VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 03.04.2008 - AN 1 K 05.31304 - asyl.net: M13278
https://www.asyl.net/rsdb/M13278
Leitsatz:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK sowie der Weigerung, Dorfschützer zu werden.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Reformen, Politische Entwicklung, Menschenrechtslage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Dorfschützer, Meinungsfreiheit, exilpolitische Betätigung, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Streitwert
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; RVG § 30 S. 1
Auszüge:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK sowie der Weigerung, Dorfschützer zu werden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter sowie der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lagen zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht vor.

Vorliegend durfte das Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sowie eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 12 und 4 AuslG a. F. mit Rücksicht auf eine nach dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 23. Mai 1996 (B 6 K 96.30001) erfolgte – maßgebliche – Veränderung der Verhältnisse in der Türkei widerrufen.

Das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth hat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 23. Mai 1996 ausgeführt, die vom Kläger glaubhaft geschilderten Festnahmen und Folterungen hätten ein asylrechtlich relevantes Ausmaß erreicht. Es sei daher davon auszugehen, dass der Kläger in seiner Heimat einer staatlichen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Derartige (vorverfolgte) Personen könnten auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei verwiesen werden. In den von Kurden bewohnten Vierteln der Großstädte fänden vermehrt Razzien statt, um dort PKK-Mitglieder und -Anhänger aufzuspüren. Da auf Grund der Vorgeschichte davon auszugehen sei, dass der Kläger von den Sicherheitsbehörden als PKK-Unterstützer und damit als Separatist gesucht werde, wäre er dort vor weiterer politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher gewesen. Auf Grund des als glaubhaft gewürdigten Sachverhalts drohten dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei konkrete Gefahren nach § 53 Abs. 1 und 4 AuslG.

Entgegen der Ansicht des Klägervertreters ist das Bundesamt zu Recht vom Vorliegen entscheidungserheblich veränderter Umstände ausgegangen. Eine Wiederholung der vor der Ausreise erlittenen und im Zeitpunkt des Urteilserlasses dem Kläger im Falle einer Rückkehr drohenden Verfolgungsmaßnahmen kann wegen der seit November 2002 in der Türkei umgesetzten Reformvorhaben mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden.

Unter diesen veränderten Umständen hat der Kläger im Hinblick auf die ihm seinerzeit allein wegen seiner geäußerten Kritik an Befehlen militärischer Vorgesetzter zur Vertreibung und Verprügelung von Dorfbewohnern und der Ablehnung des ihm angetragenen Dorfschützeramtes unterstellten Unterstützung der PKK nicht zu befürchten, im Falle einer Rückkehr erneut als "Separatist" behandelt und maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Der Kläger hat zu keiner Zeit selbst behauptet, die PKK (anderweitig) unterstützt, deren Angehörige gar mit Waffen oder sonstigem militärischen Gerät, versorgt bzw. der Organisation selbst angehört zu haben. Auf Frage nach politischen Aktivitäten hatte der Kläger in seinem Asylverfahren dem Bundesamt gegenüber lediglich eingeräumt, an den Ideen der "..." Gefallen gefunden und mit ihr deshalb sympathisiert zu haben.

An dieser Beurteilung vermögen auch die Aktivitäten des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland, die sich nach den glaubhaften Bekundungen des Klägers im Wesentlichen auf eine Teilnahme an kulturellen, künstlerischen und folkloristischen Veranstaltungen, in politischer Hinsicht auf allgemeinpolitische Meinungsäußerungen im Rahmen von Kundgebungen oder Demonstrationen beschränken, nichts zu ändern. Gerade hinsichtlich der Meinungsfreiheit ist in der Türkei eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse zu beobachten.

Der Kläger ist zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in die Türkei auch vor anderen asylerheblichen Repressionen, insbesondere vor Folter, hinreichend sicher. Ist der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese nach Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Gleiches gilt, wenn jemand keine gültigen Reisedokumente vorweisen kann oder aus seinem Reisepass ersichtlich ist, dass er sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufgehalten hat. Die Einholung von Auskünften kann je nach Einreisezeitpunkt und dem Ort, an dem das Personenstandsregister geführt wird, einige Stunden dauern. In neuerer Zeit wurde dem Auswärtigen Amt nur ein Fall bekannt, in dem eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte. Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Insoweit handelt es sich jedoch nicht um asylerhebliche Vorgänge.

