VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 18.03.2008 - 38 X 87.08 - asyl.net: M13310
https://www.asyl.net/rsdb/M13310
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von tschetschenischen Volkszugehörigen in Russland; jedenfalls inländische Fluchtalternative eröffnet; zur Ausstellung eines Inlandspasses muss man nicht mehr an früheren Wohnort zurückkehren.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Inhaftierung, Freilassung, Bestechung, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Inguschetien (A), Versorgungslage, Existenzminimum, Beurteilungszeitpunkt, Anerkennungsrichtlinie, Nachfluchtgründe, Auslandsaufenthalt, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, nichtstaatliche Verfolgung, Rebellen, Gebietsgewalt, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Verfolgungsdichte, Registrierung, Übergriffe, Polizei, Rassisten, Wohnraum, Inlandspass, Erreichbarkeit, Kämpfer (ehemalige), Sippenhaft, Familienangehörige, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, fachärztliche Stellungnahmen, Glaubwürdigkeit, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine Gruppenverfolgung von tschetschenischen Volkszugehörigen in Russland; jedenfalls inländische Fluchtalternative eröffnet; zur Ausstellung eines Inlandspasses muss man nicht mehr an früheren Wohnort zurückkehren.

(Leitsatz der Redaktion)

 

A. Die Kläger haben keinen Anspruch auf eine Flüchtlingsanerkennung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

I. Eine derartige Gefahr lässt sich nicht im Hinblick auf eine Vorverfolgung annehmen, weil die Kläger nicht vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist sind.

1. Die Kläger waren bei ihrer Ausreise keiner individuellen politischen Verfolgung ausgesetzt.

Hätten die russischen Stellen tatsächlich einen Ernst zu nehmenden Verdacht gegen den Kläger wegen einer relevanten Unterstützung separatistischer Kämpfer gehegt, hätten sie ihn kaum freigelassen. Gegen eine individuelle Verfolgung des Klägers zu 2. spricht die von ihm geschilderte Freilassung gegen Zahlung eines Lösegeldes (vgl. hierzu OVG Lüneburg, Beschluss vom 16. Januar 2007 - 13 LA 67/06 - Juris Rn. 5) vor allem deshalb, weil die Maßnahmen der russischen Sicherheitskräfte in Tschetschenien maßgeblich dem Aufspüren von Untergrundkämpfern und damit der Terrorismusbekämpfung dienen. Wer von ihnen als so genannter Separatist ("Kämpfer") erkannt und gerade deswegen inhaftiert worden ist, wird seine Freilassung auch gegen Zahlung eines Bestechungsgeldes nicht erreichen können. Anderenfalls wäre er erneut in der Lage, gegen das russische Militär gerichtete Handlungen vorzunehmen.

2. Ob die Kläger im Zeitpunkt ihrer Ausreise wegen ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit einer regionalen oder örtlich begrenzten Gruppenverfolgung in Tschetschenien ausgesetzt gewesen sind, kann dahinstehen. Denn ihnen hat im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.

Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass der Asylsuchende seine Existenz am Ort der Fluchtalternative – auch ohne förmliche Gewährung eines Aufenthaltsrechts und ohne Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen – in zumutbarer Weise sichern kann.

