VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 24.04.2008 - 8 UE 2021/06.A - asyl.net: M13348
https://www.asyl.net/rsdb/M13348
Leitsatz:

Keine Verbesserung der Lage in Afghanistan seit 2004, die den Widerruf der Feststellung von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 7 AufenthG (bzw. § 53 Abs. 6 AuslG) rechtfertigt; es spricht viel dafür, dass die Zustellung eines Widerrufsbescheids an den Prozessbevollmächtigten des Asylverfahrens erfolgen muss (im Ergebnis offengelassen); nach Abschluss des Asylverfahrens muss ein Ausländer grundsätzlich keine besonderen Vorkehrungen für den Empfang von behördlichen Schreiben im Falle einer längeren Abwesenheit treffen.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Verfahrensrecht, Zustellung, Widerruf, Widerrufsbescheid, Niederlegung, Prozessbevollmächtigte, Asylverfahren, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Auslandsaufenthalt, Mitwirkungspflichten, Obliegenheit, Rechtskraftwirkung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Änderung der Sachlage, politische Entwicklung, Sicherheitslage, Versorgungslage, Kabul, Paktia, alleinstehende Personen, Wohnraum, Existenzminimum, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AsylVfG § 74 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 3; VwVZG § 7 Abs. 1; VwGO § 60 Abs. 1; AsylVfG § 10 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine Verbesserung der Lage in Afghanistan seit 2004, die den Widerruf der Feststellung von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 7 AufenthG (bzw. § 53 Abs. 6 AuslG) rechtfertigt; es spricht viel dafür, dass die Zustellung eines Widerrufsbescheids an den Prozessbevollmächtigten des Asylverfahrens erfolgen muss (im Ergebnis offengelassen); nach Abschluss des Asylverfahrens muss ein Ausländer grundsätzlich keine besonderen Vorkehrungen für den Empfang von behördlichen Schreiben im Falle einer längeren Abwesenheit treffen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist begründet, weil das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 19. April 2006. seine Anfechtungsklage zu Unrecht abgewiesen hat.

Die Anfechtungsklage ist nicht wegen Versäumnis der zweiwöchigen Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 AsylVfG unzulässig.

Der gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG ergangene Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 1. Februar 2006 ist dem Kläger persönlich per Postzustellungsurkunde durch Niederlegung am 8. Februar 2006 zugestellt worden.

Es ist schon fraglich, ob diese Zustellung fehlerfrei erfolgt ist.

Unabhängig von der Anwendbarkeit des § 10 AsylVfG finden auf diese von der Behörde gewählte förmliche Zustellung die Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes Anwendung (vgl. Marx, AsylVfG, 6. Aufl. 2005, Rdnr. 6 zu § 10), das in § 7 Abs. 1 Satz 2 VwVZG bestimmt, dass Zustellungen an einen allgemein oder für bestimmte Angelegenheiten bestellten Bevollmächtigten zu richten sind, wenn er schriftliche Vollmacht vorgelegt hat. Bei Anwendbarkeit dieser Vorschrift wäre die Zustellung wegen eines Zustellungsfehlers unwirksam und die Rechtsmittelfrist erst ab dem Zeitpunkt gelaufen, in dem gemäß § 8 VwZG dadurch Heilung des Zustellungsmangels eingetreten wäre, dass der Bescheid dem Kläger als dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist, also am 10. März 2006 und damit am Tage der Klageerhebung.

Für das Erfordernis einer Zustellung an die Bevollmächtigten des Klägers spricht, dass diese den Kläger während der gesamten dem Widerrufsverfahren vorangegangenen asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren unter Vollmachtsvorlage vertreten haben.

Diese Frage kann jedoch letztlich offen bleiben, denn unabhängig vom Vorliegen eines Zustellungsfehlers, war dem Kläger jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, weil er ohne Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist gehindert gewesen wäre. Er war nach den Gesamtumständen seines Einzelfalles nicht verpflichtet, für die Dauer seines etwa dreimonatigen Aufenthalts in Pakistan besondere Empfangsvorkehrungen für Mitteilungen oder Bescheide des Bundesamtes zu treffen.

