VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Beschluss vom 28.01.2008 - 4 G 1417/07(V) - asyl.net: M13427
https://www.asyl.net/rsdb/M13427
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, Regelausweisung, Mord, Ehrenmord, besonderer Ausweisungsschutz, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, atypischer Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, Verhältnismäßigkeit, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Wiederholungsgefahr, Europäisches Niederlassungsabkommen, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug, Begründungserfordernis
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1; AufenhG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; ARB Nr. 1/80 Art. 14; ENA Art. 3 Abs. 3; VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 3
Auszüge:

Der zulässige Antrag ist nicht begründet, weil das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Aufenthaltsbeendigung die privaten Aufschubinteressen des Antragstellers überwiegt.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Ausweisung wurde von der Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 3 VwGO ordnungsgemäß gesondert schriftlich begründet. Auch hat sie ein besonderes Vollzugsinteresse im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO dargetan, indem sie darauf hinweist, dass beim Antragsteller eine Wiederholungsgefahr nicht auszuschließen sei, der nur durch eine schnelle Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet entgegengewirkt werden könne. Auch aus generalpräventiven Gründen sei eine rasche Ausweisung erforderlich.

Die danach vorzunehmende summarische Prüfung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verfügung lässt diese insgesamt als rechtmäßig erscheinen. Der Antragsteller ist mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 23.08.2006 wegen gemeinschaftlichen Mordes zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Damit erfüllt er die Voraussetzungen des § 53 Nr. 1 AufenthG, wonach ein Ausländer ausgewiesen wird, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.

Zugunsten des Antragstellers greift auch nicht der besondere Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG. Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genießt ein Ausländer, der - wie der Antragsteller - eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, besonderen Ausweisungsschutz. Dies führt dazu, dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden darf (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, Nr. 5a und 7 AufenthG vor (§ 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Beim Antragsteller ist der Fall des § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben, so dass er unter die Regelung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG fällt.

Diese vom Gesetzgeber für den Regelfall vorgenommene gesetzliche Wertung bedarf im Falle des Antragstellers keiner Korrektur. Ein Ausnahmefall ist nämlich nicht gegeben. Weder die Art der der angefochtenen Ausweisung zugrunde liegenden Straftat noch die Art und Weise der Tatausführung lassen Besonderheiten erkennen, die es rechtfertigen könnten, die generalpräventiven Erwägungen zurückzustellen. Bei der vom Antragsteller begangenen Straftat handelt es sich um ein Delikt der Schwerstkriminalität. Der Mord an Y. wurde hinterhältig und auf brutalste Art und Weise ausgeführt. Ein solcher so genannter "Ehrenmord", den der Antragsteller in Mittäterschaft begangen hat, widerspricht in höchstem Maße den Wertvorstellungen einer zivilisierten Welt. Ein solches Delikt erfordert in besonderem Maße eine kontinuierliche Ausweisungspraxis zur Abschreckung anderer Ausländer. Liegt wie hier bereits aus generalpräventiver Sicht kein Ausnahmefall vor, kann darauf verzichtet werden zu prüfen, ob möglicherweise aus spezialpräventiver Sicht eine Atypik gegeben ist. Damit die Regelrechtsfolge des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht eintritt, ist es nämlich erforderlich, dass in Bezug auf beide Ausweisungszwecke ein Ausnahmefall gegeben ist (so Hess. VGH, InfAuslR 1999, 405). Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass im Falle des Antragstellers schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Ausweisung rechtfertigen.

Als weitere Folge des erhöhten Ausweisungsschutzes darf ein Ausländer, der die Voraussetzungen des § 53 AufenthG erfüllt, nur "in der Regel" ausgewiesen werden (§ 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).

Zunächst weist die vom Antragsteller begangene Straftat - wie ausgeführt - weder in der Art noch in den Ausführungen Besonderheiten auf, die ein Abweichen von der gesetzlichen Regel rechtfertigen könnte. Auch im Hinblick auf die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers liegen keine Besonderheiten vor. Der Umstand, dass der Antragsteller seit seinem zweiten Lebensjahr in der Bundesrepublik Deutschland lebt, er sich als Deutscher fühlt, hier mit einer türkischen Staatsangehörigen verheiratet ist und zwei Kinder mit ihr hat, vermag ebenso wenig einen Ausnahmefall von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG begründen, wie der Umstand, dass der Antragsteller möglicherweise seinen Realschulabschluss erreichen könnte. Dies alles sind Umstände, die nicht als so außergewöhnlich anzusehen sind, dass deswegen ein Abweichen von der gesetzlichen Regel geboten wäre.

