VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 02.06.2008 - 18 K 2835/05.A - asyl.net: M13373
https://www.asyl.net/rsdb/M13373
Leitsatz:

Das Verwaltungsgericht hat trotz rechtskräftiger Ablehnung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG im Verfahren um Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu prüfen. Sunniten und Schiiten aus gemischt-ethnischen Gebieten des Iraks sind Verfolgungsgefahr ausgesetzt.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Streitgegenstand, Zuwanderungsgesetz, Verfolgungsbegriff, nichtstaatliche Verfolgung, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungshandlung, Gesamtschau, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Sunniten, Schiiten, Mosul, Sicherheitslage, Gruppenverfolgung, politische Entwicklung, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Südirak, Zentralirak, Nordirak, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hat das erkennende Gericht in dem hier rechtshängigen Asylverfahren nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes auch zu entscheiden. Über das Asylbegehren des Klägers, wie es sich nach der zum 01.01.2005 und zum 28.08.2007 in Kraft getretenen Gesetzesänderung darstellt, ist im Zeitpunkt der vorliegenden gerichtlichen Entscheidung durch das vorangegangene rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 13.11.2003 und durch den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 21.03.2005 noch nicht umfassend entschieden worden. Das Gericht ist verpflichtet, die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG jedenfalls unter dem Aspekt der nichtstaatlichen Verfolgung in das laufende Verfahren einzubeziehen.

Bereits durch das seit dem 01.01.2005 geltende Zuwanderungsgesetz gelten für den Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht uneingeschränkt die gleichen Grundsätze wie für die Auslegung des Art. 16 a Abs. 1 GG und von § 51 AuslG 1990, insbesondere weil nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, ohne dass es auf die Existenz einer staatlichen Herrschaftsmacht und damit auch auf die von der bisherigen Zurechnungslehre geforderte grundsätzliche Schutzfähigkeit des Staates ankommt. Infolge der eingetretenen gesetzlichen Veränderung des Streitgegenstandes und mangels gesonderter Übergangsregelung ist das Gericht verpflichtet, die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, soweit dieser über den Regelungsumfang des § 51 AuslG 1990 hinausgeht, in das laufende Verfahren einzubeziehen. Denn es würde dem Grundsatz der Konzentration und Beschleunigung der Asylverfahren widersprechen, wenn sich das Bundesamt erneut mit der Frage der politischen Verfolgung unter dem Blickwinkel des § 60 Abs. 1 AufenthG befassen müsste (ausführlich hierzu: VG Köln, Urteile vom 28.07.2006 - 18 K 8019/04.A - und vom 15.05.2006 - 18 K 667/05.A -).

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG unter dem Aspekt der nichtstaatlichen Verfolgung liegen hier vor.

Die zum 28.08.2007 in Kraft getretene Neuregelung des § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG stellt in Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) nunmehr klar, dass für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, die Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie ergänzend anzuwenden sind.

Den in den Art. 4 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie enthaltenen Auslegungsregeln zu einzelnen Elementen des Flüchtlingsbegriffs kommt nun auch im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG maßgebliche Bedeutung zu.

Insbesondere ist bei der Frage, was als Verfolgungshandlung anzusehen ist, nunmehr Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie zu beachten. Die Vorschrift ist so gestaltet, dass sie flexibel und umfassend auszulegen ist und auch neue Formen der Verfolgung erfasst werden können (vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig).

Nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie gelten als Verfolgungshandlungen im Sinne des Art. 1 A GFK solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Eine einmalige Verfolgungshandlung kann demnach ausreichend sein, aber auch eine Wiederholung schwerwiegender Handlungen ebenso wie eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, sofern diese Verfolgung gemäß Art. 9 Abs. 3 mit einem oder mehreren der Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention verknüpft ist. Als Verfolgung gelten ausschließlich Handlungen, die absichtlich, fortdauernd oder systematisch ausgeführt werden (vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig).

Die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, kann dazu führen, dass ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht (vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig).

Demgegenüber entspricht die der deutschen Rechtsprechung geläufige Unterscheidung zwischen dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und dem sog. herabgestuften Maßstab bei Vorverfolgung im Kern der Regelung in Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht ist. Es spricht aber manches dafür, dass den hier entwickelten Prognosemaßstäben tendenziell eine zu starke Objektivierung zugrunde liegt, so dass nunmehr eine stärkere Gewichtung des subjektiven Elements der Verfolgungsfurcht geboten sein dürfte.

Mit der daraus resultierenden besonderen Vorsicht können wesentliche Grundsätze des Bundesverwaltungsgerichts, das auch bislang subjektive Elemente unter dem Aspekt der Zumutbarkeit stets hervorgehoben hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162-171) weiterhin Grundlage der Prüfung sein.

Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr in den Irak und dort nach Mossul, seinem Herkunftsort, zur Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zahlreichen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in Anknüpfung an seine konfessionelle Zugehörigkeit durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, so dass seine Verfolgungsfurcht aus diesem Grunde begründet und ihm eine Rückkehr unzumutbar ist.

