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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 14.02.2008 - 5 C 4.07 - asyl.net: M13207
https://www.asyl.net/rsdb/M13207
Leitsatz:

Die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung achteinhalb Jahre nach Aushändigung der Einbürgerungsurkunde ist nicht mehr zeitnah und kann daher nicht auf die Ermächtigung in § 48 VwVfG (hier: i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Berlin) gestützt werden (im Anschluss an BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 2 BvR 669/04 BVerfGE 116, 24).

 

Schlagwörter: D (A), Staatsangehörigkeitsrecht, Rücknahme, Einbürgerung, deutsche Staatsangehörigkeit, Entziehung, arglistige Täuschung, Rechtsgrundlage
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; GG Art. 16 Abs. 1
Auszüge:

Die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung achteinhalb Jahre nach Aushändigung der Einbürgerungsurkunde ist nicht mehr zeitnah und kann daher nicht auf die Ermächtigung in § 48 VwVfG (hier: i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Berlin) gestützt werden (im Anschluss an BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 2 BvR 669/04 BVerfGE 116, 24).

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Revision des Beklagten ist unbegründet.

Das Berufungsgericht hat die Aufhebung des angefochtenen Bescheids des Beklagten vom 20. Juni 2002 durch das Verwaltungsgericht zu Recht bestätigt.

Für die Rücknahme der nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts im Jahre 1993 erschlichenen Einbürgerung fehlte es achteinhalb Jahre danach an der erforderlichen hinreichend bestimmten und vorhersehbaren Ermächtigungsgrundlage.

a) Allerdings kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Rücknahme einer rechtswidrigen Einbürgerung grundsätzlich auf die allgemeine verwaltungsverfahrensrechtliche Bestimmung des § 48 Abs. 1 VwVfG hier i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Berlin gestützt werden (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. Juni 2003 BVerwG 1 C 19.02 BVerwGE 118, 216 und vom 9. September 2003 BVerwG 1 C 6.03 BVerwGE 119, 17; Beschluss vom 13. Juni 2007 BVerwG 5 B 132.07 juris). Mit Rücksicht auf den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der deutschen Staatsangehörigkeit nach Art. 16 Abs. 1 GG bietet § 48 VwVfG nur in bestimmten Fällen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahme von Einbürgerungen (BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 2 BvR 669/04 BVerfGE 116, 24; dem folgend auch Beschluss des Senats vom 13. Juni 2007, a.a.O.; VGH Kassel, Urteil vom 18. Januar 2007 11 UE 111/06 AuAS 2007, 77; VGH Mannheim, Urteil vom 17. September 2007 13 S 2794/06 AuAS 2007, 264). Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 24. Mai 2006 a.a.O. hierzu ausgeführt hat, schließt Art. 16 Abs. 1 GG die Rücknahme erschlichener oder auf vergleichbar vorwerfbare Weise erwirkter Einbürgerungen zwar nicht aus. Die Anwendung der allgemein geltenden Rücknahmeermächtigung steht aber nur "für den Fall der zeitnahen Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst erwiesenermaßen getäuscht hat", in Einklang mit dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes. Nur für diesen Fall enthält § 48 VwVfG ein für den Betroffenen berechenbares rechtsstaatliches Abwägungsprogramm und ist dessen Anwendung auch unter dem Aspekt der Gewaltenteilung unbedenklich (BVerfG a.a.O. S. 52).

b) Entgegen der Auffassung der Revision hat das Bundesverfassungsgericht auch nach der Ansicht des erkennenden Senats die Frage des Bestehens einer Ermächtigungsgrundlage bei nicht zeitnaher Rücknahme nicht offen gelassen. Nur bei einer zeitnahen Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung sehen die die Entscheidung tragenden Richter des Bundesverfassungsgerichts die rechtsstaatlichen Mindestanforderungen an die erforderliche Eingriffsgrundlage als gewährleistet an (BVerfG a.a.O.). In anderen Fallkonstellationen ist § 48 VwVfG dagegen "keine hinreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zur Wiederherstellung eines gesetzmäßigen Rechtszustandes", "weil die grundrechtlich geschützte Erwartung eines Eingebürgerten eine am Maßstab des Gesetzes ausreichend vorhersehbare Verwaltungsentscheidung verlangt" (BVerfG a.a.O. S. 59). Insoweit ist es dem Gesetzgeber vorbehalten, insbesondere die Rechtsfolgen eines Fehlverhaltens im Einbürgerungsverfahren für den Bestand der Staatsangehörigkeit näher zu regeln (BVerfG a.a.O. S. 60). Dem schließt sich der Senat an.

