VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 11.04.2008 - 9 K 1627/05.A - asyl.net: M13260
https://www.asyl.net/rsdb/M13260
Leitsatz:
Schlagwörter: Sierra Leone, Glaubwürdigkeit, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Versorgungslage, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Guinea
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Klage ist unbegründet.

Der Kläger hat zunächst weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) noch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG in der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) maßgeblichen Fassung des Art. 1 Nr. 48 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (Bundesgesetzblatt I S. 1969).

Zwar ist aufgrund seines Vorbringens davon auszugehen, dass der Kläger sierra-leonischer Staatsangehöriger ist. Er hat nämlich durchgängig angegeben, aus Sierra Leone zu stammen, und im ersten Termin zur mündlichen Verhandlung zudem erklärt, dass seines Wissens auch seine Eltern diese Staatsangehörigkeit hatten bzw. haben. Auch seine Ausführungen aus dem zweiten Verhandlungstermin gehen dahin, aus Sierra Leone zu stammen.

Die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung sowie eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen jedoch nicht vor, weil sich das auf Sierra Leone bezogene Vorbringen des Klägers ansonsten als unglaubhaft erweist.

Dessen ungeachtet würden die geltend gemachten Ansprüche daran scheitern, dass die Situation in Sierra Leone heute als allgemein ruhig und stabil zu beurteilen und eine politische Verfolgung praktisch auszuschließen ist (vgl. United Nations, Security Council, "Twenty fourth report of the Secretary General on the United Nations Mission in Sierra Leone" vom 10. Dezember 2004; U.S. Departement of State (USDS), "Sierra Leone, Country Reports on Human Rights Practices – 2004" vom 28. Februar 2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht vom 17. Januar 2007).

Des Weiteren kommt eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen der schlechten Existenzbedingungen der Bevölkerung im Zielstaat nicht in Betracht. In Sierra Leone bestehen nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Wegen des Fehlens staatlicher oder nichtstaatlicher finanzieller Förderungen sind Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen; Sozial- oder Arbeitslosenhilfe werden nicht gewährt. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen geben in der Regel keine konkrete Hilfe zum Lebensunterhalt. Viele erwerbslose Jugendliche ohne Familienverband gehen in die größeren Städte, vor allem nach Freetown, und führen dort mit Hilfsjobs, Betteln oder sonstigen Geschäften eine ärmliche Existenz (vgl. AA, Auskunft vom 14. November 2005 an das erkennende Gericht).

Dies führt jedoch noch nicht auf ein Abschiebungsverbot, weil sich daraus ergebende Gefahren die dortige Bevölkerung insgesamt oder die benannten Gruppen treffen und diese Gefahren nach der von den Verwaltungsgerichten zu respektierenden Entscheidung des Gesetzgebers gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Bedeutung ausschließlich für eine nach § 60 a Abs. 1 AufenthG im Ermessen der obersten Landesbehörde stehenden Entscheidung haben könnten. Dass die sich aus einer schlechten Versorgungslage ergebenden Gefahren einem Ausländer im Zielstaat konkret und individuell drohen, ändert hieran nichts. Dies entspricht auch der Erwägung 26 der vorgenannten Richtlinie, wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. In diesem Zusammenhang kommt es im Übrigen nicht darauf an, ob die individuelle Gefährdung, die aber eine typische Auswirkung der allgemeinen Gefahrenlage ist, durch Umstände in der Person oder in den Lebensumständen des Ausländers verstärkt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C 4/98 -, BVerwGE 108, 77).

Schließlich ist nicht dennoch ausnahmsweise Abschiebungsschutz zu gewähren, weil im Einzelfall einer Abschiebung wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich unerlässlichen Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit entgegengewirkt werden müsste. Dies setzt voraus, dass praktisch jeder, der in den Zielstaat abgeschoben wird, dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6/95 -, BVerwGE 102, 249; Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617/98 -, Informationsbrief Ausländerrecht 1999, 265; Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5/01 -, BVerwGE 115, 1).

Sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Existenzsicherung bzw. eine nur ärmliche Existenz entsprechen aber nicht dem hohen Maßstab einer extremen Gefährdungslage dergestalt, dass jeder nach Sierra Leone Abgeschobene dort mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgesetzt wäre. Anhaltspunkte dafür, dass es dem 20 Jahre alten Kläger wegen besonderer Umstände nicht wie der übrigen Bevölkerung oder seiner Altersgruppe zuzumuten ist, dort seine Existenz zu sichern, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Das Vorbringen des Klägers führt ferner nicht auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich Guinea, weil es sich hinsichtlich dieses Staates insgesamt als unglaubhaft erweist.

Ausgehend von den bezüglich Sierra Leone dargestellten Grundsätzen zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ein derartiges Abschiebungsverbot ebenso für Guinea nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Lebensbedingungen in diesem Land, vgl. Human Rights Watch, January 2007, Country Summary Guinea, www.hrw.org/englishwr2k7/docs/2007/01/11/guinea 14693.htm, International Organization for Migration, Informationen über die Rückkehr und die Wiedereingliederung in die Herkunftsländer, irrico.bbconsult.co.uk/Factsheets/Microsoft%20Word%20% 20 IRRICO_CS_GUINEA_Layout_revised%20by_MRF_BRUSSELS_DE.pdf, sind beispielsweise dem täglich aktualisierten Relief Web des United Nations Office for Coordination of Humanitarian Affairs keine Anhaltspunkte für Lebensumstände zu entnehmen, die den Schluss nahe legen, dass jeder nach Guinea Zurückkehrende dort einer Gefahrenlage für Leib oder Leben entsprechend dem Maßstab einer extremen Gefährdungslage ausgesetzt ist.