VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 07.05.2008 - unbekannt - asyl.net: M13633
https://www.asyl.net/rsdb/M13633
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, fachärztliche Stellungnahme, Glaubwürdigkeit, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation. Denn bei einer Rückkehr dorthin würde er krankheitsbedingt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine extreme individuelle Gefahrensituation geraten.

Vorliegend besteht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sowohl das konkrete Risiko einer solchen Retraumatisierung wie auch die Gefahr, dass der Kläger keinen Zugang zu einer qualifizierten Behandlung seiner Erkrankung haben würde.

1. Dieser Fülle von fachlich fundierten Aussagen vermag mangels eigener Sachkunde letztlich weder das Bundesamt noch das Gericht etwas entgegenzusetzen.

Insbesondere kann das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht mit der Begründung verneint werden, dass ein singuläres traumatisierendes Ereignis nicht bekannt ist. Es ist vielmehr plausibel, dass gerade bei einem Kleinkind bereits das andauernde Miterleben von Angst und Gewalt in einem von Krieg und Repression überzogenen Land traumatisierend wirken kann. So hatte der Kläger bei der Psychologin angegeben, er habe miterlebt, dass ältere Kinder Schusswaffen gehabt "und auf den Boden vor die Füße von anderen Kindern geballert hätten, so dass diese hüpfen mussten". Dabei sei einmal ein Kind versehentlich in den Arm getroffen worden. Nachts sei er oft aufgeschreckt, weil das Haus von Bombenexplosionen in der Umgebung gebebt habe, die Fensterscheiben hätten in den Rahmen geklirrt. Auf die Frage, was das Schlimmste für ihn gewesen sei, hatte er gesagt, dass Kindern mit Messern in den Bauch gestochen, Kinder bedroht und weggeschleppt worden wären.

Vor diesem Hintergrund ist es weiter durchaus nachvollziehbar, dass bei einer erzwungenen Rückkehr die Gefahr einer "Retraumatisierung" besteht. Mit diesem Begriff wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden. Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z.B. eine schwere depressive oder psychotische Reaktion oder gar eine suizidale Handlung sein. Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. VG Stuttgart, U.v. 14. Januar 2008 - A 11 K 4941/07, Rdnr. 29 f. m.w.N.).

2. Dem kann nicht entgegengehalten werden, diese Gefahr ließe sich durch ein Ausweichen in einen anderen Teil der Russischen Föderation vermeiden. Zum einen genügen - wie dargelegt - bereits Anklänge an die traumatischen Erlebnisse, um deren Reaktualisierung zu bewirken. Mit dem Auftreten entsprechender Auslöser ist aber landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Hinzu kommen die nach Auskunftslage bestehenden generellen Schwierigkeiten von Personen aus dem Kaukasus, sich außerhalb dieser Region niederzulassen (vgl. AA, Lagebericht vom 13.1.2008, S 27). Bereits aus diesen Gründen lässt sich ein Abschiebungsverbot auch nicht mit der Überlegung verneinen, die erforderliche psychologische oder psychiatrische Betreuung des Klägers könne auch in seinem Herkunftsland erfolgen. Hinzu kommt, dass Menschen mit traumatogenen Störungen zu ihrer Heilung in erster Linie eine sichere Umgebung und stabile Verhältnisse benötigen (vgl. hierzu z.B. die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften - AWMF: Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung).