VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 12.12.2007 - 7 E 2249/07(3) - asyl.net: M13140
https://www.asyl.net/rsdb/M13140
Leitsatz:

Die Ausländerbehörde darf die Akteneinsicht nicht verweigern, um den Ausländer vor der Akteneinsicht anhören zu können.

 

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, allgemeine Leistungsklage, Akteneinsicht, Anhörung, isolierte Anfechtungsklage, Verfahrenshandlungen, Rechtsweggarantie, verspätetes Vorbringen
Normen: VwGO § 42 Abs. 1; VwVfG § 9; VwVfG § 29 Abs. 1; VwGO § 44a; GG Art. 19 Abs. 4; AufenthG § 82 Abs. 1
Auszüge:

Die Ausländerbehörde darf die Akteneinsicht nicht verweigern, um den Ausländer vor der Akteneinsicht anhören zu können.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO zulässig.

Der Anwendungsbereich dieser Klageart ergibt sich aus dem Umstand, dass die vorliegend die Verurteilung der Beklagten zu einer Leistung begehrt wird, die nicht den Erlass eines Verwaltungsaktes voraussetzt. Unbeachtlich bleibt in diesem Zusammenhang, dass die Versagung der Akteneinsicht auch durch Verwaltungsakt hätte erfolgen können. Entscheidend ist, dass die Beklagte von dieser formellen Bescheidung Abstand genommen hat, was sie auch durfte, denn hierdurch wird – im Ergebnis – der Rechtsschutz der Klägerin nicht eingeschränkt (vgl. dazu VGH München, Urteil vom 05.09.1989 - 25 B 88.01631 -, NVwZ 1990, S. 775, 776). Insbesondere kann die Klägerin ihren Anspruch auf tatsächliche Akteneinsicht durch eine tatsächliche Handlung – Vorlage der Akten zumindest bei der Behörde – durchsetzen. Das Gericht geht im Übrigen davon aus, dass die Klägerin auch klagebefugt ist, denn sie ist – was noch auszuführen sein wird – durch die Unterlassung dieses schlichten Verwaltungshandelns in ihren Rechten verletzt.

Die Klage ist auch begründet.

Zunächst ist festzustellen, dass ein Verwaltungsverfahren eröffnet worden ist. Dies ergibt sich zwanglos aus dem Inhalt des Vorladungsschreibens. Nach dem Gesetzeswortlaut ist unter Verwaltungsverfahren jede nach außen hin wirkende Tätigkeit einer Behörde zu verstehen, die – unter anderem – auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist, § 9 HVwVfG. Diesem Zweck sollte aber die Anhörung der Klägerin gerade dienen.

Es ist auch festzustellen, dass ein Akteneinsichtsrecht der Klägerin - kraft erteilter Vollmacht in der Person der Klägerbevollmächtigten - nach § 29 Absatz 1 Satz 1 HVwVfG besteht. Danach hat eine Behörde Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Ausnahmen hiervon, die gemäß § 29 Abs. 2 HVwVfG in Frage kommen könnten, sind weder vorgetragen worden noch sind sie ersichtlich. Der Beklagten kommt es offensichtlich nur darauf an, der Klägerin, die nach § 13 Abs 1 Nr. 2 HVwVfG auch Beteiligte ist, Akteneinsicht bis zum Ende der Vorsprache zu verweigern, denn danach soll der Klägerbevollmächtigten nach der behördlichen Ankündigung die Akteneinsicht gewährt werden.

Dem sich aus § 29 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG herleitenden Akteneinsichtsrecht steht vorliegend nicht die Bestimmung des § 44 a Satz 1 VwGO entgegen.

Danach können in der Regel Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden. Für eine ausnahmsweise Durchbrechung dieser Regel vorliegend gibt § 44 a Satz 2 VwGO allerdings nichts her.

Diese Vorschrift soll nach ihrem Zweck die isolierte Anfechtung von Verfahrenshandlungen nach Möglichkeit ausschließen, damit die Ermittlungstätigkeit von Behörden oder die Beiziehung externer Akten, Sachverstandes oder Urkunden bzw. sonstiges der Vorbereitung von Entscheidungen dienendes Verwaltungshandeln nicht durch einen Zwischenrechtsstreit behindert wird. Die Auslegung der Norm ist begrenzt auf Verfahrenshandlungen, deren Rechtmäßigkeit mit der Sachentscheidung zugleich überprüft werden kann, weil sie regelmäßig der Vorbereitung einer Entscheidung dienen und im Rechtsbehelfsverfahren selbst zum Gegenstand der abschließenden Prüfung werden können. Diese Verfahrenshandlungen liegen immer dann vor, wenn sie selbst nicht abschließend über den Verfahrensgegenstand insgesamt oder auch nur zum Teil entscheiden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.07.2004 – 6 B 30/04 -, dokumentiert in juris).