Aus der Qualifikationsrichtlinie folgt nichts anderes. Nach Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie können die Mitgliedstaaten feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in diesem Landesteil aufzuhalten, wobei nach Absatz 2 der Vorschrift die allgemeinen Gegebenheiten in dem hierfür in Betracht kommenden Landesteil und die persönlichen Umstände zu berücksichtigen sind. Dies entspricht der Sache nach der obergerichtlichen Rechtsprechung zur inländischen Fluchtalternative. Artikel 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie ist auch nicht etwa zu entnehmen, dass es (entgegen der obergerichtlichen Rechtsprechung) für die Frage der Vorverfolgung nicht auf eine inländische Fluchtalternative ankommt (vgl. VGH München, Urteil vom 31. August 2007 - 11 B 02.31724 - Juris Rn. 40 f.; a.A. VGH Kassel, Urteil vom 21. Februar 2008 - 3 UE 191/07.A - S. 16 des Entscheidungsabdruckes). Zwar heißt es in Artikel 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie, dass bei Prüfung der Frage einer inländischen Fluchtalternative die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen sind. Dies betrifft jedoch, wie sich aus der Bezugnahme auf und dem Zusammenhang mit Absatz 1 ergibt, die Feststellung, ob ein Antragsteller zum Zeitpunkt der Entscheidung internationalen Schutz benötigt, und nicht die – insbesondere für den Prüfungsmaßstab relevante – Vorfrage hierzu, ob der Betreffende im Zeitpunkt seiner Ausreise vorverfolgt gewesen ist. In diesem Zusammenhang trifft auch Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie lediglich eine Prognoseregelung bereits vorverfolgter Personen und keine Regelung dazu, dass eine Vorverfolgung unabhängig davon anzunehmen ist, ob im Ausreisezeitpunkt eine zumutbare inländische Fluchtalternative bestanden hat. Gegen Letzteres spricht auch der Grundgedanke des Flüchtlingsschutzes, weil bei einer inländischen Fluchtalternative keine "begründete" Furcht vor Verfolgung besteht, die die Ausreise aus dem (gesamten) Heimatstaat rechtfertigt bzw. vernünftigerweise einen Aufenthalt in keinem Teil des Heimatstaates mehr als zumutbar erscheinen lässt.

Eine Fluchtalternative bestand für Tschetschenen – jedenfalls bis 2002, wenn nicht bis zur Jahresmitte 2003 – insbesondere in Inguschetien.

Im Übrigen dürfte Inguschetien auch nach der seit Herbst 2003 erfolgten sukzessiven Schließung der Flüchtlingslager als inländische Fluchtalternative offen gestanden haben. Zwangsweise Rückführungen nach Tschetschenien sind nicht bekannt geworden (Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht Tschetschenien vom 16. Februar 2004, S. 14, Auskunft an den VGH München vom 12. November 2003, S. 2).

Darüber hinaus hat tschetschenischen Volkszugehörigen im hier interessierenden Zeitraum nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin in der Russischen Föderation auch außerhalb von Inguschetien eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden (vgl. VG Berlin, Urteile vom 29. November 2006 - VG 33 X 1.06 m.w.N. aus der obergerichtlichen Rechtsprechung und vom 11. November 2005 - VG 33 X 199.04 -). Soweit die 33. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin auf der Grundlage einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22. November 2005 für die Zeit ab 1. Juli 2004 eine inländische Fluchtalternative verneint hat, weil seit diesem Zeitpunkt ein erforderlicher Passumtausch an einem mit dem Ort der letzten Anmeldung nicht identischen Wohnort des Betroffenen und damit eine Registrierung und ständige Wohnsitznahme innerhalb der Russischen Föderation auch ohne (zwischenzeitlichen) Aufenthalt in Tschetschenien oder Inguschetien nicht mehr möglich war, ist dies hier unerheblich. Denn die Kläger sind bereits vor diesem Zeitpunkt ausgereist, und im Übrigen jedenfalls heute in anderen Gebieten der Russischen Föderation vor Verfolgung hinreichend sicher (s.u.).

II. Die Gefahr einer politischen Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG lässt sich auch nicht wegen eines Nachfluchttatbestandes annehmen.

1. Den Klägern droht bei einer Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung aus individuellen Gründen.

a. Anhaltspunkte für eine derartige Verfolgung seitens des russischen Staates bestehen nicht.

