VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 08.04.2008 - 14 K 4466/05.A - asyl.net: M13183
https://www.asyl.net/rsdb/M13183
Leitsatz:

Geschlechtsspezifische Verfolgung von alleinstehenden Frauen in Afghanistan.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Gebietsgewalt, Karzai, Kabul, Sicherheitslage, Taliban, politische Entwicklung, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, alleinstehende Frauen, Vergewaltigung, Zwangsheirat, Existenzminimum, Versorgungslage, Wohnraum, Prostitution, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Geschlechtsspezifische Verfolgung von alleinstehenden Frauen in Afghanistan.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gem. Art. 16 a Grundgesetz (GG).

Die afghanische Regierung mit Präsident Hamid Karsai an der Spitze übt noch keine für die Annahme einer politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG erforderliche staatliche Gewalt in Afghanistan aus.

Die Regierung Karsai besitzt auf dem Staatsgebiet Afghanistans keine hinreichend gesicherte Herrschaftsmacht von gewisser Stabilität im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung. Dass die Regierung Karsai nicht nur vom Ausland, sondern auch von den maßgeblichen Politikern, Gouverneuren, lokalen Machthabern und Kommandeuren zur Zeit formal anerkannt wird, hat ihr bisher selbst in Kabul nicht die hinreichende Herrschaftsmacht und Durchsetzungskraft verschafft, um eine übergreifende Friedensordnung mit Sicherheit für Leib und Leben der Bewohner im Land oder auch nur in wesentlichen Teilen des Landes zu errichten.

Insbesondere ist die Regierung Karsai nicht in der Lage, die allgemeine Sicherheit der Bevölkerung, die Voraussetzung für das Vorliegen einer übergreifenden Friedensordnung ist, zu gewährleisten. Die Sicherheitslage hat sich in jüngster Vergangenheit landesweit nicht verbessert, sondern teilweise sogar verschlechtert. Selbst im Raum Kabul bleibt sie weiter brüchig und ist trotz Anwesenheit der ISAF Truppen nur sehr eingeschränkt vorhanden. Wesentliche staatliche Einrichtungen, die für eine staatliche Friedensordnung existentiell sind, fehlen oder sind noch nicht einsatzfähig. Eine durchsetzungsfähige Polizei existiert in Afghanistan derzeit noch nicht. Es fehlt an funktionierenden Verwaltungsstrukturen. Auch von einem nur ansatzweise funktionsfähigen Justizwesen kann derzeit nicht gesprochen werden, da keine Einigkeit über die Gültigkeit und damit Anwendbarkeit von Rechtssätzen besteht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 03.11.2004, Seite 9 ff.; Baraki, Afghanistan nach den Taliban, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/2004. S.26; Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom 23.09.2004 an das Sächsische OVG, Seite 1 ff.; Informationsverbund Asyl e.V. und Pro Asyl, Rückkehr nach Afghanistan, Reisebericht über eine Untersuchung in Afghanistan im Zeitraum März/April 2005, Seite 3 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update 2/2004; UNHCR - Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C(5) der Genfer Flüchtlingskonvention, April 2005).

Zentrale Probleme Afghanistans sind nach wie vor die sich stetig verschlechternde Sicherheitslage, der von den Taliban geführte zunehmende Widerstand, der rasante Anstieg der Opiumproduktion und des Menschenhandels sowie die weit verbreitete Korruption von Behörden und Kommandeuren illegal bewaffneter Gruppen.

Die Taliban haben ihre Machtgebiete seit ihrem Wiedererscheinen Anfang 2006 stetig in Richtung Kabul ausgedehnt. Die afghanischen Sicherheitskräfte (Militär, Polizei) sind nach einem Bericht des US-Verteidigungsministeriums (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update 12/06) weiterhin mangels Kapazitäten, Ausrüstung, Ausbildung und Disziplin sowie aufgrund von Korruption und Missachtung der Menschenrechte nicht in der Lage, die Sicherheit der Bevölkerung landesweit zu gewährleisten. Nicht einmal routinemäßige Polizeiarbeit kann verrichtet werden. Auch das Innenministerium in Kabul ist von chronischer Korruption und Ineffizienz betroffen. Lokale Machthaber und Kommandeure, von denen die größte Gefahr für die Menschenrechte ausgeht, kann die Zentralregierung nicht kontrollieren.

Selbst militärische Kräfte und Geheimdienst agieren aus eigener Machtvollkommenheit und Weisungen von Präsident Karsai werden ignoriert (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update 212004. S. 8).

Die Sicherheitslage in Kabul ist immer noch alles andere als stabil; charakteristisch sind ständige Übergriffe, Schießereien, Anschläge etc., die in jüngster Zeit noch zugenommen haben. Insbesondere nachts sind die Zustände chaotisch und nicht unter Kontrolle. Ein effektiver Schutz der Bürger durch die Regierung findet mittels der ISAF-Truppen allenfalls in geringem Maße statt und ist zudem auch nicht in allen Stadtteilen Kabuls gewährleistet (vgl. AA Lageberichte vom 07.03.2008 und vom 17.03.2007; AI,Gutachten vom 17.01.2007 an HessVGH; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update 12106; Dr. Danesch, Gutachten vom 04.12.2006 an HessVGH).

Die Klägerin hat aber einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrem Falle vorliegen.

