VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 17.06.2008 - 6 A 1114/07 - asyl.net: M13496
https://www.asyl.net/rsdb/M13496
Leitsatz:

Ein Ausweisungsregeltatbestand des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist auch weiterhin nur dann nicht gegeben, wenn ein Ausnahmefall sowohl im Hinblick auf spezialpräventive wie auch auf generalpräventive Gründe der Ausweisung vorliegt.

Die einzelfallbezogene Berücksichtigung besonderer persönlicher Umstände im Leben und Verhalten des Ausländers, welche seine Ausweisung im Hinblick auf die mit ihr verfolgten Ziele als unverhältnismäßig im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschlüsse vom 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 - und 10.8.2007 - 2 BvR 535/06) erscheinen lassen, hat erst bei der Anwendung der Rechtsfolge des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG stattzufinden, also im Rahmen der Prüfung, ob angesichts des Vorliegens eines Ausweisungstatbestands des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG konkret ein Regelfall der zu verfügenden Ausweisung vorliegt.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Regelausweisung, atypischer Ausnahmefall, Generalprävention, Spezialprävention, Drogendelikte, Wiederholungsgefahr, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention
Normen: AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 3, GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Ein Ausweisungsregeltatbestand des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist auch weiterhin nur dann nicht gegeben, wenn ein Ausnahmefall sowohl im Hinblick auf spezialpräventive wie auch auf generalpräventive Gründe der Ausweisung vorliegt.

Die einzelfallbezogene Berücksichtigung besonderer persönlicher Umstände im Leben und Verhalten des Ausländers, welche seine Ausweisung im Hinblick auf die mit ihr verfolgten Ziele als unverhältnismäßig im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschlüsse vom 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 - und 10.8.2007 - 2 BvR 535/06) erscheinen lassen, hat erst bei der Anwendung der Rechtsfolge des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG stattzufinden, also im Rahmen der Prüfung, ob angesichts des Vorliegens eines Ausweisungstatbestands des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG konkret ein Regelfall der zu verfügenden Ausweisung vorliegt.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Klage ist nicht begründet.

Die Ausweisung des Klägers, deren Rechtmäßigkeit gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach Maßgabe der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu beurteilen ist (BVerwG, Urt. vom 15.11.2007 - BVerwG 1 C 45.06 - NVwZ 2008 S. 434 ff.), findet ihre Rechtsgrundlage in den speziellen Regelungen des § 56 Abs. 1 AufenthG, denn der Kläger genießt gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 1 AuslG als Ausländer, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, besonderen Ausweisungsschutz.

Ein von dem Regeltatbestand des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG abweichender Sachverhalt liegt nicht vor. Die im Gesetz mit der Beschreibung "in der Regel" eröffnete Möglichkeit, von der tatsächlichen Annahme des Vorliegens schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (auch) in den Fällen der schweren Betäubungsmittelkriminalität abzuweichen, ermöglicht es, das Tatbestandsmerkmal des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG unter Anwendung eines Regel-Ausnahme-Prinzips einzelfallbezogen zu korrigieren. Das bedeutet, dass ein Ausweisungsregeltatbestand des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur dann nicht gegeben ist, wenn ein Ausnahmefall sowohl im Hinblick auf spezialpräventive wie auch auf generalpräventive Gründe der Ausweisung des Ausländers vorliegt (VGH Mannheim, Beschluss v. 20.11.2007 - 11 S 2364/07 -, InfAuslR 2008 S. 81, 83). Dagegen betrifft die einzelfallbezogene Berücksichtigung besonderer persönlicher Umstände im Leben und Verhalten des Ausländers, welche seine Ausweisung im Hinblick auf die mit ihr verfolgten Ziele als unverhältnismäßig erscheinen lassen, den Vorgang der Abwägung zwischen dem Gewicht der rechtlich geschützten Interessen des Ausländers einerseits und dem Gewicht der mit der Ausweisungsverfügung verfolgten öffentlichen Interessen andererseits. Sie hat daher erst bei der Anwendung der in § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG normierten Rechtsfolge der Ausweisungsvorschrift stattzufinden, also im Rahmen der Prüfung, ob angesichts des Vorliegens eines Ausweisungstatbestands des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG konkret ein Regelfall der zu verfügenden Ausweisung vorliegt (ebenso: VGH Mannheim, a.a.O., S. 83; OVG Münster, Beschluss v. 17.02.2000 - 18 B 101/00 - InfAuslR 2000 S. 383, 384).