Dies gilt auch im Hinblick auf den Auslandsaufenthalt der Kläger und ihre Asylantragstellung.

b. Gleiches gilt für eine Verfolgung seitens der Rebellen. Diese sind schon keine verfolgenden Akteure i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, wie das Bundesamt im angegriffenen Bescheid bereits richtig erkannt hat. Die Rebellen beherrschen – anders als das in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe b AufenthG und Art. 6 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie gefordert wird – keinen wesentlichen Teil des Staatsgebietes mehr. Da das militärische Engagement Russlands in Tschetschenien sowie die Existenz und die Tätigkeit der tschetschenischen Sicherheitskräfte gerade dazu dienen, die Separatisten entweder auszuschalten oder sie zum Aufgeben zu bewegen, kann dem russischen Staat zudem der Wille, die Bevölkerung vor Übergriffen durch die Aufständischen zu schützen (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG und Art. 6 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie) nicht abgesprochen werden. Diese Bemühungen haben zudem auch weitgehend Erfolg gezeitigt: ...

2. Die Kläger können sich weiterhin nicht darauf berufen, sie würden in ihrer engeren Heimat als Tschetschenen verfolgt. Eine (regionale) Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien findet nach der Erkenntnislage gegenwärtig nicht statt (ebenso VGH München, Urteil vom 31. August 2007 - 11 B 02.31724 Juris Rn. 48-73).

c. Setzt man die Zahl der Gesamtheit der Verfolgungsschläge in jüngster Zeit (61 im Jahr 2007 und 289 im Jahr 2006) in Relation zur Gesamtheit der Bewohner Tschetscheniens (1 Million), so lässt sich nicht feststellen, dass Entführungen, Verschleppungen und ähnliche Maßnahmen der Freiheitsberaubung sowie extralegale Tötungen und Folter in Tschetschenien derzeit in solcher Dichte zu verzeichnen sind, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern dass sie auf alle sich im (vermeintlichen) Verfolgungsgebiet aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sie sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Die Zahlen bewegen sich deutlich unter einem Promille der Gesamtbevölkerung, nämlich rund 0,006 % für das Jahr 2007 und rund 0,029 % für das Jahr 2006. Diese Relation ist so gering, dass sie die aktuelle Bedrohung jedes tschetschenischen Volkszugehörigen in Tschetschenien nicht zu begründen vermag (vgl. zur Relationsberechnung etwa OVG Münster, Urteil vom 21. April 1998 - 9 A 6597.95.A - Juris Rn. 138 ff. und Urteil der Kammer vom 12. Juli 2006 - VG 38 X 388.05 -).

Selbst wenn die vorgenannten Zahlen mit einem zwischen 3 und 4 liegenden Faktor ("Dunkelziffer") multipliziert werden müssten, wie das Memorial für geboten hält (vgl. amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April 2007, S. 3) – weil die von Memorial und anderen Menschenrechtsorganisationen mitgeteilten Zahlen nicht die Gesamtheit aller Verfolgungsschläge widerspiegele, da deren Beobachtungstätigkeit nur einen Teil des Territoriums von Tschetschenien abdecke und ein Teil der Opfer aus Angst vor Nachteilen weder den Rechtsschutzorganen noch den Mitarbeitern von Memorial gemeldet werde –, ergäbe sich keine andere Beurteilung. Auch dann läge die Zahl der Personen, die in Tschetschenien von Entführungen im weitesten Sinne sowie extralegalen Tötungen und Folter betroffen waren, mit rund 0,018 - 0,024 % (61 x 34 = 183 - 244) für das Jahr 2007 weiterhin deutlich unter einem Promille der Gesamtbevölkerung und mit rund 0,087 - 0,116 % (289 x 34 = 867 - 1.156) für das Jahr 2006 ebenfalls unter einem Promille bzw. gerade bei rund einem Promille der Gesamtbevölkerung.

d. Es fehlt auch an Anhaltspunkten jedweder Art dafür, dass die russische Zentralregierung oder die Machthaber in Grosny heute gegenüber den Bewohnern Tschetscheniens ein staatliches Verfolgungsprogramm eingeleitet oder geplant haben.

