VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 12.06.2008 - 8 K 3509/07 - asyl.net: M13516
https://www.asyl.net/rsdb/M13516
Leitsatz:

Das Fehlen einer Duldung während kürzerer Zeiträume steht einem ununterbrochen geduldeten Aufenthalt i. S. v. § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht entgegen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Altfallregelung, Aufenthaltsdauer, Duldung, Verlängerungsantrag, verspäteter Antrag, Anspruch, Unterbrechung, Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung, Mitwirkungspflichten, Passbeschaffung, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Passpflicht, Libanon, Palästinenser, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4; AufenthG § 85; AufenthG § 48 Abs. 3; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4; AufenthG § 5 Abs. 3
Auszüge:

Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG in vollem Umfang.

1. Die Zeiten, während derer der Kläger über keine Duldung verfügt hat, stehen der Annahme eines ununterbrochen geduldeten Aufenthalts in der Bundesrepublik im Sinne von § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht entgegen.

Die weiteren beiden Zeiträume im Jahr 2004, in denen der Kläger seine Duldung um wenige Tage verspätet beantragt hat, führen nicht zu einer rechtlich relevanten Unterbrechung des geduldeten Aufenthalts. Zwar verlangt der Wortlaut des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG einen ununterbrochen geduldeten Aufenthalt, was durchaus so verstanden werden kann, dass jede auch nur ganz geringfügige Zeitspanne, während derer der Betroffene über kein Duldungspapier verfügt hat, einem Anspruch entgegensteht. Eine solche Auslegung steht indes mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht in Einklang. Denn die Vorschrift bezweckt eine Begünstigung derjenigen Ausländer, die faktisch und wirtschaftlich im Bundesgebiet integriert sind und sich rechtstreu verhalten haben (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 202). Zu dieser Gruppe gehören auch diejenigen Ausländer, bei denen geringfügige Unterbrechungen bei den förmlich erteilten Duldungen vorhanden sind. Entscheidend ist insofern nicht, dass tatsächlich stets Duldungen erteilt worden sind, sondern dass stets ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung bestanden hat. Die Anspruchsposition ist insofern der tatsächlich erteilten Duldung gleichzustellen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 104a, Rn. 13). Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Betroffene untergetaucht ist und sich so dem Zugriff der Ausländerbehörde entzogen hat. Ein solches Verhalten schließt einen Anspruch bereits gemäß § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG aus.

Für ein solches Verständnis spricht die weitere Gesetzesbegründung. Danach lehnt sich die Vorschrift des § 104a AufenthG eng an den Bleiberechtsbeschluss der Innenministerkonferenz vom 17.11.2006 an (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 202), den die Beklagte in der Weisung 1/2006 vom 29.11.2006 umgesetzt hat. Nach dem Bleiberechtsbeschluss war lediglich ein – allenfalls durch kurze Auslandsbesuche unterbrochener – ständiger Aufenthalt in der Bundesrepublik von acht bzw. sechs Jahren erforderlich.

Allerdings wurde eine Verzögerung bzw. Behinderung der Aufenthaltsbeendigung nach Ziffer 1.7.1 der Weisung 1/2006 dann angenommen, wenn sich der Betroffene länger als drei Monate im Bundesgebiet aufgehalten hatte, ohne zumindest die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) beantragt zu haben. Auch dies spricht dafür, Unterbrechungen bei den förmlich erteilten Duldungen nur dann zu berücksichtigen, wenn diese als Untertauchen in diesem Sinne anzusehen sind.

Selbst wenn man dieser Auslegung des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht folgen wollte, ist jedenfalls § 85 AufenthG entsprechend anzuwenden (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 104a, Rn. 13). Der Sinn und Zweck der Vorschrift, geringfügige Unterbrechungen des rechtmäßigen bzw. – in entsprechender Anwendung der Vorschrift – förmlich geduldeten Aufenthalts bei der Bemessung von Aufenthaltszeiten außer Betracht zu lassen, greift auch bei § 104a Abs. 1 AufenthG ein. Auch hier vermögen Unterbrechungen von nur wenigen Tagen, also Unterbrechungen mit Bagatellcharakter, kein Gewicht zu erlangen, das es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten erlauben würde, einen Aufenthaltstitel zu versagen. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu den Ausschlussgründen des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 – 6 AufenthG. Diese wiegen allesamt weit schwerer als der kurzzeitige und rechtlich allenfalls durch ein Ordnungswidrigkeitenverfahren geahndete Aufenthalt im Bundesgebiet ohne ein Duldungspapier.

2. Dem Kläger kann nicht vorgehalten werden, dass er die Beklagte vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht oder behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert hat (§ 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Bei der Auslegung dieser Vorschrift ist nach der Rechtsprechung der Kammer – wie es auch die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern vom 02.10.2007 (PGZU – 128 406/1) vorsehen – ein großzügiger Maßstab anzulegen (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 30.01.2008 – 8 K 3678/07, juris). Dies erfordert eine enge Auslegung der Tatbestandsmerkmale, sodass lediglich Handlungen von einigem Gewicht den Tatbestand erfüllen. Bloße Verstöße gegen allgemeine Mitwirkungspflichten etwa nach § 48 Abs. 3 AufenthG genügen nicht. § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ist deshalb nicht einschlägig, wenn es ein Ausländer an hinreichenden selbstinitiativen Bemühungen um einen Pass fehlen lässt. Die Begriffswahl, die an bestimmte Handlungen anknüpft und die fehlende Mitwirkung bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gerade nicht aufführt, weist vielmehr darauf hin, dass eine unterlassene Mitwirkung nur dann den Tatbestand erfüllt, wenn dem eine konkrete Aufforderung der Ausländerbehörde zu einer ganz bestimmten Mitwirkungshandlung vorausgegangen ist (vgl. ebenso OVG Münster, Beschl. v. 12.02.2008 – 18 B 230/08, juris; VG Hamburg, Urt. v. 14.02.2008 – 10 K 2790/07, zur Veröffentlichung in juris vorgesehen, Urt. v. 21.05.2008 – 8 K 1025/07, juris). Gemessen daran steht § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG einem Anspruch der Kläger nicht entgegen.

Dem Kläger kann nicht das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a und 4 AufenthG entgegengehalten werden.

Dem weiteren Einwand der Beklagten, die Nichterfüllung der Passpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG i.V. mit § 3 AufenthG stehe der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegen, vermag das Gericht nicht zu folgen. Nach der oben dargelegten offiziellen Haltung der Botschaft des Libanon kann der Kläger ohne Vorlage eines Aufenthaltstitels oder einer entsprechenden Zusicherung keinen Pass erhalten. Die palästinensische Generaldelegation stellt Pässe für palästinensische Flüchtlinge aus dem Ausland im Grundsatz überhaupt nicht aus. Ein zumutbarer Weg, wie der Kläger gleichwohl einen Pass erlangen kann, ist weder von der Beklagten dargetan worden noch sonst ersichtlich (vgl. § 48 Abs. 2 AufenthG). Gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG muss die Beklagte deshalb von der Erfüllung der Passpflicht absehen. Das ihr nach dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen ist zugunsten des Klägers auf Null reduziert.