Der Gegenstandswert beträgt 1.500,– EUR (§ 30 RVG).

Gemäß § 30 Satz 1 RVG beträgt der Gegenstandswert in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz in Klageverfahren, die die Asylanerkennung einschließlich der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und die Feststellung von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG betreffen, 3.000,– EUR, in den sonstigen Klageverfahren 1.500,– EUR. Sind mehrere natürliche Personen an demselben Verfahren beteiligt, erhöht sich der Wert für jede weitere Person im Klageverfahren um 900,– EUR.

Aus dem Gesetzeswortlaut, der eindeutig und keiner anderen Auslegung fähig ist (vgl. zu den Grenzen der Auslegung eines Gesetzes: BVerwG, Urteil vom 29.6.1992, 6 C 11.92, BVerwGE 90, 265 ff.), folgt, dass der Gegenstandswert nur dann auf 3.000,– EUR festzusetzen ist, wenn - anders als im vorliegenden Fall - der Rechtsstreit (zumindest auch) die Asylanerkennung betrifft. Ist dies nicht der Fall, liegt ein sonstiges Klageverfahren im Sinne des § 30 Satz 1 Halbsatz 2 RVG mit einem Gegenstandswert von 1.500,– EUR vor.

Zwar hat der Gesetzgeber mit dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz (BGBl I, S. 1950) den Status des Asylberechtigten (Art. 16 a GG) und den Status als anerkannter Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) weitgehend einander angeglichen. Jedoch hat der Gesetzgeber hieraus - bezogen auf den Gegenstandswert - keine weiteren Konsequenzen gezogen, obwohl er § 30 Abs. 1 RVG mit Gesetz vom 22. Dezember 2006 (BGBl I., S. 3416) geändert, nämlich den Passus "§ 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes" durch "§ 60 des Aufenthaltsgesetzes" ersetzt hat. Dies kann nur dahingehend verstanden werden, dass es der Gesetzgeber hinsichtlich des Gegenstandswertes bei der bisherigen Regelung und deren Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.1.1994, 9 B 15.94, DÖV 1994, 537) belassen wollte (ebenso: OVG Münster, Beschluss vom 4.12.2006, 9 A 4128/06.A; Beschluss vom 14.2.2007, 9 A 4126/06.A; Beschluss vom 17.7.2007, 15 A 2119/02.A; OVG Schleswig, Beschluss vom 1.8.2007, 1 OG 3/07; Beschluss vom 2.3.2007, 1 LB 65/03; VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 15.10.2007, 8 J 2456/07.AO (2); Beschluss vom 26.1.2007, 8 J 5863/06.A(1); VG Lüneburg, Beschluss vom 30.8.2007, 2 A 124/05; VG Karlsruhe, Beschluss vom 9.3.2007, A 7 10897/05; VG Aachen, Beschluss vom 26.3.2007, 7 K 1621/05.A; VG Göttingen, Beschluss vom 26.3.2007, 2 A 88/05; VG Oldenburg, Beschluss vom 26.3.2007, 4 A 3057/05; VG Köln, Beschluss vom 28.3.2007, 4 K 5023/05.A; VG Düsseldorf, Beschluss vom 11.4.2007, 26 K 6088/06.A; VG Minden, Beschluss vom 23.4.2007, 10 K 2565/06.A; VG Würzburg, Beschluss vom 2.5.2007, W 7 M 07.30084; a. A.: BVerwG, Urteil vom 12.6.2007, 10 C 24/07, NVwZ 2007, 1330; Beschluss vom 21.12.2006, 1 C 29.03; Beschluss vom 14.2.2007, 1 C 22/04; BayVGH, Beschluss vom 27.07.2007, 23 B 07.30359; Beschluss vom 12.2.2007, 23 B 06.30694; Beschluss vom 16.5.2007, 23 ZB 07.30075; OVG Koblenz, Beschluss vom 15.12.2006, 10 A 10785/05.OVG; VG Köln, Beschluss vom 3.9.2007, 18 K 1585/06.A; VG Magdeburg, Beschluss vom 12.2.2007, 8 A 497/98 MD; VG Mainz, Beschluss vom 12.3.2007, 4 K 481/05.MZ; VG Stade, Beschluss vom 12.3.2007, 4 A 1938/05; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 26.3.2007, 14a 1885/06.A).