Innerhalb der sich im Irak unaufhörlich drehenden Spirale der Gewalt hat sich unter den zahlreichen feststellbaren Verfolgungsmustern spätestens seit dem mutmaßlich von sunnitischen Extremisten: auf die schiitische Al-Askari Moschee in Samarra am 22.02.2006 verübten Bombenanschlag die von Sunniten bzw. Schiiten gegenseitig ausgeübte konfessionelle Gewalt als besonderes Verfolgungsmuster herauskristallisiert, das inzwischen die meisten Todesopfer unter der irakischen Bevölkerung fordert. In großem Umfang finden gegenwärtig im Zentral- und Südirak systematische, gewaltsame Vertreibungen statt, die den Charakter konfessionell geprägter Säuberungen haben. Die dabei angewandten Mittel reichen von der Verbreitung von Drohungen auf Flugblättern, Zerstörung von Eigentum und Einschüchterungen über großflächige Angriffe auf Zivilisten, Entführungen, in letzter Zeit vermehrt auch Massenentführungen, Folter, Vergewaltigungen als gezieltes Mittel der Rache und Demütigung bis hin zu außerrechtlichen Hinrichtungen. Regelmäßig werden in den Straßen, Flüssen und in Massengräbern demonstrativ zurückgelassene Leichen gefunden, die häufig Folterspuren aufweisen, an Händen und Füßen gefesselt oder geköpft sind. Häufig geraten die Opfer von Entführungen und extralegalen Hinrichtungen schon aufgrund ihres Namens, der sie als Sunnit oder Schiit ausweist, in das Visier ihrer Peiniger. Zahlreiche Iraker gehen nur noch mit zwei verschiedenen Ausweispapieren auf die Straße. Auch der Verkauf oder die Lektüre bestimmter Tageszeitungen kann Anknüpfungspunkt für die sunnitische oder schiitische Konfession eines Betroffenen sein (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007; UN Assistance Mission for lraq (UNAMI), Human Rights Report, 1 January-31 March 2007; U.S. Department of State, Iraq - Country Report an Human Rights Practices, 2006 - www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2006/78853.htm; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak - Update vom 22.05.2007; Guido Steinberg, Der Irak zwischen Föderalismus und Staatszerfall, SWP-Studie, Berlin, Juli 2007; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Iraqi Asylum-Seekers, Genf, August 2007, deutschsprachige Zusammenfassung, September 2007).

Betroffen von den konfessionell motivierten Säuberungen sind im gesamten Irak Gebiete mit gemischt-konfessioneller Bevölkerung. Dazu gehören alle großen Städte wie Bagdad, Mossul, Kerkuk und Basra, aber auch die Provinzen Aslah-Al-Din, Diyala und Babil. Das Gericht ist nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Auskünfte davon überzeugt, dass gegenwärtig jeder Sunnit und Schiit aus dem Zentral- und Südirak jedenfalls dann Flüchtling im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG und der Qualifikationsrichtlinie sowie der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wenn er - wie der Kläger - aus einem gemischt-konfessionellen Gebiet stammt (vgl. hierzu ausführlich Urteil der Kammer vom 12.10.2007 - 18 K 6334/05.A -).

Das Gericht hat nach alledem keinen Zweifel, dass der aus Mossul stammende Kläger im Falle einer Rückkehr in erheblichem Maße gefährdet wäre, Opfer konfessioneller Säuberungsmaßnahmen und der zur Durchsetzung dieses Ziels angewandten Gewalt zu werden.

Effektiver Schutz vor gewalttätigen Übergriffen im Rahmen der Säuberungsmaßnahmen ist nach übereinstimmender Auskunftslage nicht verfügbar (vgl. hierzu im Einzelnen: Urteil der Kammer vom 12.10.2007 - 18 K 6334/05.A - Juris; Lagebericht Irak vom 19.10.2007).

Der dargelegten Bedrohung unterliegt der Kläger auch landesweit, weil er weder auf das ehemals autonome Kurdengebiet noch auf andere Gebiete im Zentral- und Südirak verwiesen werden kann.

Der gesamte Zentral- und Südirak kommt schon im Hinblick auf die dort überall katastrophale Sicherheitslage und die allgegenwärtige Gefahr, wieder Opfer von Säuberungsaktionen zu werden, als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Aber auch im Übrigen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sunnitische respektive schiitische Flüchtlinge, die aus ethnisch-konfessionell gemischten Gebieten fliehen, sich in ethnisch-konfessionell homogenen Gebieten niederlassen können. Die lokalen Verwaltungen verschiedener Provinzen haben die Grenzen für sämtliche Binnenvertriebene geschlossen oder deren Niederlassung unter Hinweis auf die Belastung der Infrastruktur stark begrenzt. Eine Reihe von Provinzen hat spezielle Sicherheitschecks eingeführt oder verlangt, einen Bürgen vorzuweisen, der bestätigt, dass die betreffende Person nicht zu einem verdächtigen Personenkreis gehört (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 12.05.2007 an VG Köln; "Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; "Trostlose Zuflucht in Suleimaniya", NZZ vom 25.07.2007; Lagebericht Irak vom 19.10.2007).

Auch in den kurdischen Gebieten des Nordirak wird Nicht-Kurden aus dem Zentral- und Südirak regelmäßig bereits die Niederlassung dadurch erschwert, dass ihnen ohne einen Leumundszeugen, der den örtlichen Behörden bekannt sein und sich mit seinen persönlichen Daten für diesen verbürgen muss, eine offizielle Registrierung verwehrt wird. Sie können daher dort weder Sozialhilfe noch Nahrungsmittelhilfe beziehen. Zusammen mit den seit Kriegsende immens gestiegenen Mieten, die das Gehalt eines Polizisten, Lehrers oder einfachen staatlichen Angestellten auch ohne Berücksichtigung von Wohnnebenkosten in der Regel bei weitem übersteigen, ist ein Umzug faktisch unmöglich, sofern keine tragfähigen Kontakte zu Verwandten bestehen, die bereit und in der Lage sind, ihren Familienangehörigen aufzunehmen (vgl. UNHCR, Gutachten vom 09.01.2007 und vom 08.10.2007 an VG Köln; Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 27.11.2006 und vom 12.05.2007 an VG Köln; Lagebericht Irak vom 19.10.2007; "Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; "Trostlose Zuflucht in Suleimaniya", NZZ vom 25.07.2007).