3. Im Übrigen besteht für tschetschenische Volkszugehörige (gegenwärtig) in anderen Teilen der Russischen Föderation – jedenfalls außerhalb von Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Dagestan, Nord-Ossetien, Krasnodar und Stawropol – eine inländische Fluchtalternative, in denen sie vor Verfolgung sicher sind und ihr Existenzminimum gesichert ist (so die ganz überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung: VGH München, nicht rechtskräftiges Urteil vom 31. August 2007, a.a.O., und rechtskräftiges Urteil vom 19. Juni 2006 - 11 B 02.31598 - Juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 16. Januar 2007 - 13 LA 67/06 - Juris; VGH Mannheim, Urteil vom 25. Oktober 2006 - A 3 S 46/06 - Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Dezember 2007 - 10 B 82.07 - Juris; OVG Saarlouis, Beschlüsse vom 12. Juli 2006 - 3 Q 101/06 und vom 29. Juni 2006 - 3 Q 2/06 sowie Urteil vom 23. Juni 2005 - 2 R 11/03 - Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Mai 2006 - 1 B 101.05 - Juris; OVG Schleswig, Urteile vom 11. August 2006 - 1 LB 125/05 - Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. November 2006 - 1 B 204.06 - Juris, und vom 3. November 2005 - 1 LB 211/01 - Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2007 - 1 B 87.06 - Juris; OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 - 11 A 2307/03.A - Juris, rechtskräftig mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Juni 2006 - 1 B 102.05 - Juris; OVG Weimar, rechtskräftiges Urteil vom 16. Dezember 2004 - 3 KO 1003/04 - Juris; VGH Kassel, Urteil vom 21. Februar 2008, a.a.O., der sogar eine "hinreichende Sicherheit" in Tschetschenien bejaht; die anderslautende obergerichtliche Rechtsprechung hatte vor dem Bundesverwaltungsgericht keinen Bestand: VGH Kassel, Urteil vom 2. Februar 2006 - 3 UE 3021/03.A -, aufgehoben unter Zurückverweisung mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Januar 2007 - 1 B 47/06 -; das Parallelurteil des VGH Kassel vom 4. Juli 2006 - 3 UE 2075/03.A - Juris ist wegen nicht hinreichender Darlegung der Divergenzrüge rechtskräftig geworden, vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Januar 2007 - 1 B 121.06 - Juris; OVG Bremen vom 16. März 2005 - 2 A 114/03.A - Juris, aufgehoben unter Zurückverweisung mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. März 2006 - 1 B 85.05 - Juris; OVG Magdeburg, Urteil vom 31. März 2006 - 2 L 40/06 - Juris, aufgehoben unter Zurückverweisung mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2007 - 1 C 24.06 - Juris).

a. Tschetschenische Volkszugehörige sind gegenwärtig in anderen Teilen der Russischen Föderation – jedenfalls außerhalb von Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Dagestan, Nord-Ossetien, Krasnodar und Stawropol – vor Verfolgung hinreichend sicher.

Tschetschenen wird in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens entweder wegen ihrer Volkszugehörigkeit oder wegen ihrer regionalen Herkunft zwar mit signifikanter Häufigkeit die Registrierung, d.h. die amtliche Bestätigung darüber verweigert, dass sie sich am Ort ihres dauernden oder vorübergehenden Aufenthalts angemeldet haben. Diese verbreitete rechtswidrige Praxis ist im Regelfall (d.h. vorbehaltlich besonderer, sich aus der Person eines Betroffenen ergebender Umstände) asylrechtlich jedoch irrelevant, da das Vorenthalten der Einstempelung in den Inlandspass, durch den die erfolgte Anmeldung einer Person beurkundet wird, als solches nicht mit einer Verletzung der in § 60 Abs. 1 AufenthG erwähnten Schutzgüter "Leben", "körperliche Unversehrtheit" und "Freiheit" einhergeht, und ein derartiges behördliches Verhalten weder die Menschenwürde verletzt noch hierdurch im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikationsrichtlinie grundlegende Menschenrechte schwerwiegend beeinträchtigt werden.