Beim Antragsteller liegt auch im Hinblick auf höherrangiges Recht kein Ausnahmefall vor. So ist zum einen kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG gegeben, nach dem der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat. Dem Aspekt der Familie wird bereits dadurch Rechnung getragen, dass Ausländern, die mit einem deutschen Familienangehörigen - diese Voraussetzung erfüllt der Antragsteller nicht einmal - in familiärer Lebensgemeinschaft leben, erhöhter Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zugebilligt wird. Liegen außer der familiären Lebensgemeinschaft keine weiteren Besonderheiten vor, bleibt kein Raum für eine darüber hinausgehende Berücksichtigung.

In Bezug auf Art. 8 EMRK hat das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung vertreten, dass die Systematik der Ausweisungstatbestände des Ausländergesetzes dem Art. 8 EMRK gerecht wird (BVerwG, DVBl. 1998, 1028; Hess. VGH, NVwZ-RR 1997, 126). Diese Einschätzung kann auch auf das jetzige Aufenthaltsgesetz übertragen werden, so dass schon danach die Ausweisung des Antragstellers im Einklang mit den §§ 53 ff. AufenthG steht. Selbst wenn man aber gleichwohl im vorliegenden Fall Art. 8 EMRK heranzieht, ist kein Verstoß gegen diese Norm ersichtlich. Absatz 2 dieser Regelung schützt vor Eingriffen einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts, indem er solche Eingriffe unter Gesetzesvorbehalt stellt und auf das in einer demokratischen Gesellschaft bestehende dringliche soziale Bedürfnis zur Wahrung der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ruhe und Ordnung, des wirtschaftlichen Wohles des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer beschränkt. Soweit sich der Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK mit denen des Art. 6 GG deckt, vermittelt er keinen weitergehenden Schutz als dieser (BVerwGE 106, 13). Dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann es aber auch im Hinblick auf die Folgen für den Ausländer selbst widersprechen, durch behördliche Maßnahmen die Voraussetzungen für ein weiteres Zusammenleben mit im Vertragsstaat ansässigen Familienangehörigen zu beseitigen. Ein wesentlicher Umstand für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit stellt u.a. die Schwere der vom Ausgewiesenen begangenen Straftaten dar. Diese beurteilt sich nach der Höhe der verhängten Strafe und nach der Art der Straftat. Ein weiterer Aspekt für die Verhältnismäßigkeit stellt die familiäre Situation des Ausländers dar; letztlich ist es noch von Bedeutung, inwieweit der Ausgewiesene noch einen Bezug zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit besitzt. Unter dem Aspekt der Begehung der Straftat und der näheren Tatumstände, ist die Ausweisung - wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt - als verhältnismäßig anzusehen.

Der Antragsteller kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Verletzung seiner Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 durch den angefochtenen Bescheid berufen. Das sich aus dieser Norm ergebende Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer kann nämlich nach Maßgabe des Art. 14 ARB 1/80 eingeschränkt werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 04.10.2007 (NVwZ 2008, 59) entschieden und ausgeführt, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahingehend auszulegen sei, dass er der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der mehrfach strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegensteht, vorausgesetzt, dass dessen persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Diese Voraussetzungen liegen nach Überzeugung der Kammer vor. Der brutale Mord an einem Menschen, der lediglich ein selbstbestimmtes Leben führen wollte, und das persönliche Verhalten des Antragstellers bei dieser Tat stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne der Rechtsprechung des EuGH berührt. Der Antragsteller kann in diesem Zusammenhang auch nicht damit gehört werden, dass von ihm keine Gefahr ausgehe, da eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen sei. Die Kammer ist vielmehr der Ansicht, dass trotz des Ergebnisses der beiden psychologischen Gutachten eine Wiederholungstat nicht ausgeschlossen werden kann. Dies alles belegt nach Auffassung der Kammer, dass sich der Antragsteller auch einem erneuten Auftrag zur Begehung eines "Ehrenmordes" durch ein Familienoberhaupt nicht entziehen könnte und würde.