VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 18.03.2008 - A 4 K 61/07 - asyl.net: M13126
https://www.asyl.net/rsdb/M13126
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für Yeziden in der Türkei; zur Verfolgungsgefahr durch kurdische Großfamilie, die mit dem türkischen Staat verbündet ist.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Änderung der Sachlage, Situation bei Rückkehr, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Dorfschützer, Midyat, Mardin, interne Fluchtalternative, Westtürkei
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für Yeziden in der Türkei; zur Verfolgungsgefahr durch kurdische Großfamilie, die mit dem türkischen Staat verbündet ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

Als Rechtsgrundlage für den im angefochtenen Bescheid vom 23.01.2007 ausgesprochenen Widerruf der Asylanerkennung kommt allein § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in Betracht.

Die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Freiburg hat mit rechtskräftigem Urteil vom 10.07.2007 - A 6 K 737/06 - in einem Fall, in dem es ebenso wie hier um den Widerruf der Asylanerkennung türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und jezidischen Glaubens ging, Folgendes ausgeführt:

"Im vorliegenden Fall sind die Kläger nach den Feststellungen des OVG Rheinland-Pfalz im Beschluss vom 15.02.1993 vorverfolgt aus der Türkei ausgereist (vgl. im Übrigen zu Übergriffen von Moslems auf das Heimatdorf der Kläger, Yenice: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23.04.1992 - A 12 S 762/90 -). Selbst wenn bei Jeziden, die erst kürzlich aus der Türkei ausgereist sind, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung nicht mehr besteht (OVG NRW, Urt. v. 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A - zitiert nach Juris; OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 29.09.2005 - 1 LB 38/04 - zitiert nach juris), so kann von einer hinreichenden Sicherheit derzeit trotz der Veränderungen in der Türkei nicht ausgegangen werden.

Die Situation der Jeziden in der Türkei hat sich nach den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht soweit entspannt und stabilisiert, dass eine Gefahr von Übergriffen durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit im Südosten der Türkei ausgeschlossen erscheint. Eine Übersiedelung in den Westen der Türkei, in dem keine Übergriffe drohen, kann den Klägern nicht zugemutet werden, da dort ihr religiöses Existenzminimum weiterhin nicht gewahrt ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.01.1991 - A 12 635/89 -). Bei einer Bewertung der Situation im Osten der Türkei fällt ins Gewicht, dass dort derzeit nur noch sehr wenige Jeziden leben.

Soweit es um die Gefahr künftiger Übergriffe durch Private geht, lässt die Tatsache, dass Besuche ohne Zwischenfälle verlaufen, noch nicht den Schluss darauf zu, dass dies auch bei einer endgültigen Rückkehr der Fall wäre. Denn dann werden die Jeziden wieder als Konkurrenten um Grund und Boden angesehen, mit der Gefahr, dass es wieder zu gewalttätigen Übergriffen kommt; insbesondere, wenn Jeziden Eigentumsrechte an ihrem (früheren) Grundbesitz geltend machen, auf dessen Bewirtschaftung sie zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind. Insoweit ist die Lage für Rückkehrer nicht mit der der wenigen Jeziden vergleichbar, die derzeit noch in ihren angestammten Siedlungsgebieten leben. Für die Gefahr eines Wiederauflebens der gegen die Jeziden gerichteten Aggressionen spricht, dass Jeziden für gläubige Moslems Menschen ohne Recht oder zumindest minderen Rechts sind (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.05.1990, InfAuslR 1990, 356 und Urt. v. 23.04.1992, a.a.O.). Bereits früher wurde die "moralisch rechtlose" Situation der Jeziden von den Moslems in ihrer Umgebung genutzt, um deren Land gewaltsam an sich zu bringen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.01.1991 - A 12 S 635/89 -). Dass es einen nachhaltigen Wandel in der Einstellung der in den früheren jezidischen Siedlungsgebieten lebenden Moslems gegeben hat, kann den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht entnommen werden.

Vielmehr kommt es erneut zu Konflikten, wenn (zurückkehrende) Jeziden auf ihren Eigentumsrechten beharren.

