VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 30.05.2008 - 5 K 435/06.A - asyl.net: M13528
https://www.asyl.net/rsdb/M13528
Leitsatz:

Asylanerkennung eines myanmarischen Staatsangehörigen wegen illegaler Ausreise, unerlaubten Verbleibens im Ausland und Asylantragstellung; myanmarische Staatsangehörige sind in Thailand nicht vor Abschiebung nach Myanmar sicher.

 

Schlagwörter: Myanmar, illegale Ausreise, unerlaubtes Verbleiben im Ausland, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Folter, Strafverfahren, Inhaftierung, Menschenrechtslage, Oppositionelle, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Verfolgungszusammenhang, sonstige Drittstaaten, Thailand (A), Verfolgungssicherheit
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 1; AsylVfG § 27 Abs. 1; AsylVfG § 27 Abs. 3
Auszüge:

Asylanerkennung eines myanmarischen Staatsangehörigen wegen illegaler Ausreise, unerlaubten Verbleibens im Ausland und Asylantragstellung; myanmarische Staatsangehörige sind in Thailand nicht vor Abschiebung nach Myanmar sicher.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter.

Denn selbst bei der Annahme, dass die Schwelle einer asylrechtsbegründenden Verfolgungsgefahr im Zeitpunkt der Ausreise noch nicht überschritten war, steht dem Kläger das Asylrecht im Sinne des Art. 16 a GG zu, weil er bei einer Rückkehr in sein Heimatland zum jetzigen Zeitpunkt und auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wäre.

Denn nach der Erkenntnislage ist – und davon ist wohl auch das Bundesamt bei seiner Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG ausgegangen (vgl. den Vermerk vom 25. Oktober 2006, Bl. 75 f. der BA I) – damit zu rechnen, dass der Kläger aufgrund seiner illegalen Ausreise und Asylantragstellung bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit erheblichen staatlichen Repressionen zu rechnen hätte. In Myanmar werden Personen, die – wie der Kläger – das Land ohne gültige Reisepapiere verlassen haben, wegen Gefährdung der Sicherheit und des Friedens des Landes nach dem "Immigration Act" von 1947 bzw. dem 1950 erlassenen Notstandsgesetz ("Emergency Provisions Act") bestraft. Rückkehrer werden in der Regel direkt am Flughafen von myanmarischen Sicherheitskräften empfangen und verhört. Es besteht dabei die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung. Auch das Stellen eines Asylantrages im Ausland wird, wenn es den myanmarischen Behörden, die in Deutschland vermutlich über ein Spitzelsystem verfügen, bekannt wird, als regierungsfeindliche Aktivität betrachtet und entsprechend geahndet (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 25. September 2002 an VG Kassel; amnesty international, Auskunft vom 2. September 2005 an VG Wiesbaden; Dr. Frasch, Auskunft vom 3. Juni 2004 an VG Wiesbaden; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 2. Februar 2006; Siemers, Auskunft vom 14. Juni 2004 an VG Wiesbaden; Burma Büro e.V., Auskunft vom 25. Mai 2004 an VG Wiesbaden; Asienstiftung, Auskünfte vom 12. November 2007 an VG Karlsruhe und vom 14. Oktober 2004 an VG Wiesbaden; UNHCR, Auskünfte vom 2. November 2007 an VG Karlsruhe und vom 12. Oktober 2007 an Bundesamt).

Die Auskunft gebenden Stellen berufen sich bei ihrer Einschätzung der Gefährdungssituation dabei auf den Fall des aus der Schweiz abgeschobenen Asylsuchenden Stanley Van Tha, der bei seiner Rückkehr nach Myanmar verhaftet und dort zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Die myanmarischen Behörden begründeten ihr Urteil vom 17. August 2004 mit der Tatsache, Stanley Van Tha habe in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt und dies mit politischen Aktivitäten begründet. Somit habe er die Sicherheit und den Frieden des Landes nach Art. 5 (J) des Emergency Act gefährdet (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27. April 2005 an VG Gießen).

Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, bei dem Schicksal des Stanley Van Tha handele es sich um einen Einzelfall, der keinen Rückschluss auf eine übliche Praxis der myanmarischen Sicherheitsbehörden erlaube (so aber: Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22. März 2007 an Bundesamt).

