VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 22.02.2008 - A 8 K 5910/07 - asyl.net: M13320
https://www.asyl.net/rsdb/M13320
Leitsatz:

Kein Widerruf der Asylanerkennung von syrisch-orthodoxen Christen aus der Türkei; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Christen (syrisch-orthodoxe), Tur Abdin, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Reformen, politische Entwicklung, Sicherheitslage, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Situation bei Rückkehr, interne Fluchtalternative, Westtürkei, religiöses Existenzminimum, Existenzminimum, Schikanen, interner Schutz, Anerkennungsrichtlinie
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

Kein Widerruf der Asylanerkennung von syrisch-orthodoxen Christen aus der Türkei; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Widerrufsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

In Anwendung der oben genannten Grundsätze haben sich die maßgeblichen Verhältnisse für syrisch-orthodoxe Christen in der Türkei seit der Anerkennung des Klägers nicht erheblich und dauerhaft verändert, dass die für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen sind.

Zwar wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung mittlerweile eine mittelbare Gruppenverfolgung von syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin verneint (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 22.02.2006 - 6 UE 2298/04.A -; OVG Lüneburg, Urt. v. 21.06.2005 - 11 LB 256/02 -; VGH Bad.-Württ, Urt. v. 27.10.2005 - A 12 S 603/05 -). Hieraus kann jedoch nicht auf eine Verfolgungssicherheit geschlossen werden, zumal in diesen Entscheidungen erstmals um die Anerkennung als politischer Flüchtling gestritten wurde und nicht um den Widerruf einer seinerzeit ausgesprochenen Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Im Widerrufsverfahren ist keine generalisierende Betrachtungsweise und auch keine Erörterung einer Gruppenverfolgung geboten, maßgebend ist vielmehr die Frage, ob konkret der als politisch Verfolgter anerkannte Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei vor Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit hinreichend sicher ist (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 05.06.2007 - 10 A 11576/06 -; VG Stuttgart, Urt. v. 22.10.2007 - A 11 K 340/07 - m.w.N.).

Dem Bundesamt ist darin zuzustimmen, dass sich die Verhältnisse in der Türkei im Hinblick auf die Gesetzgebung seit Anerkennung des Klägers durchaus verändert haben. Die Türkei bemüht sich der Europäischen Union beizutreten. Mit diesem Ziel hat das türkische Parlament bisher acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. AA, Lagebericht v. 11.01.2007). Auch wenn mit Inkrafttreten des 8. Gesetzespaketes am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo aber nicht Schritt halten können (vgl. AA, Lagebericht v. 11.01.2007).

Die Situation für syrisch-orthodoxe Glaubensangehörige im Südosten der Türkei hat sich nicht derart entspannt und stabilisiert, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei als Mitglied der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft vor erneuten Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher ist.

In Übereinstimmung mit der Einschätzung der 11. Kammer des VG Stuttgart (vgl. Urteil vom 22.10.2007 aaO) hält der Berichterstatter die syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei ebenfalls weiterhin für gefährdet.

Nach wie vor wird vor Übergriffen von im Tur Abdin lebenden Kurden gegenüber syrisch-orthodoxen Christen berichtet: ...

Zwar gibt es seit einigen Jahren verschiedene Rückkehrprojekte von syrisch-orthodoxen Christen mit dem Ziel, verlassene Dörfer wieder neu zu errichten; auch wurden beispielsweise in Kafro bereits mehrere Häuser neu errichtet (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme vom 28.06.2004 an OVG Lüneburg; ai, Stellungnahme vom 24.06.2004 an OVG Lüneburg). Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass diese syrisch-orthodoxen Christen aus Europa die Situation in der Türkei nicht mehr als bedrohlich empfinden und von einer hinreichenden Sicherheit ausgehen. Denn zum einen verbringen sie im Wesentlichen nur ihren Sommerurlaub in ihren neuen Häusern (vgl. Okolisan, Reisebericht Tur Abdin 2006). Zum anderen behalten die zeitweiligen Rückkehrer wohlweislich ihre in den europäischen Staaten erworbene Staatsangehörigkeit bei, so dass sie die Türkei auch jederzeit wieder verlassen können. Der Umstand, dass syrisch-orthodoxe Christen Besuchsreisen in ihre ursprünglichen Heimatdörfer machen, ist ein Zeichen ihrer Sehnsucht nach ihrer Heimat, keineswegs aber ein Indiz für eine stabile Sicherheitslage für die religiöse Minderheit in der Südosttürkei (vgl. Oberkampf, Der Tur Abdin zwischen Aufbruch, Unsicherheit und Angst, Reisebericht vom September 2006).