Es kann vorliegend offen bleiben, ob die Klägerin vorverfolgt aus ihrem Heimatland ausgereist ist und in ihrem Falle deshalb der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab Anwendung findet. Denn auch unter Zugrundelegung des gewöhnlichen Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erstmaliger politischer Verfolgung ist im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan davon auszugehen, dass sie dort einer konkret auf ihre Person zielenden geschlechtsspezifischen Verfolgung im Sinne des § 60 AufenthG ausgesetzt wäre, durch die ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit oder ihre Freiheit bedroht wäre.

Die Klägerin könnte bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht auf den Schutz von Familienangehörigen zurückgreifen.

Als alleinstehend zurückkehrende Frau und Mutter von drei Kindern droht der Klägerin eine konkret auf ihre Person bezogene geschlechtsspezifische Verfolgung. Denn nach isiamischen Recht ist eine Frau allein nicht existent, sondern untersteht entweder der Autorität ihres Ehemannes, ihres Bruders oder ihres Vaters bzw. dessen Familie. Eine alleinstehende Frau in Afghanistan ohne männlichen Schutz wird allgemein als unsittliche Person betrachtet und ist "Freiwild" für die Männer ihrer Umgebung, und es besteht die große Gefahr, dass sie vergewaltigt und verschleppt und eventuell durch Misshandlungen zu Tode kommt, oder weil die Täter ihre Handlungen verbergen wollen. Alleinstehenden Frauen bleibt mitunter nur das Betteln oder die Prostitution, die allerdings streng verboten ist und das Risiko strafrechtlicher Verfolgung nach sich zieht. Vor allem ehemalige Kriegsfürsten und Kommandanten und ihre Gefolgsleute halten sich an alleinstehenden Frauen durch Entführung oder Zwangsverheiratung schadlos. So soll der in der östlichen Provinz Nangahar herrschende Kriegsherr Harat Ali als einer der größten Menschenrechtsverletzer im Osten Afghanistan seine Offiziere und Soldaten rauben, stehlen und eben auch Frauen entführen und vergewaltigen lassen. In der Region Herat, in der die Restriktionen für Frauen aus der Taliban-Zeit nach wie vor fortgehen, war eine erhebliche Zahl von Selbstverbrennungen von Frauen zu verzeichnen. Überwiegend handelte es sich dabei um aus dem Iran zurückgekehrte Flüchtlingsfrauen, von denen angenommen wird, dass sie sich vorwiegend aus Verzweiflung wegen Kinder- und Zwangsverheiratung selbst verbrannt haben. Im Übrigen hat eine alleinstehende Frau in Afghanistan so gut wie keine Möglichkeit, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist so schlecht und die Teuerungsrate so immens, dass eine alleinstehende Frau, selbst wenn sie - was hier allerdings nach den glaubhaften Angaben der Klägerin nicht der Fall ist - gelegentlich Almosen oder finanzielle Unterstützung von eventuell noch existierenden Verwandten bekäme, dennoch vor dem Verhungern stünde. Denn Kabul und die andere Großstädte des Landes gehören durch den enormen Zustrom von Binnenflüchtlingen und die Anwesenheit der Hilfsorganisationen, die Mieten und andere Preise in astronomische Höhen treiben, inzwischen zu den teuersten Städten der Welt. Aufgrund der geschilderten gesellschaftlichen Verhältnisse hätte eine Frau auch keinerlei Aussicht, eine Wohnung zu finden oder sich unbehelligt zu bewegen. Abgesehen von den dargelegten Gefahren durch Diskriminierung, Misshandlung und sexuelle Übergriffe hat eine alleinstehende Frau in Afghanistan daher auch keine Existenzmöglichkeit (vgl. hierzu: AA, Lagebericht vom 07.03.2008, S. 18 ff.; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 8. Juli 2004; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 24. Januar 2004; UNHCR, Update an the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, Juni 2005, S. 61; Home Office, Afghanistan Country Report, April 2005. Nr. 6,187 ff.; Hess VGH, Urteil vom 01.03.2006 - 8 UE 3766/04.A -, das zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde).

Die in § 60 Abs. 1 Satz 4 lit c) AufenthG genannten Institutionen, namentlich der afghanische Staat sind nicht in der Lage oder willens, der Klägerin Schutz vor der ihr drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung zu bieten. Denn nach den vorliegenden Erkenntnisquellen erlaubt es insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen Frauen in der Regel nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihren frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt -, Frauenrechte zu schützen. Sexual- oder Gewaltverbrechen zur Anzeige zu bringen, hat aufgrund des desolaten Zustandes des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u.U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau eingesperrt, als ihr Ansehen beschädigt sehen will. Allein in Kabul sitzen zahlreiche Frauen im Gefängnis, die sich beispielsweise gegen eine arrangierte Ehe gewehrt, ihrem Ehemann nicht gehorcht oder außereheliche Beziehungen unterhalten haben. Für eine Verurteilung reicht in der Regel die Beschuldigung durch eine männliche Person aus; die Frauen haben keinerlei Möglichkeiten, sich gegen solche Anklagen zu verteidigen. Auch internationale Organisationen vermögen Frauen vor so genannter geschlechtsspezifischer Verfolgung - insbesondere Zwangsverheiratung und familiärer Gewalt - nicht wirksam zu schützen (vgl. hierzu: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29. November 2005, S. 28 ff.; UNHCR, Update an the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, Juni 2005, S. 52 ff.; Home Office, Afghanistan Country Report, April 2005, Nr. 6.167 ff.; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 8. Juli 2004; Danesch, Gutachten an VG Hamburg vom 24. Januar 2004).

Da diese Schutzlosigkeit für alle Teile des Landes gilt, kommt für die Klägerin die Annahme einer inländischen Fluchtalternative nicht in Betracht.