Diesem Einzelfall kommt vielmehr ein erhebliches Gewicht im Hinblick auf die allgemeine Situation von nach Myanmar zurückkehrenden bzw. dorthin abgeschobenen Asylsuchenden zu. Denn Myanmar zählt nach Ansicht aller neutralen Beobachter zu den repressivsten Staaten weltweit, die Menschenrechtslage ist seit Jahren unverändert prekär. Massive Restriktionen, Drangsalierungen und Einschüchterungen oppositioneller Kräfte stehen an der Tagesordnung. "Regierungsfeindliche" Aktivitäten, auch friedliche Proteste, werden, wie die blutige Niederschlagung der Proteste im Herbst 2007 erneut gezeigt hat, systematisch verfolgt und bestraft. Die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die Symbolfigur der Opposition, steht seit mehr als einem Jahrzehnt trotz intensiver Proteste der Weltöffentlichkeit unter Hausarrest. Grundlegende Bürgerrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf ein faires Verfahren werden versagt, zahlreiche schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen sind dokumentiert und belegt. Myanmar stellt sich angesichts der seit Jahrzehnten anhaltenden Diktatur der Militärjunta demnach ohne Zweifel als Unrechtsstaat dar, in dem oppositionspolitisch auffällig gewordene Menschen landesweit von Verfolgung bedroht sind (vgl. u.a. amnesty international, Auskunft vom 2. September 2005 an VG Wiesbaden; ebenso: u.a. VG Gießen, Urteile vom 20. September 2005 - 5 E 2239/04.A - und vom 26. Februar 2007 - 5 E 106/06.A -, beide <juris>; VG Wiesbaden, Urteil vom 23. November 2005 - 6 E 2046/03.A (V) -; VG Münster, Urteil vom 19. Mai 2006 - 1 K 1216/04.A -, <juris>; sowie zuletzt: VG Karlsruhe, Urteil vom 14. August 2007 - A 11 K 586/07 -, jeweils m.w.N.).

Angesichts dieser weitgehend durch staatliche Willkür und brutales Vorgehen auch gegen vermeintlich Oppositionelle gekennzeichneten Situation in Myanmar ist davon auszugehen, dass der Fall des Stanley Van Tha keinen Einzelfall darstellt, sondern als erster bekannt gewordener Fall die generelle Praxis des Militärregimes Myanmars im Umgang mit zurückkehrenden Asylsuchenden widerspiegelt (vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 12. Juni 2007 - 5 ZU 2914/05.A -, <juris>; VG Münster, Urteil vom 19. Mai 2006 - 1 K 1216/04.A -, a.a.O.; VG Gießen, u.a. Urteile vom 6. April 2006 - 5 E 2239/05.A -, <juris>, und vom 26. Februar 2007 - 5 E 2106/06.A -, a.a.O.; VG Kassel, Urteile vom 6. Juni 2007 - 1 E 376/06.A - und vom 16. August 2007 - 1 E 382/06.A -, beide <juris>; VG München, u.a. Urteil vom 3. April 2007 - M 17 K 06.51155 -, <juris>; VG Minden, Urteil vom 13. Februar 2006 - 4 K 4414/03.A -, <juris>; a.A.: VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 10. Oktober 2007 - RN 2 K 07.30056 <juris>).

Allerdings gehören die eine politische Verfolgung nach sich ziehende Beantragung von Asyl bzw. eine die Gefahr einer politisch motivierten Bestrafung auslösende Republikflucht nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den sogenannten subjektiven Nachfluchtgründen, die nach § 28 Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) grundsätzlich nicht zu einer Anerkennung als Asylberechtigter führen.

Dies gilt für die Asylantragstellung deshalb, weil eine möglicherweise durch den B. ausgelöste Verfolgung zeitlich erst nach der Ausreise vom gesicherten Ort aus und aufgrund der subjektiven Willensentschließung des Asylsuchenden entsteht. Der Verfolgung ist daher nicht die von Art. 16 a GG grundsätzlich vorausgesetzte Ursächlichkeit für die Flucht eigen (vgl. BVerwG, u. a. Urteil vom 30. August 1988 - 9 C 80.87 -, BVerwGE 80, 131).

Entsprechendes gilt für eine Verfolgung durch Bestrafung wegen Republikflucht, und zwar sowohl in der Form des illegalen Verbleibens im Ausland nach legaler Ausreise als auch wegen der Bestrafung infolge illegaler Ausreise.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist allerdings auf der Grundlage der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen allgemeinen Leitlinie zur grundsätzlichen Unerheblichkeit selbstgeschaffener subjektiver Nachfluchtgründe (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. November 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51) entschieden, dass Republikflucht und Asylantragstellung als selbstgeschaffene, Verfolgung auslösende Umstände ausnahmsweise dann zu einer Asylgewährung führen, wenn sich der Asylsuchende vor seiner Ausreise im Heimatstaat bei objektiver Betrachtung in einer politisch bedingten Zwangslage in Form einer sogenannten latenten Gefährdungslage befand. Das Vorliegen einer latenten Gefährdungslage stellt den Ausgleich für den fehlenden, aber grundsätzlich erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung, Flucht und Asyl her, damit nicht allein durch eine erstmalige risikolose Verfolgungsprovokation aus der Bundesrepublik Deutschland ein Asylanspruch für den Asylsuchenden geschaffen wird. Beide subjektiven Nachfluchtgründe müssen also Folge einer im Heimatstaat vorhandenen Zwangslage gewesen sein (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. August 1988 - 9 C 80.87 -, a.a.O., vom 6. Dezember 1988 - 9 C 22.88 -, a.a.O., vom 17. Januar 1989 - 9 C 56.88 -, BVerwGE 81, 170, vom 30. Mai 1989 - 9 C 62.88 -, DÖV 1989, 995, und vom 31. März 1992 - 9 C 57.91 -, NVwZ 1993, 193).