Ob die Vorschrift des § 10 Abs. 1 AsylVfG, wonach der Ausländer während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen hat, dass ihn Mitteilungen des Bundesamtes stets erreichen können, auf das vorliegend fragliche Widerrufsverfahren nach § 73 AsylVfG überhaupt anwendbar ist (so Funke-Kaiser, in GK zum AsylVfG, Stand: Dezember 2007, Rdnr. 16 zu § 10; offen gelassen von VG Ansbach, Urteil vom 24. September 2004 - AN 4 K 04.30987 - juris Rdnr. 15; a.A. Marx a.a.O. Rdnr. 99 zu § 10, jeweils m.w.N.), kann hier dahinstehen, weil auch dann ein Pflichtverstoß des Klägers nicht angenommen werden könnte. Dasselbe gilt für die allgemeinen Grundsätze über die Notwendigkeit von besonderen Zustellungsvorkehrungen bei längerer Abwesenheit vom gemeldeten und ständigen Wohnsitz, auf die sich das angefochtene verwaltungsgerichtliche Urteil bezogen hat.

Die vom Verwaltungsgericht herangezogene Rechtsprechung über das Erfordernis von besonderen Zustellungsvorkehrungen bei einer längerfristigen, mehr als sechs Wochen dauernden Abwesenheit von der angegebenen Wohnung betrifft nämlich nur solche Fälle, in denen der Zustellungsempfänger ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren führt und deshalb mit Mitteilungen oder Entscheidungen der Behörde oder des Gerichts rechnen muss (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1976 - 2 BvR 849/75 - BverfGE 41 S. 332 ff. = juris Rdnrn. 9 ff.; BVerwG, Urteil vom 8. Juli 1981- 6 C 174/80 - juris [LS], Beschluss vom 30. März 1995 - 11 B 29/95 - NVwZ-RR 1995 S. 613 = juris [LS] und Urteil vom 25. März 1987 - 6 C 53/84 - BVerwGE 77 S. 157 ff. = NVwZ 1987 S. 805 f. = juris Rdnr. 17; Hamb. OVG, Urteil vom 9. Februar 1996 - Bf IV 24/95 - juris Rdnrn. 18 ff.). Bei Antritt seiner Reise nach Pakistan am 9. Dezember 2005 war das Asylverfahren aus Sicht des Klägers mit dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 24. März 2004 und dem daraufhin erlassenen und bestandskräftig gewordenen Feststellungsbescheid des Bundesamtes vom 15. Juni 2004 endgültig und insoweit für ihn erfolgreich abgeschlossen.

Für das noch laufende Verfahren auf Erteilung einer ausländerbehördlichen Aufenthaltserlaubnis hatte er unter dem 4. Januar 2005 seinen Bevollmächtigten eine schriftliche Vollmacht erteilt, die diese auch dem Landrat vorgelegt hatten, der sich dementsprechend mit dem Schreiben vom 25. Januar 2005 an seine Bevollmächtigten gewandt hatte; der Kläger hatte damit alle nach seinem Kenntnisstand erforderlichen und zumutbaren "Zustellungsvorkehrungen" getroffen. Zudem hätte es nahegelegen, dass das Bundesamt angesichts der umfassenden anwaltlichen Vertretung des Klägers in allen vorangegangenen asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren von der Einleitung des auf den Widerruf des an die Bevollmächtigten des Klägers adressierten Feststellungsbescheides vom 15. Juni 2004 gerichteten Verfahrens in erster Linie die bisher stets für ihn handelnden Bevollmächtigten des Klägers und nicht nur ihn persönlich unterrichtet hätte, wenn darin nicht schon ein Zustellungsmangel zu sehen sein sollte. Da der Kläger davon ausgehen konnte, dass sich die Behörden in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten - wie bisher - an seine Bevollmächtigten wenden würden, spricht auch dies dafür, dass keine (weiteren) besonderen Zustellungsvorkehrungen von ihm erwartet werden konnten.

Der Widerruf der im Bescheid vom 15. Juni 2004 getroffenen Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) ist rechtswidrig, weil dem Widerruf die Rechtskraft des stattgebenden Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen vom 24. März 2004 entgegensteht.

Dazu hat das Bundesverwaltungsgericht in dem vom Kläger angeführten Urteil vom 18. September 2001 - 1 C 7.01 - (BVerwGE 115 S. 118 ff. = NVwZ 2002 S. 345 f. InfAuslR 2002 S. 207 ff. = juris Rdnrn. 9 bis 13 m. w. N.) u. a. ausgeführt: ...

