht aber eine Heilung von Krankheiten unter Einsatz des sozialen Netzes der Bundesrepublik sichern. Weiter kommt eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands nur bei einer Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, nicht aber schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustands in Betracht (BVerwG, Beschluss vom 24.6.2006 InfAuslR 2006, 485). Störungen psychischer Art, wie sie hier geltend gemacht werden, führen aber nicht zwangsläufig zu wesentlichen oder gar lebensbedrohenden Beeinträchtigungen der Gesundheit (vgl. VG Braunschweig NVwZ-RR 2005, 65). Wenn traumatisierende Ereignisse den rezidivierenden Episoden zugrunde liegen sollen (erstmals Attest vom 16.11.2007), ist dies in Bezug auf die hierfür angegebene "schwere erlittene lang anhaltende körperliche Gewalt" in Aserbaidschan schon deshalb nicht ohne weiteres nachvollziehbar, weil ein um mehr als sechs Monate nach dem Trauma verzögerter Eintritt nach der fachwissenschaftlichen Literatur selten ist (vgl. OVG Münster NVwZ-RR 2005, 359; VG Braunschweig a.a.O. m.w.N.). In derartigen Fällen setzt eine nachvollziehbare fachärztliche oder fachpsychologische Diagnose eine einzelfallbezogene Würdigung der Umstände voraus, für die hier nichts ersichtlich ist. Vielmehr wurden Angaben der Klägerin wohl ungeprüft übernommen, die immerhin zweifelhaft sind.

Inwieweit sich Verschlechterungen im Zielstaat ergeben können, wird ferner nicht dargelegt.

II. Die Klage ist jedoch im Hinblick auf § 51 Abs. 5 VwVfG i. V. m. § 48 f. VwVfG begründet. § 51 VwVfG, der in Bezug auf § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in vollem Umfang anwendbar ist, schließt nicht aus, dass die Behörde nach ihrem Ermessen das Verfahren wieder aufgreifen kann, wie der in § 51 Abs. 5 VwVfG enthaltene Hinweis auf die §§ 48 f. VwVfG zeigt (vgl. BVerwGE 60, 316, 325; BVerwG NJW 1981, 2595; BVerwG NVwZ-RR 1993, 667; und insbesondere zum Wiederaufgreifensantrag in Bezug auf den entsprechenden § 53 AuslG a.F.: BVerwG, Urteil vom 7.9.1999 InfAuslR 2000, 16 = NVwZ 2000, 204 sowie Urteil vom 21.3.2000 NVwZ 2000, 940). Für den Betroffenen besteht ein Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens.

Im vorliegenden Fall kann das Ermessen fehlerfrei nur durch Eintreten in eine erneute Sachbehandlung ausgeübt werden ("Ermessensreduzierung auf Null"). Dies kommt nur dann in Betracht, wenn die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Bescheids schlechthin unerträglich wäre oder Umstände ersichtlich sind, die das Beharren der Beklagten auf der Unanfechtbarkeit ausnahmsweise als Verstoß gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Sitten erscheinen lassen (BVerwGE 44, 333, 336). Das Festhalten an der Rechtskraft kann dann zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen, wenn etwa ein Ausländer andernfalls einer erheblichen Gefahr für Leib oder Leben, nämlich einer extremen individuellen Gefahrensituation, vergleichbar der extremen Gefahrensituation i.S. der Rechtsprechung zur früheren Regelung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.2004 NVwZ 2005, 462).

Dies setzt eine schon unmittelbar drohende extreme Gefährdung, also den alsbaldigen Eintritt des Schadens sowie eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dieses alsbaldigen Schadenseintritts voraus (BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 InfAuslR 2002, 52; Beschluss vom 26.1.1999 InfAuslR 1999, 265).

Diese Umstände sind im vorliegenden Fall in Bezug auf in diesem Verfahren allein entscheidungserhebliche zielstaatsbezogene Umstände, nämlich wegen der geltend gemachten PTBS gegeben.