Auch wenn es den Jeziden in letzter Zeit möglich war, vor den Gerichten teilweise ihre Eigentumsrechte durchzusetzen, so erscheint es doch nicht hinreichend sicher, dass sie vor den angesichts der durch ihr "Wiedereindringen" ausgelösten Übergriffen der Moslems in ihrer Umgebung hinreichend staatlichen Schutz finden können. Denn im Südosten der Türkei ist die Macht und der Einfluss der in ihren Interessen durch die Rückkehr der Jeziden betroffenen Großgrundbesitzer sehr groß (Aydin an VG Berlin vom 13.04.1999). Auch im neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amts wird noch von semifeudalen Strukturen im Südosten der Türkei berichtet (AA, Lagebericht vom 11.01.2007; vgl. auch die Auskunft des Auswärtigen Amts vom 26.01.2007 an das OVG Lüneburg); angesichts dessen kann trotz der von der derzeitigen Regierung gezeigten Reformbemühungen nicht davon ausgegangen werden, dass die auf dem Lande zuständige Gendarmerie - anders als früher (vgl. dazu: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.05.1990, InfAuslR 1990, 356 und Urt. v. 23.04.1992, a.a.O.) - die Jeziden notfalls hinreichend gegen die Großgrundbesitzer bzw. die moslemische Mehrheitsbevölkerung schützt."

Diesen Ausführungen schließt sich das erkennende Gericht auch im Lichte der nach diesem Urteil erschienenen Erkenntnisquellen, die keine Anhaltspunkte für eine andere Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bieten, umfassend an.

Im Fall des Klägers kommen noch individuelle Besonderheiten hinzu, die in seinem Fall selbst dann zu der Annahme führen, dass bei ihm im Fall einer Rückkehr in die Türkei keine hinreichende Verfolgungssicherheit gegeben ist, wenn man den vorangegangenen generellen Ausführungen über die fehlende hinreichende Sicherheit von in die Türkei zurückkehrenden Jeziden nicht folgte.

Diese Besonderheiten sind darin begründet, dass der Kläger aus dem Dorf Yenice (kurdisch: Harabiya) aus dem Kreis Midyat, Provinz Mardin, stammt. Bei diesem Dorf handelte es sich um eine in früheren Zeiten nur von Jeziden bewohnte Ansiedlung, in der es immer wieder zu Übergriffen durch die muslimische Umgebung, teilweise auch mit Todesfolge, kam (so auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 04.03.1991 - A 12 S 1256/89 -). Vom Gebiet um die Kreisstadt Midyat ist aber bekannt, dass dort die Familie Celebi eine beherrschende Stellung besaß (vgl. dazu Aydin an VG Berlin vom 13.04.1999). Sie pflegte sehr gute Beziehungen zur türkischen Regierung und unterstützte die türkischen Sicherheitskräfte in ihrem bewaffneten Kampf gegen die kurdische Guerilla. Dabei war es gerade die Familie Celebi, die sich in den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK seit Sommer 1984 hervortat und in großem Umfang der Regierung Dorfschützer zur Verfügung stellte, die dann zusammen mit den türkischen Sicherheitskräften gegen die PKK kämpften. Das Engagement der von der Familie Celebi gestellten Dorfschützer war so groß, dass sie, obgleich sie eine Vielzahl von Straftaten begingen, nie zur Verantwortung gezogen wurden. Sie waren dem türkischen Staat in seinem Kampf gegen die PKK nützlich und deshalb ließ man sie schalten und walten. Die vom Staat gebilligte Dorfschützerarmee war naturgemäß auch ein Machtfaktor in der Region Midyat und hat den Einfluss und die Macht der Familie Celebi noch weiter gesteigert (vgl. auch zum Ganzen OVG Rhld.-Pf., Urteil vom 05.06.2007, AuAS 2007, 213 m.w.N.).

Dieser Einfluss der Familie Celebi besteht aber nach den verfügbaren Erkenntnisquellen noch fort. Damit ist eine Ansiedlung des Klägers in seinem Heimatdorf oder in der Kreisstadt derzeit nicht realisierbar.

Es ist auch nicht erkennbar, dass sich an der bisherigen Bewertung eines Fehlens einer Fluchtalternative, etwa in den Großstädten des Westens der Türkei, etwas geändert hätte. Denn eine solche Alternative verneinen, soweit ersichtlich, alle verfügbaren Auskünfte und Urteile (vgl. hierzu sowie zum Vorstehenden VG Stuttgart, Urteil vom 12.02.2008 - A 9 K 6125/07 - m.w.N.).