Nach diesen Grundsätzen, denen der Senat folgt, steht die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen vom 24. März 2004 dem Widerruf der Feststellung des Abschiebungsverbots gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hier entgegen, weil sich weder die für das Urteil maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse hinsichtlich der abschiebungsrelevanten Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere im Raum Kabul und in der Provinz Paktia, hinsichtlich der fehlenden verwandtschaftlichen Unterstützung des Klägers und seiner nur unter konkreter Gefährdung für Leib, Leben oder Freiheit (in Khost bzw. der Provinz Paktia) möglichen Anknüpfung an frühere Erwerbsmöglichkeiten noch die maßgeblichen rechtlichen Verhältnisse seit dem damaligen Entscheidungszeitpunkt im März 2004 bis heute so wesentlich verändert haben, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt wäre. Eine in wesentlichen Punkten neue abschiebungsrelevante Lage ist in Afghanistan nicht eingetreten (vgl. auch VG Wiesbaden, Urteil vom 2. Februar 2007 - 7 E 717/06.A(1) - juris Rdnrn. 15 ff. zur gleichgebliebenen Sicherheitslage zwischen August 2003 und Juli 2006); es liegt allenfalls eine veränderte rechtliche Bewertung auch in der wohl überwiegenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vor, auf die sich das Bundesamt in der Begründung des angefochtenen Bescheides vom 1. Februar 2006 abschließend auch ausdrücklich berufen hat.

Eine im Wesentlichen unveränderte abschiebungsrelevante Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere im Raum Kabul und in der Provinz Paktia, lässt sich auch aus einem - exemplarischen - Vergleich des in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 24. März 2004 u.a. herangezogenen Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 6. August 2003 (Stand: Juli 2003) mit dem neuesten Lagebericht vom 7. März 2008 (Stand: Februar 2008) herleiten.

Auch in Bezug auf die für das Verwaltungsgericht Gießen maßgebliche Versorgungslage hinsichtlich Ernährung und Unterkunft hat sich die Situation nicht wesentlich verändert, insbesondere nicht verbessert, sondern eher verschlechtert.

Wenn der Senat in diesem Urteil trotzdem zusammenfassend zu dem Ergebnis kommt, dass ein junger, allein stehender Afghane ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland aufgrund seines Lebensalters und des Fehlens familiärer Bindungen mit daraus resultierenden Unterhaltslasten wahrscheinlich in der Lage sei, durch Gelegenheitsarbeiten in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen und ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finden, für ihn somit eine Überlebenschance bestehe und damit eine extreme Gefährdungslage nicht gegeben sei, die die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Überwindung der Sperrwirkung des Satzes 3 dieser Vorschrift rechtfertigen würde, beruht dies nicht auf der Annahme einer tatsächlichen Verbesserung der dortigen Lebensverhältnisse, sondern auf einer anderen Bewertung einer im Wesentlichen unveränderten Lage.

Dem steht nicht entgegen, dass dieses verwaltungsgerichtliche Urteil nach dem Grundsatzurteil des Senats von einem unzutreffenden Prüfungsansatz ausgegangen ist, weil es zwar Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ausdrücklich für den "vorliegenden Einzelfall" bejaht, dies aber nicht mit konkret-individuell auf die Person des Klägers zielenden Leib-, Lebens- oder Freiheitsgefahren, sondern nur mit Auswirkungen der allgemein "äußerst angespannten Versorgungs- und Sicherheitslage" auf ihn und damit mit allgemeinen Gefahren gemäß § 53 Abs. 6 Satz 2 i.V.m. § 54 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 3 i.V.m. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG) begründet hat, die aber grundsätzlich der Regelungsbefugnis der obersten Landesbehörden vorbehalten sind und nur bei extremen Gefahrenlagen in verfassungskonformer Anwendung in Überwindung dieser gesetzlichen Sperrklausel die Gewährung individuellen subsidiären Schutzes durch das Bundesamt oder Verwaltungsgerichte zulassen. Auch unrichtige Urteile entfalten aber nach den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten, vom Senat übernommenen und oben dargestellten Grundsätzen Rechtskraftwirkung (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. September 2001 a.a.O. juris Rdnr. 13).