OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.04.2008 - 21 A 2275/06.A - asyl.net: M13619
https://www.asyl.net/rsdb/M13619
Leitsatz:

Verschlechterung der Menschenrechtslage in Sri Lanka; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung.

 

Schlagwörter: Sri Lanka, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Tamilen, Desertion, LTTE, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Bürgerkrieg, Mitglieder, Unterstützung, Verdacht der Unterstützung, Sicherheitslage, Folter, Anti-Terrorismus-Gesetz, Verhaftung, Inhaftierung, Strafverfahren, Politmalus, Colombo, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Razzien, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Verschlechterung der Menschenrechtslage in Sri Lanka; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung VwGO -).

Seit der Anerkennung des Klägers im Februar 1999 haben sich die Verhältnisse in Sri Lanka nicht dergestalt gebessert, dass die Gefahr einer Verfolgung aus asylerheblichen Gründen geringer geworden wäre. Da eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen nicht hinreichend sicher auszuschließen ist, kann offen bleiben, ob der Kläger darüber hinaus aufgrund neuer andersartiger Umstände einer Verfolgungsgefahr unterliegen könnte und an welchem Wahrscheinlichkeitsmaßstab eine solche Gefahr vor dem Hintergrund der Richtlinie 20041831EG des Rates vom 29. April 2004 - Qualifikationsrichtlinie - zu messen wäre (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 7. Februar 2008 - 10 C 23.07, 10 C 31.07 und 10 C 33.07 - lt. Pressemeldung des BVerwG vom 7. Februar 2008).

Aus dem Senatsurteil vom 24. März 1999 - 21 A 1346/96.A - und den ihm zugrunde liegenden Erkenntnissen folgt, dass sich bis 1999 die Menschenrechtssituation auch in den Konfliktgebieten im Norden und Osten Sri Lankas im Vergleich zu den Vorjahren wesentlich verbessert hatte.

Nach der maßgeblichen heutigen Erkenntnislage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist festzustellen, dass, sich die allgemeine politische Lage in Sri Lanka in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere in Bezug auf das Risiko von Tamilen, wegen des Verdachts der Unterstützung der LTTE verfolgt zu werden, im Vergleich zum Jahr 1999 nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat.