Soweit pauschal behauptet wurde, in Zusammenhang mit Kontroll- und Durchsuchungsmaßnahmen komme es "nicht selten zu tätlichen Übergriffen und anderen Einschüchterungsversuchen durch die Polizei" (amnesty international an den VGH München vom 16. April 2004, S. 2), und Tschetschenen müssten ständig befürchten, mittels gefälschter Beweismittel eines Verbrechens beschuldigt zu werden (Gannuschkina, Memorial-Jahresbericht 2006 vom 20. September 2006, S. 6, und Memorial-Jahresbericht 2007 vom 1. Dezember 2007, S. 4), lassen die zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht den Schluss zu, dass tschetschenische Flüchtlinge wie die Kläger in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und außerhalb der oben genannten weiteren Gebiete) derartige Repressalien nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu befürchten haben.

Von fremdenfeindlichen, mit Angriffen auf Leib, Leben oder Freiheit oder auf grundlegende Menschenrechte einhergehenden Verhaltensweisen von Privatpersonen sind Tschetschenen in der Russischen Föderation keinesfalls in solcher Häufigkeit betroffen, dass davon gesprochen werden könnte, jeder Angehörige dieser Ethnie sei von solchen Ausschreitungen nicht nur möglicherweise, latent oder potenziell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet. Den in der Russischen Föderation zu verzeichnenden fremdenfeindlichen Vorkommnissen, die insbesondere von rechtsradikalen russischen Kräften verübt wurden, fielen nahezu ausnahmslos Angehörige anderer Volksgruppen – namentlich Schwarzafrikaner, Asiaten mit mongolischem Erscheinungsbild, Menschen aus dem indischen Kulturkreis sowie andere Kaukasier als Tschetschenen – zum Opfer (Gannuschkina, Memorial-Jahresbericht 2005 vom 1. Juli 2005, S. 6 f.).

b. Zurückkehrenden tschetschenischen Volkszugehörigen ist es auch möglich, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und der o.g. Gebiete) ein zumutbares Unter- und Auskommen zu finden.

(1) Bei hinreichendem Bemühen können russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation eine Registrierung erreichen.

Sollten die amtlichen Stellen entgegen der Rechtslage eine Registrierung verweigern, können sich Tschetschenen hiergegen mit sehr guten Erfolgsaussichten zur Wehr setzen.

(2) Im Übrigen können Tschetschenen auch ohne eine legale Registrierung ein zumutbares Auskommen finden. Die vergleichsweise hohe Zahl der in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen belegt, dass es unabhängig von bürokratischen Schwierigkeiten (etwa bei Registrierung oder Ausweispapierbeschaffung), teilweisen Diskriminierungen und auch Übergriffen von Behördenangehörigen und trotz Ressentiments in der Bevölkerung möglich ist, zumindest einen faktischen Aufenthalt zu erlangen und – wenn auch auf dem landesüblichen niedrigen Niveau – dabei eine wirtschaftliche Grundlage zu finden und sei es auch nur im Bereich der – sehr weit verbreiteten (Auswärtiges Amt an das VG Stuttgart vom 30. Juni 2000, S. 2) – Schattenwirtschaft.