c) Die Einbürgerung des Klägers ist nicht in diesem Sinne "zeitnah" zurückgenommen worden (vgl. zu diesem zeitlichen Aspekt auch VGH Mannheim, Urteil vom 9. August 2007 13 S 2885/06 InfAuslR 2008, 41; anderer Ansicht offenbar OVG Lüneburg, Urteil vom 13. Juli 2007, 13 LC 468/03 juris). Zutreffend geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass der vom Bundesverfassungsgericht verwendete Begriff zeitnah sich auf den von der Einbürgerung bis zu ihrer Rücknahme verstrichenen Zeitraum bezieht und nicht auf eine Entschließungsfrist der Behörde ab Kenntniserlangung der rücknahmebegründenden Umstände, wie sie etwa in § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG vorgesehen ist. Denn der Bestimmtheit und Voraussehbarkeit von Eingriffen sowie der Stabilität von Statusentscheidungen kommen im Staatsangehörigkeitsrecht besondere Bedeutung zu. Sowohl für den Einzelnen als auch für das Gemeinwesen muss hinreichend klar sein, ab welchem Zeitpunkt der Statusentzug ausgeschlossen ist (vgl. hierzu bereits OVG Münster, Urteil vom 2. September 1996 25 A 2106/94 InfAuslR 1997, 82; VGH Mannheim, Urteil vom 9. August 2007, a.a.O.).

Wo eine exakte zeitliche Grenze zwischen der zeitnahen und der nicht mehr zeitnahen Rücknahme der erschlichenen Einbürgerung verläuft, bedarf auch im vorliegenden Fall keiner abschließenden Prüfung und Entscheidung. Ebenso wie das Berufungsgericht kann der Senat offenlassen, wann genau und unter welchen Gesichtspunkten die Rücknahme generell nicht mehr auf § 48 VwVfG gestützt werden kann, solange der Bundesgesetzgeber keine spezielle Regelung trifft. Der Senat neigt freilich nicht dazu, als Anknüpfungspunkt auf die vom Berufungsgericht herangezogenen strafrechtlichen Verjährungsbestimmungen (vgl. etwa § 78 Abs. 3 Nr. 4 und 5 StGB) bzw. die Tilgungsregelungen für strafrechtliche Verurteilungen nach dem Bundeszentralregistergesetz (vgl. § 34 Abs. 1 Nr. 1 und 3 BZRG) abzustellen. Ebenso wenig ist die in § 124 Abs. 3 BGB statuierte absolute zehnjährige Ausschlussfrist entsprechend anwendbar (für eine 5-Jahresgrenze entsprechend § 24 Abs. 2 Satz 2 StAngRegG vgl. VGH Kassel, Urteil vom 18. Mai 1998 12 UE 1542/98, InfAuslR 1998, 505 f. und OVG Hamburg, Beschluss vom 28. August 2001 3 Bs 102/01 InfAuslR 2002, 81).

Bei dem zwischen der Einbürgerung des Klägers am 13. Dezember 1993 und deren Rücknahme am 20. Juni 2002 verstrichenen Zeitraum von achteinhalb Jahren jedenfalls kann nach der Überzeugung des Senats nicht mehr von einer zeitnahen Rücknahme gesprochen werden. Im Übrigen ist es in erster Linie die Aufgabe des Gesetzgebers, bei einer noch zu schaffenden spezialgesetzlichen Regelung für die Rücknahme von rechtswidrigen Einbürgerungen zu bestimmen, ob eine zeitliche Begrenzung und ggf. welche gelten soll, und die Voraussetzungen, zeitlichen Grenzen und Rechtsfolgen auch für etwa betroffene Dritte bereichsspezifisch und vorhersehbar festzulegen (vgl. zur bisherigen parlamentarischen Diskussion den Entwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einem Staatsangehörigkeitsneuregelungsgesetz vom 16. März 1999, BTDrucks 14/535 und den Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion "Bündnis 90/Die Grünen" zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts vom 20. September 2006, BTDrucks 16/2650; ferner die kleine Anfrage der Fraktion "Die Linke" vom 3. August 2006 zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006, BTDrucks 16/2346 und die Antwort der Bundesregierung vom 17. August 2006, BTDrucks 16/2413 hierauf sowie die Stellungnahme des Bundesrats vom 11. Mai 2007, BRDrucks 224/07 zu dem Entwurf des inzwischen ohne die geforderte Neuregelung verabschiedeten Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union). Dem Gesetzgeber ist es vorbehalten, in dem durch Art. 16 Abs. 1 GG gesetzten Rahmen durch eine differenzierende Regelung sowohl den Anforderungen an rechtsstaatliche Bestimmtheit als auch der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem vom Bundesverfassungsgericht betonten Anliegen Rechnung zu tragen, dass eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen darf (BVerfG a.a.O. S. 49).