Das Auswärtige Amt hat bereits in seiner Ad-hoc-Information vom 31. Januar 2007 ausgeführt, aufgrund der jüngsten politischen Entwicklungen, insbesondere der teilweisen Wiedereinführung der repressiven Anti-Terrorgesetze im Dezember 2006 und der Einnahme der Vakarai/Ost-Provinz durch srilankische Regierungstruppen am 22. Januar 2007 habe sich die im Asyllagebericht vom 11. Dezember 2006 dargestellte Situation verschärft. Nach dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5. Februar 2008 stellt sich gegenwärtig die Situation in Sri Lanka wie folgt dar: Das bereits seit langem nicht mehr eingehaltene Waffenstillstandsabkommen von Februar 2002 ist zum 16. Januar 2008 vom srilankischen Präsidenten aufgekündigt worden. Regierungstruppen und von der Regierung nicht kontrollierte paramilitärische Einheiten (insbesondere die sog. Karuna-Gruppe oder TMVP - Thamil Makal Viduthalai Pullikal = Tamil People Liberation Tigers -) haben im Sommer.2007 die LTTE aus ihren östlichen Stellungen vertrieben. Die Sicherheitslage verschärft sich weiterhin. Insbesondere kommt es zu Bombenanschlägen mit zahlreichen Todesopfern, die von der Regierung der LTTE zugeschrieben werden. Es kommt zu einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte und von Repressionen seitens der LTTE und mit der Regierung kollaborierender paramilitärischer Gruppen. Das im November und Dezember 2006 weiter verschärfte Notstandsrecht gibt den Sicherheitsbehörden sehr weit gehende Eingriffsrechte mit nur noch sehr eingeschränkter richterlicher Kontrolle. Besonderem Druck ausgesetzt ist die tamilische Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige häufig unter den Generalverdacht der Unterstützung der LTTE-Rebellen gestellt werden. Menschenrechtsverletzungen werden kaum untersucht oder gar strafrechtlich verfolgt. Es gibt zunehmenden Druck auf regierungskritische Medien und massive Versuche, oppositionelle Politiker einzuschüchtern. Tamilen werden nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt, sind aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten. Die ständigen Razzien, PKW-Kontrollen und Verhaftungen schon bei Vorliegen geringster Verdachtsmomente richten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die Wiedereinführung des "Terrorism Prevention Act" Ende 2006 ist die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung kommen muss. Die Unterstützung der LTTE ist mit dem Terrorism Prevention Act erneut strafbar, auch wenn die LTTE in diesem Gesetz nicht ausdrücklich genannt wird. Jeder, der in den Augen der Sicherheitsbehörden der Nähe zur LTTE verdächtig ist, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. In den Augen der Sicherheitsbehörden sind besonders verdächtig Tamilen, die sich erstmals in dem von der Regierung beherrschten Gebiet niederlassen wollen. Srilanker, die in der Vergangenheit seitens der Sicherheitsbehörden oder der LTTE verfolgt wurden, müssen seit Ende Dezember 2006 mit erneuter Verfolgung und Beeinträchtigung ihrer Sicherheit rechnen. Dies trifft auch auf Personen zu, die sich in den vom Bürgerkrieg bislang verschonten Gebieten der Insel einschließlich der Hauptstadt Colombo aufhalten. Auch in diesen "friedlichen" Regionen gehören Razzien und nächtliche Verhaftungsaktionen seit Anfang 2007 zur Tagesordnung. 90 v.H. der im Zusammenhang mit Terrorismusbekämpfung und Sicherheitsprävention Verhafteten sind Tamilen. Diese sind weit überproportional von Festnahmen und längeren Haftzeiten betroffen als andere Bevölkerungsgruppen. Bei Strafverfahren im Zusammenhang mit der Unterstützung der LTTE drohen auch bei relativ geringfügigen Delikten drakonische Haftstrafen. In Verfahren unter dem Terrorism Prevention Act müssen Angeklagte beweisen, das Geständnisse unter Zwang oder Folter erpresst worden sind. Die Untersuchungshaftzeiten sind lang, und es dauert oftmals mehr als ein Jahr, bis überhaupt entschieden wird, ob eine Anklage erhoben wird oder nicht. Die LTTE und die TMVP üben Repressionen bis hin zu Mordanschlägen aus. Es liegen Informationen darüber vor, dass abgeschobene Tamilen aus Deutschland und anderen westlichen Staaten nach ihrer Rückkehr nach Colombo von der LTTE gefoltert und mit Mord bedroht wurden, nachdem sie nicht mit ihr kooperiert hatten. Es gibt innerhalb Sri Lankas keine Gebiete mehr, in denen die beschriebenen Verfolgungshandlungen nicht ausgeübt werden, auch wenn die Intensität der Bedrohung sich in den einzelnen Landesteilen unterscheidet. Die nach dem Waffenstillstand 2002 bestehende Möglichkeit, sich im ganzen Land ohne große Einschränkungen zu bewegen und niederzulassen, existiert nicht mehr. Mit dem im August 2005 wieder eingeführten und im Dezember 2006 verschärften Notstandsrecht haben die Vorwürfe über Folterungen durch die Sicherheitskräfte wieder erheblich zugenommen. Nach einer Aussage des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen wird Folter als gängige Praxis im Rahmen der Terrorismusbekämpfung angewendet. Im Zusammenhang mit ethnischen Spannungen kommt es im Norden und Osten des Landes zu gezielten extralegalen Tötungen, die zumeist auf einzelne Personen oder Personengruppen zielen (Angehörige der Sicherheitskräfte, LTTE-Kader, Karuna-Anhänger, bestimmte Politiker, herausgehobene Persönlichkeiten), ohne dass die Urheberschaft für diese Taten bewiesen werden könnte. Es besteht ein allgemeiner Verdacht, dass ein Teil dieser Taten von den staatlichen Sicherheitskräften, teilweise in Kollusion mit der TMVP, verübt wird. Seit Anfang 2006 sind über 500 Personen verschwunden. Es besteht der allgemeine Verdacht, dass diese Personen von der LTTE und Sicherheitskräften getötet wurden. Ein Asylantrag im Ausland begründet in aller Regel noch keinen Verdacht, der LTTE nahe zu stehen. Ein Anfangsverdacht trifft aber Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Colombo oder dem Süden niederlassen wollen. Ebenso steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war.

Diese Einschätzung der Lage in Sri Lanka wird durch die Auskünfte und Stellungnahmen anderer Organisationen und Gruppen bestätigt.

Wegen der verhältnismäßig schmalen Erkenntnisgrundlage zur aktuellen Situation in der Herkunftsregion des Klägers im Norden Sri Lankas lassen sich derzeit zwar keine abschließenden oder in die Einzelheiten gehenden Bewertungen für diesen Landesteil vornehmen. Gleichwohl kann der Senat aber mit ausreichender Gewißheit feststellen, dass sich die für einen Widerruf maßgeblichen allgemeinen politischen Verhältnisse im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte bzw. die Gefahr asylerheblicher Verfolgungsmaßnahmen seit der Anerkennung des Klägers im Jahr 1999 weder im gesamten Land noch in seiner Herkunftsregion verbessert haben. Das gilt insbesondere für den Kläger, der sich - die Feststellungen des Anerkennungsbescheids zugrunde gelegt - unerlaubt von der LTTE entfernt hat.