Diese gesetzliche Einschränkung des Klagerechts gilt zur Überzeugung des Gerichts jedoch nicht für das streitgegenständliche Akteneinsichtsrecht gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 HVwVG.

Die Gewährung des Akteneinsichtsrechts durch gerichtlichen Rechtsschutz, der durch Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz verfassungsrechtlich gewährleistet sein muss, darf nämlich für den Rechtssuchenden nicht zu unzumutbaren Nachteilen führen, die in einem späteren Rechtsbehelfsverfahren nicht mehr vollständig zu beseitigen sind. Dies ist schon dann der Fall, wenn schon die praktischen Folgen der behördlichen Versagung zu erheblichen Nachteilen führen können (BVerfG, Beschluss vom 24.10.1990 – 1 BvR 1028/90 -, NJW 1991, S. 415 f.).

Für die vorliegende Sachlage bedeutet dies, dass die Klägerin hinsichtlich der für sie günstigen Tatsachen, die sie vorbringen könnte, mit einem späteren Vorbringen nach Ergehen der angekündigten aufenthaltsrechtlichen Entscheidung formell ausgeschlossen wäre. Weil sich zumindest im Bundesland Hessen an einen Verwaltungsakt in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren kein Widerspruchsverfahren, in dem dieses Vorbringen Berücksichtigung finden könnte, anschließt, wäre sie bei gegebener Beschwer auf ein gerichtliches Verfahren verwiesen, welches neben einem immer bestehenden Prozessrisiko auch unmittelbar, zu einer statusrechtlichen Verschlechterung ihres Aufenthaltsrechts führen könnte. Bis zur gerichtlichen Entscheidung könnten zudem als Nebenfolge Rechte aus sozialer Teilhabe suspendiert werden, etwa arbeitrechtliche Erlaubnisse.

Bei der gegebenen Sachlage kann die Klägerin vernünftigerweise nur durch Wahrnehmung der Akteneinsicht Nachteile verhindern, die in einem späteren Rechtsbehelfsverfahren nicht mehr vollständig zu beseitigen sind. Hierdurch dürfte sie bei gegebener Sachlage in den Stand versetzt werden Rechtsnachteile zu vermeiden, die insbesondere durch Auseinandersetzung mit den zum Akteninhalt gewordenen Erkenntnissen und rechtzeitiger anwaltlicher Beratung nicht auftreten würden. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die Klägerin gemäß § 82 Abs. 1 AufenthG die für sie günstigen Umstände unverzüglich gelten zu machen hat. Diese Pflicht obliegt ihr – wovon auch die Beklagte unter Verwendung des entsprechenden Hinweises ausgeht – bei der Vorsprache, zu welcher die Klägerin vorgeladen wurde. Soweit der Bevollmächtigten der Klägerin das Angebot unterbreitet wurde, nach der Vorsprache Einsicht in die Verwaltungsakte zu nehmen, reicht dies nicht aus, da das nachträgliche Vorbringen lediglich eine Ergänzung oder Vertiefung des Vorgebrachten bedeuten würde oder für die abschließende Entscheidung nachteilig sein könnte, falls die Klägerin schweigen würde, weil die gesetzliche Anforderung – jedenfalls für günstige Umstände – unverzügliches Vorbringen fordert. Auch eine Begleitung der Klägerin durch ihre Bevollmächtigte vermag mangels sachkundiger Vorbereitung diese Verfahrensnachteile nicht auszugleichen.

Aus diesen Ausführungen ist ersichtlich, dass die rechtlichen und die schon nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügenden praktischen Folgen der Versagung der Akteneinsicht erhebliche Nachteile für die Klägerin bedeuten. Sie könnte die angekündigte und für sie nachteilige Verwaltungsverfügung – je nach Tiefe des Eingriffs in den Aufenthaltsstatus nur unter – zumindest zeitweiser - Hinnahme unzumutbarer Nachteile angreifen. Zur Wahrung ihrer Rechte durch sachkundige Rechtsverteidigung ist zur Vermeidung dieser Nachteile das geltend gemachte Akteneinsichtsrecht geeignet und erforderlich.