Eine latente Gefährdungslage ist dann anzunehmen, wenn dem Ausländer vor seiner Ausreise im Heimatstaat politisch bedingte Übergriffe zwar noch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohten, nach den gesamten Umständen jedoch auf absehbare Zeit auch nicht hinreichend sicher auszuschließen waren, weil Anhaltspunkte vorlagen, die ihren Eintritt als nicht ganz entfernt erscheinen lassen. Es genügt nicht die theoretische Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden. Erforderlich ist, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Januar 1989 - 9 C 56.88 -, a.a.O., und vom 30. Mai 1989 - 9 C 62.88 -, a.a.O.).

Ausgehend hiervon hat sich der Kläger zur Überzeugung des Gerichts bei seiner illegalen Ausreise bei objektiver Betrachtung in einer latenten Gefährdungslage befunden. Aufgrund des gesamten Akteninhalts, der Ergebnisse der Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und des persönlichen Eindrucks, den die Kammer in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewinnen konnte, steht für die Kammer fest, dass sowohl das illegale Verlassen seines Heimatstaates als auch die Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts in seinem Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen. Der Kläger hat sich bereits vor seiner Ausreise in Myanmar derart politisch betätigt, dass politische Verfolgung aus geringfügigem Anlass nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden konnte.

Eine Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter ist auch nicht nach § 27 Abs. 1 und 3 AsylVfG ausgeschlossen. Denn es ist davon auszugehen, dass der Kläger nicht in einem sonstigen Drittstaat im Sinne des § 27 Abs. 1 AsylVfG vor politischer Verfolgung sicher war.

Der Kläger hat sich dem Akteninhalt nach illegal in Thailand aufgehalten. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich sein Aufenthalt in Thailand etwa durch die Aufnahme einer Berufstätigkeit und/oder die auf Dauer angelegte Anmietung einer Wohnung in der Art verfestigt hatte, dass es sich um einen "stationären" Aufenthalt und damit um eine Zäsur im Fluchtgeschehen gehandelt hat. Nach dem insoweit glaubhaften Vortrag des Klägers stellte sein Aufenthalt in Thailand lediglich eine Zwischenstation auf seiner Flucht in einen sicheren Schutzstaat dar.

Für die Einschätzung einer fehlenden Verfolgungssicherheit in Thailand ist für die Kammer auch der Umstand maßgeblich, dass nach der Erkenntnislage davon auszugehen ist, dass myanmarische Staatsangehörige in keinem Landesteil Thailands vor einer Abschiebung nach Myanmar sicher sind. Schätzungen zufolge hielten sich im Jahre 2005 noch etwa 140.000 Flüchtlinge in Flüchtlingslagern entlang der Grenze auf. Illegal in Thailand aufhältigen Myanmarern wird kein Aufenthaltsrecht zuerkannt. Nach Informationen von Human Rights Watch schiebt Thailand monatlich bis zu 10.000 Personen nach Myanmar ab. Seit Juni 2003 gibt es ein "Memorandum of Understanding" zwischen der thailändischen Regierung und der Militärregierung von Myanmar, wonach monatlich 400 illegal eingereiste Personen aus Myanmar aus einem Abschiebegefängnis in Bangkok abgeschoben und direkt in eine von der Militärregierung betriebene Einrichtung in Myawaddy/Myanmar gebracht werden. Im März 2005 verkündete die thailändische Regierung, dass alle Flüchtlinge, also auch die seit Jahren in Bangkok und anderen Städten ansässigen, binnen drei Wochen in Lager an der Grenze ziehen müssten.Wer nach Fristablauf außerhalb dieser Lager aufgegriffen werde, werde unverzüglich abgeschoben. Allein im thailändischen Ort Mae Sot, also dem Ort, in dem der Kläger sich aufgehalten hat, wurden von Oktober 2002 an innerhalb von etwa drei Monaten 8.000 Personen nach Myanmar abgeschoben (vgl. amnesty international, Auskunft vom 2. September 2005 an VG Wiesbaden; Asienstiftung, Auskunft vom 14. Oktober 2004 an VG Wiesbaden; Siemers, Auskunft vom 14. Juni 2004 an VG Wiesbaden).