Dieser, durch die Gesetzestechnik vorgegebene getrennte Prüfung zunächst der Tatbestands- und sodann der Rechtsfolgenseite der Norm stehen die Gründe der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - (InfAuslR 2007 S. 275 ff.) und 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 - (InfAuslR 2007 S. 443 ff., AuAS 2008 S. 2 ff.) nicht entgegen. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss vom 10. August 2007 (a.a.O.) ausdrücklich hervorgehoben, dass die Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG mit dem System der sog. Ist-, Regel- und Kann-Ausweisungen den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen grundsätzlich in ausreichender Weise Rechnung tragen. Insbesondere hat das Bundesverfassungsgericht nicht die generalpräventive Zielsetzung einer Ausweisung zur Begründung eines Regelfalles des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für unzulässig erklärt, sondern nur hervorgehoben, dass in den Fällen besonderen Ausweisungsschutzes sowohl bei general- wie auch spezialpräventiv motivierten Ausweisungen, die ihren Anlass im Bereich der Drogenkriminalität finden, die Umstände der begangenen Tat sowie die persönlichen Verhältnisse des Ausländers sorgfältig von Amts wegen ermittelt und gewürdigt werden müssen, was regelmäßig die Einsicht in die Strafakten ebenso unerlässlich macht wie genaue Feststellungen zu den Bindungen des Betroffenen an die Bundesrepublik Deutschland und an seinen Heimatstaat (BVerfG, Beschluss vom 10.8.2007, a.a.O.). Denn dies ist Voraussetzung für eine gründliche und einzelfallbezogene Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Beurteilung, ob von der Ausweisungsregel nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG abgewichen werden muss. Danach ist es entgegen der von dem Kläger vertretenen Auffassung nicht unzulässig, im Ergebnis entscheidend auf die Schwere der begangenen Straftat und die abschreckenden Wirkung der Ausweisung abzustellen. Unzulässig ist es vielmehr, die Ausweisungsvorschriften unter Hinweis auf das Regel-Ausnahme-System schematisch anzuwenden, die im Einzelfall gegen eine Ausweisung sprechenden Gründen aus dem Verhalten und den Lebensumständen des Ausländers ganz auszublenden oder mit Hinweis auf die Möglichkeit einer nachträglichen Befristung der Ausweisung nicht ausreichend zu würdigen (BverfG, Beschlüsse vom 10.5.2007 und 10.8.2007, a.a.O.).

Auch in diesem Zusammenhang gilt aber weiterhin der Grundsatz, dass sich die Worte "in der Regel" im System der Rechtsgrundlagen für Aufenthaltstitel sowie der Ausweisungstatbestände nach ständiger Rechtsprechung auf Regelfälle beziehen, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen, wobei sich ein Ausnahmefall auch aus der Bedeutung eines höherrangigen Rechts oder Vorschriften der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergeben kann (BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - BVerwG 1 C 10.7 -, AuAS 2008 S. 28 f., m.w.N.).

Die Ausweisung des Klägers durfte danach sowohl auf spezial- wie auch auf generalpräventive Gründe gestützt werden.

Schließlich durfte die Beklagte den Kläger auch gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG als Regelfall eines auszuweisenden Täters einer vorsätzlichen Straftat nach dem BTMG (§ 53 Nr. 2 AufenthG) ansehen und ihn ausweisen, ohne damit in unverhältnismäßiger Weise seine persönlichen (Bleibe-) Interessen des Klägers außer Acht gelassen zu haben:

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - (a.a.O.) ist im Rahmen der Interessenabwägung nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG einerseits zu prüfen, ob sich der von der Ausweisung bedrohte Ausländer auf familiäre Bindungen im Bundesgebiet berufen kann, die nach Art. 6 Abs. 1 GG in Gestalt einer tatsächlich gelebten gegenseitigen Beistands- und Schutzgemeinschaft schutzwürdig wären, was der Kläger aber - wie bereits ausgeführt - nicht dargelegt hat. Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht auch verlangt, dass bei der Prüfung von Ausweisungsverfügungen dem von Art. 8 Abs. 1 EMRK gleichermaßen geschützten Recht auf Achtung des Privatlebens Beachtung geschenkt wird. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK dahingehend umschrieben, dass das Recht auf Achtung des Privatlebens die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen umfasst, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt. Ergeben die Feststellungen zu den Bindungen des Betroffenen an die Bundesrepublik Deutschland und an seinen Heimatstaat, dass eine Verwurzelung in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet vorliegt, müssen das Gewicht des langjährigen Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet, seiner Integration in die deutsche Gesellschaft, auch soweit sie keinen familiären Bezug hat, und das substantiiert vorgetragenen Fehlen tatsächlicher Bindungen an den Staat seiner Staatsangehörigkeit im Rahmen der Prüfung, ob eine von der Ausweisungsregel abweichender Sachverhalt vorliegt, berücksichtigt werden (BVerfG, Beschluss vom 10.8.2007, a.a.O. InfAuslR 2007 S. 445, AuAS 2008 S. 3). Das gilt insbesondere dann, wenn die schutzwürdigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet nicht vollständig von dem Katalog des besonderen Ausweisungsschutzes in § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfasst werden, wie dieses beispielsweise bei Ausländern der Fall ist, die seit ihrer Geburt in Deutschland leben (BVerfG, Beschluss vom 10.5.2007, a.a.O.) oder als Bürger der Europäischen Union in Deutschland geboren sind (BVerwG, Urteil vom 23.10.2007, a.a.O, S. 30).

In diesem Sinne schutzwürdige Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland hat der Kläger bisher nur in Gestalt des persönlichen Kontakts zu seinen in C. lebenden Eltern und erwachsenen Geschwistern entwickelt. Dabei lässt es sich aber nicht feststellen, dass diese Beziehungen über reine Begegnungen hinausgingen, wie sie unter verwandten Erwachsenen üblich sind.