(3) Die Gebiete, in denen eine inländische Fluchtalternative offen steht, sind für die Kläger auch erreichbar. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht dorthin gelangen könnten oder gar mit einer zwangsweisen Rückführung nach Tschetschenien rechnen müssten (Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht Tschetschenien vom 16. Februar 2004, S. 19). Selbst für den Fall, dass die behördliche Registrierung außerhalb Tschetscheniens verweigert werden sollte, bestünde für die Kläger keine reale Gefahr, zwangsweise nach Tschetschenien zurückkehren zu müssen; für eine Rückverbringung von russischen Staatsangehörigen aus einem Landesteil, in dem sie nicht registriert sind, in ihre Heimat besteht keine Rechtsgrundlage, und es dürfte dem russischen Staat hierfür auch an Mitteln fehlen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005, a.a.O., Rn. 107 f. unter Bezugnahme auf die jeweils dem VGH München erteilten Auskünfte des UNHCR vom 29. Oktober 2003, des Auswärtigen Amtes vom 12. November 2003 und von amnesty international vom 16. April 2004).

(4) Die inländische Fluchtalternative scheitert weiterhin nicht am fehlenden Existenzminimum. Auch in den Fällen, in denen es tschetschenischen Volkszugehörigen nicht gelingt, eine Registrierung zu erhalten, besteht keine Gefahr der Verelendung und des Hungertodes.

Selbst dann, wenn man meinte, das wirtschaftliche und soziale Existenzminimum in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens sei nicht gewährleistet, würde dies keinen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG rechtfertigen (vgl. VGH München, Urteil vom 19. Juni 2006, a.a.O., Rn. 91). Denn das Fehlen des wirtschaftlichen und sozialen Existenzminimums wäre nicht verfolgungsbedingt (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 29. Juli 2003 - 2 BvR 32/03 - DVBl. 2004, 111, 112). Nach der vorliegenden Erkenntnislage war und ist nämlich die allgemeine Lage in Tschetschenien im Verhältnis zu anderen Regionen der Russischen Föderation weitaus schlechter.

c. Auch der Umstand, dass die Kläger einen neuen (Inlands-) Pass benötigen, führt zu keiner anderen Beurteilung. Der Einwand, die Kläger zu 3. und 4. verfügten nicht über russische Inlandspässe, steht daher einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht entgegen.

Zwar war bislang ein neuer Inlandspass bei dem Meldeamt zu beantragen, bei dem der Betreffende bisher (offiziell) registriert ist (Auswärtiges Amt an das VG Berlin vom 22. November 2005, Nr. 4), weil die Geltungsdauer des Befehls Nr. 347, der einen Passumtausch auch an einem mit dem Ort der letzten Anmeldung nicht identischen Wohnort des Betroffenen vorsah, zwischenzeitlich ausgelaufen war und es auch sonst keine Sonderregelungen für Tschetschenen mehr gab (ebda., Nrn. 1 und 7). Dies hatte zur Folge, dass z. B. ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit, der offiziell in Tschetschenien registriert war, nur dort einen (neuen) russischen Inlandspass beantragen konnte. Jedoch ist inzwischen eine Neuregelung über die Ausstellung von Inlandspässen in Kraft gesetzt worden. Seit Inkrafttreten der Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20. Dezember 2006 kann die Ausstellung eines Passes "am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung" erfolgen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Januar 2008, S. 28; Auskunft an das VG Köln vom 4. Dezember 2007, S. 1). Dafür, dass es für tschetschenische Volkszugehörige trotz dieser neuen Rechtslage schwierig oder gar unmöglich ist, am Ort der Antragstellung einen neuen Pass zu erhalten, gibt es keine Anhaltspunkte.

Selbst bei Zugrundelegen der bisherigen Rechtslage bzw. einer erforderlichen Passausstellung in Tschetschenien ergäbe sich keine andere Beurteilung. Die Notwendigkeit, zwecks Erlangung eines neuen Inlandspasses Tschetschenien aufzusuchen, bestand nur für wenige Tage. Denn der Erlass Nr. 828 sieht für dieses Verwaltungsgeschäft eine maximale Bearbeitungsdauer von zehn Tagen vor (Auswärtiges Amt an den VGH München vom 3. März 2006, Nr. 3). Auskünften der Pass- und Visaverwaltung der Tschetschenischen Republik in Grosny zufolge wird diese Frist auch in Tschetschenien in der Regel eingehalten (ebda.). Bei noch notwendigen Rückfragen kann die Ausstellung allerdings bis zu einem Monat dauern. In diesen Fällen kann dem Antragsteller jedoch ein vorübergehender Ausweis ausgestellt werden, so dass er Tschetschenien verlassen und sich zu seinem aktuellen Wohnort begeben kann und er nur zur Passübergabe nochmals anreisen muss (ebda.).