Die gegenwärtige Sicherheitslage der syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin kann vielmehr weiterhin als sehr instabil und brüchig bezeichnet werden (vgl. Oberkampf vom 31.10.2006, abgedruckt in: www.nordirakturabdin.info/cms/index.php.

Seit dem Jahr 2005 hat die antichristliche Stimmung in der ganzen Türkei zugenommen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 29.05.2006). Christen werden in der Öffentlichkeit als potentielle Kriminelle, Separatisten und Landesverräter dargestellt, so dass vereinzelt bereits von einer Hexenjagd gesprochen wird (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007). Im Zuge dieser nationalistischen und christenfeindlichen Stimmung in der gesamten Türkei kam es bereits zu zahlreichen gewaltsamen Übergriffen einschließlich Morde an Mitgliedern der christlichen Minderheit (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007; www.missioaachen.de/menschen-kulturen/laender/asien/tuerkei/angriffe2006.asp). Nach dem Mord an dem Journalisten Dink am 19.01.2007 hat sich die Sicherheitssituation der christlichen Minderheit in der Türkei aufgrund der nationalistischen Welle weiter erheblich verschlechtert (NZZ vom 28.02.2007).

Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit wieder verbessert und derart stabilisiert, dass die zu verlangende Sicherheit nunmehr gegeben ist. Dem steht zum einen entgegen, dass die Reformbemühungen in der Türkei in letzter Zeit zum Stillstand gekommen sind. Hiergegen spricht auch das deutliche Erstarken des Nationalismus wie auch des Islamismus in der Türkei. Schließlich verstärken die Rückkehrprojekte von syrisch-orthodoxen Christen die Angst und die Abwehrhaltung der muslimischen Bevölkerungsteile, da diese den Verlust von Land und anderen Wirtschaftsgütern fürchten müssen. Nach allem kann von einer hinreichenden Sicherheit vor erneuten Verfolgungsmaßnahmen bei einer Rückkehr in den Südosten der Türkei keine Rede sein (so auch VG Stuttgart Urteil vom 22.10.2007 aaO).

Der Kläger kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei, insbesondere in Istanbul, verwiesen werden. Das Verwaltungsgericht hat bereits in seinem anerkennenden Asylurteil vom 11.05.1990 (- A 8 K 9536/87 -) zutreffend festgestellt, dass wenn jemand vor einer regionalen, an seine Religionszugehörigkeit anknüpfende politische Verfolgung geflohen ist, er an einem Ort einer in Betracht kommenden Fluchtalternative auch dann nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung ist, wenn der Staat ihn durch eigene Maßnahmen daran hindert, das religiöse Existenzminimum zu wahren. Entsprechendes gilt, wenn die dort ansässige Bevölkerung die Wahrung des religiösen Existenzminimums durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht unvereinbares Handeln unmöglich macht, ohne dass der Staat, die nach seiner Rechtsordnung hiergegen allgemein in Betracht kommenden Maßnahmen ergreift. Weiter ist es dem Kläger als syrisch-orthodoxen Christen aus Südostanatolien ohne entsprechende Berufsausbildung nicht möglich, sich in Istanbul eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Dies beruht nicht allein auf der ohnehin schwierigen Arbeitsmarktsituation in Istanbul, sondern darüber hinaus auf der gesellschaftlichen Diskriminierung der Christen am Arbeitsplatz. Dass sich diese für den Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend verändert haben, wird von der Beklagten weder behauptet noch im angefochtenen Bescheid dargelegt. Darüber hinaus kann vom Kläger auch nicht vernünftiger Weise erwartet werden, dass er sich im Westteil der Türkei, insbesondere in Istanbul aufhält (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004). In Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG verwendete Formulierung "vernünftiger Weise erwartet werden kann" verbindet objektive, vernunftbezogene Aspekte mit dem subjektiv ausgefüllten Kriterium der Erwartung, dass auch die individuellen Fähigkeiten und Gegebenheiten des Flüchtlings umfasst (vgl. Lehmann NVwZ 2007, 508). Der Kläger hat in der Türkei lediglich in der Landwirtschaft gearbeitet und im Bundesgebiet auch keine weitere Berufsausbildung erfahren. Er wurde bei seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung und vor dem Gericht in seiner aramäischen Muttersprache angehört. Über ausreichende türkische Sprachkenntnisse verfügt der Kläger, der zusammen mit seiner Familie direkt aus seiner ostanatolischen Heimat ausgereist ist, nicht. Angesichts dessen kann nicht erwartet werden, dass der Kläger im Westteil der Türkei eine Existenzgrundlage findet, zumal er dort auch keine Verwandten hat, so dass ein interner Schutz nicht gegeben ist.