Aufgrund der beiden Atteste vom 4. Mai 2007 und 16. November 2007 des die Klägerin seit längerer Zeit (ab 16.1.2006) regelmäßig behandelnden Neurologen und Psychiaters lagen hinreichende Anhaltspunkte für eine PTBS mit schweren depressiven Episoden vor, wobei nach der Formulierung des Attestes die fehlende Gewährleistung einer Behandlung in ihrem Heimatland sich auch darauf beziehen kann, dass dort eine Behandlung als solche nicht in Betracht kommt, zumal im Attest vom 4. Mai 2007 auf die "schwere und lang anhaltende Gewalt" im Heimatland Bezug genommen wurde. Weiter war zu berücksichtigen, dass der Vortrag der Klägerin zu den die posttraumatische Belastungsstörung auslösenden Umständen bis einschließlich zum Zeitpunkt des Attestes vom 16. November 2007 im Wesentlichen widerspruchsfreie Angaben enthielt. Das Gericht hatte daher, um seiner auf Grund dieser Umstände bestehenden Pflicht nachzukommen, die Sache auch im Hinblick auf § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48 f. VwVfG spruchreif zu machen (vgl. hierzu BVerwG Urteil vom 20. 10. 2004 NVwZ 2005, 462, 463) ein Sachverständigengutachten einzuholen.

Das Gutachten vom 15. Februar 2008 bestätigt die fachärztliche Einschätzung einer PTBS nachvollziehbar und schlüssig unter Angabe der festgestellten PTBS-Symptome. Allerdings setzt sich das Gutachten nicht damit auseinander, dass die Klägerin erstmals gegenüber der Gutachterin eine Vergewaltigung erwähnte, was in Widerspruch zu ihren bisherigen Angaben über das ein Trauma auslösendes Geschehen steht. Die Gutachterin hat sich damit und auch nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass die Klägerin, wie der Gutachterin mitgeteilt wurde, trotz eines Aufenthalts im Bundesgebiet seit April 2004, erst ab Januar 2006 in Behandlung war. Es ist jedoch außerordentlich selten, dass eine PTBS länger als sechs Monate nach dem traumatisierenden Ereignis auftritt (vgl. OVG Schleswig Beschluss vom 14.10.2002 NVwZ-Beil. I 10/2003 S. 86; OVG Münster Beschluss vom 6.9.2004 NVwZ-RR 2005, 359). Gleichwohl hält das Gericht das Gutachten im Hinblick auf die Diagnose einer PTBS noch für hinreichend überzeugend. Zum einen hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung dargelegt, wie es zu dieser späten Behandlung wegen der Krankheitssymptome kam. Zum anderen ist in diesem Verfahrensstadium (nach Beweiserhebung aufgrund einer eingetretenen Verpflichtung, die Sache spruchreif zu machen) zu berücksichtigen, dass sich die PTBS auch erst nach einer mehrjährigen Verzögerung zeigen kann. Ferner kann die späte Aufnahme einer Behandlung mit den erheblichen Scham- und Schuldgefühlen sexualtraumatisierter muslimischer Frauen aus traditionellem Milieu zusammenhängen (vgl. OVG Lüneburg Beschluss vom 26.6.2007 NVwZ-RR 2008, 280 m.w.N.). Der zuletzt genannte Grund wurde im Gutachten ausdrücklich erwähnt und die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung auf ihre deshalb bestehende große Angst vor ihrem Ehemann hingewiesen, so dass insgesamt, auch in Bezug auf den erst spät gemachten Vortrag einer Vergewaltigung und die Beurteilung der Angaben der Klägerin als glaubhaft die Diagnose nachvollziehbar und schlüssig ist.

Nach dem eingeholten Gutachten steht weiter fest, dass die Klägerin in ihrem Heimatland als Zielstaat der Abschiebungsandrohung aus medizinischen Gründen nicht behandelt werden kann, weil in ihrem Fall für eine erfolgreiche Traumatherapie das Erleben von Sicherheit ein elementarer Wirkfaktor ist, was sie in ihrer Heimat aufgrund der dort erlittenen Übergriffe nicht erleben kann. Da die Klägerin dort nicht behandelt werden kann, wird sich nach den nachvollziehbaren Darlegungen der Gutachtern die Symptomatik der PTBS bei einer Rückführung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erheblich verschlechtern, mit der Gefahr von aktiver Suizidalität. Damit sind die Voraussetzungen für eine extreme individuelle Gefahrensituation gegeben.