d. Die vorstehenden Ausführungen gelten jedenfalls für "unauffällige" tschetschenische Volkszugehörige, die sich im Tschetschenien-Konflikt für die tschetschenische Sache nicht besonders engagiert oder eines solchen Engagements verdächtig gemacht haben und deshalb konkret gesucht werden (vgl. OVG Münster, Urteil vom 12. Juli 2005 - 11 A 2307/03.A - Juris Rn. 171). Zu dieser "Risikogruppe", die nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Januar 2008 (S. 26 unten) bei einer Rückführung "besondere Aufmerksamkeit" durch die russischen Behörden erfährt und auf die daher die vorstehenden Ausführungen möglicherweise nicht oder nur eingeschränkt anwendbar sind, zählen bekannte oder prominente Funktionäre oder Parteigänger Maschadows und der "Tschetschenischen Republik Itschkeria" (Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 14; so auch UNHCR an den VGH Kassel vom 8. Oktober 2007, S. 5, der allerdings auch solche Personen als besonders gefährdet ansieht, die "sehr niedrige" offizielle Positionen im Regime Maschadow innehatten; hierfür werden jedoch keinerlei Belege angeführt), sowie die den russischen Sicherheitskräften bekannten Freischärler/Rebellen/Widerstandskämpfer bzw. die von ihnen als solche verdächtigt und deshalb konkret gesucht werden (Luchterhandt an den VGH Kassel vom 8. August 2007, S. 21; Reinke/Hetzer von der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 14. Juni 2007, zu Frage 4; amnesty international an den VGH Kassel vom 27. April 2007, S. 9, mit Fallbeispielen S. 1115; siehe hierzu auch VGH München, Urteil vom 31. August 2007, a.a.O., Rn. 68; Siegert an den VGH Kassel vom 20. April 2007, zu Frage 6; UNHCR an den VGH Kassel vom 8. Oktober 2007, S. 5, spricht von "Mitgliedern illegaler, bewaffneter Formationen"; Heinrich/Lobova, Ausarbeitung vom 7. März 2006, S. 11 u. S. 17, sprechen von Angehörigen von "Terrorismusverdächtigen").

Soweit in den Auskünften auch Familienangehörige solcher (vermuteter) Widerstandskämpfer als besonders gefährdet angesehen werden, überzeugt dies für die bei der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative allein relevanten Gebiete der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und der weiteren oben genannten Gebiete) nicht. Denn für die Russische Föderation außerhalb dieser Gebiete werden Vorfälle, die unter dem Aspekt der "Sippenhaft" gesehen werden könnten, nicht berichtet (so auch VGH München, Urteil vom 24. Oktober 2007 - 11 B 03.30711 - S. 17 des Entscheidungsabdruckes).

Soweit – was aber die Kläger für sich noch nicht einmal selbst reklamiert haben – auch (bewaffnete) Teilnehmer des 1. Tschetschenien-Krieges als besonders gefährdet angesehen werden (so VGH München, nicht rechtskräftiges Urteil vom 24. Oktober 2007 - 11 B 03.30710 - S. 34 des Urteilsabdruckes und rechtskräftiges Urteil vom 15. Oktober 2007 - 11 B 06.30875 - Juris Rn. 79), überzeugt dies (zumindest) für die Gebiete der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht, jedenfalls soweit es sich um Personen mit untergeordneten Funktionen gehandelt hat.

B. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG i. V. m. Artikel 4 Abs. 4, Artikel 5 Abs. 1 und 2 und Artikel 6 bis 8 der Qualifikationsrichtlinie, die nach § 60 Abs. 11 AufenthG für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 gelten.

4. Schließlich lässt sich auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG feststellen.

a. Auf Grund der zuvor dargestellten Situation in Tschetschenien kann selbst in diesem Landesteil der Russischen Föderation nicht (mehr) von einer Konfliktlage im Sinne des Satzes 2 der Vorschrift (vgl. zu dem Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts VGH Kassel, Urteil vom 9. November 2006 - 3 UE 3238/03.A - Juris) ausgegangen werden.

b. Auch die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind im Falle der Kläger nicht erfüllt.

(1) Eine solche besteht insbesondere nicht auf Grund einer schlechten (allgemeinen) Versorgungslage in der Russischen Föderation. Insoweit gilt der Maßstab einer extremen Gefahrenlage, d.h. die Kläger müssten im Falle ihrer Abschiebung in die Russische Föderation wegen der dortigen Versorgungslage "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein". Hieran fehlt es angesichts der obigen Ausführungen, dass das Existenzminimum (rückkehrender) tschetschenischer Flüchtlinge gesichert ist.

(2) Ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt auch nicht wegen einer etwaigen Verschlimmerung einer bereits im Bundesgebiet bestehenden Erkrankung in Betracht.

Das Gericht hat nicht die Überzeugung zu gewinnen vermocht, dass die Kläger zu 1. und 2. überhaupt an einer PTBS erkrankt sind.

Im Falle einer geltend gemachten PTBS ist die Feststellung eines behaupteten traumatisierenden Ereignisses Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung (vgl. hierzu OVG Münster, Beschluss vom 27. Juli 2007 - 13 A 2745/04.A - InfAuslR 2007, 408). Schildert der Ausländer im Asylverfahren ein bestimmtes Verfolgungsschicksal, so hat das Gericht auf der Grundlage des ihm unterbreiteten Sachverhalts und unter sorgfältiger Berücksichtigung möglicher krankheitsbedingter Einschränkungen bei der Schilderung traumatischer Ereignisse eine eigenständige Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Ausländers vorzunehmen. Ergibt sich danach, dass die Angaben in wesentlichen Punkten unschlüssig, widersprüchlich oder falsch sind oder wird gegenüber dem Arzt eine gänzlich andere Darstellung gegeben, so ist der getroffenen Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in aller Regel die Grundlage entzogen. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage des Asylbewerbers ist dabei originäre Aufgabe des Gerichts. Der Hilfe durch einen fachpsychologischen Sachverständigen muss es sich unter Umständen nur dann bedienen, wenn im Verfahren besondere Umstände in der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen hervortreten, die in erheblicher Weise von den Normalfällen abweichen und die es deshalb geboten erscheinen lassen, sachverständige Hilfe in Anspruch zu nehmen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Juli 2001 - 1 B 118.01 -, DVBl. 2002, 53; OVG Berlin, Beschluss vom 23. August 2004 - 6 N 2.03 -).

Nach diesen Maßstäben liegt die behauptete PTBS nicht vor, weil eine solche schon nicht nachvollziehbar diagnostiziert worden ist und weil es zur Überzeugung des Gerichts auch an dem erforderlichen traumatisierenden Ereignis fehlt.

Im Übrigen wäre die den Klägern bescheinigte PTBS, ihr Vorliegen unterstellt, und sind die der Klägerin zu 1. weiter bescheinigten Erkrankungen nach der Erkenntnislage in ihrem Heimatstaat ausreichend behandelbar, zumal bei der PTBS eine medikamentöse Behandlung mit begleitender Gesprächstherapie grundsätzlich ausreicht, um die Verschlimmerung einer Krankheit zu verhindern (vgl. OVG Münster, Urteil vom 16. Dezember 2004 - 13 A 12/03.A - Juris).