OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.02.2008 - 19 A 4554/06 - asyl.net: M13075
https://www.asyl.net/rsdb/M13075
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Untätigkeitsklage, Rechtsschutzinteresse, Reiseausweis für Ausländer, Ausweisersatz, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Somalier, Somalia, Auslandsvertretung, Passbeschaffung, Lebensunterhalt
Normen: VwGO § 75; AufenthG § 3 Abs. 1; AufenthG § 48 Abs. 2; AufenthV § 5 Abs. 1; AufenthV § 6 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

A. Die Klage ist zulässig. Das gilt insbesondere auch für die Klage des Klägers zu 4., die das Verwaltungsgericht mit zutreffenden Erwägungen als Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO angesehen hat.

B. Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Soweit die Kläger mit ihrem Hauptantrag die strikte Verpflichtung der Beklagten zur Ausstellung von Reiseausweisen für Ausländer begehren, ist sie unbegründet, weil sie hierauf keinen Anspruch haben (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, I.). Sie können lediglich im Sinne ihres im Verpflichtungsantrag sinngemäß enthaltenen Hilfsantrags beanspruchen, dass die Beklagte sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts bescheidet (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO, II.).

I. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Ausstellung von Reiseausweisen. Die einzige Anspruchsgrundlage, die für dieses Begehren in Betracht kommt, sind die §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV. Denn der mit ihm geltend gemachte Anspruch scheidet jedenfalls deshalb aus, weil das dann eröffnete Ermessen der Beklagten nicht auf eine Entscheidung zugunsten der Kläger reduziert ist.

Bei der Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nach §§ 5, 6 AufenthV stehen die öffentlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund, die durch die Ausweisausstellung regelmäßig berührt werden. Dazu gehört insbesondere die Personalhoheit des Herkunftsstaates, in die die deutsche Ausländerbehörde mit der Ausweisausstellung eingreift, wenn der Ausländer nicht staatenlos ist. Das Gewicht dieses Ermessensgesichtspunktes hängt im Einzelfall davon ab, mit welchem Nachdruck der Herkunftsstaat seine Personalhoheit über die Passhoheit gegenüber der Bundesrepublik Deutschland geltend macht und ob die Ausweisausstellung die zwischenstaatlichen Beziehungen zu diesem oder anderen Staaten belasten kann. Ferner darf die Ausländerbehörde als öffentliches Interesse berücksichtigen, dass eine erhebliche abstrakte Missbrauchsgefahr im Umgang mit Reiseausweisen für Ausländer besteht. Diese und weitere Ermessensgesichtspunkte, etwa integrationspolitische Gründe, rechtfertigen regelmäßig eine generelle Ermessenspraxis der Ausländerbehörde, die Ausstellung solcher Reiseausweise zurückhaltend zu handhaben oder – anders formuliert – darauf gerichteten Anträgen nur in Ausnahmefällen zu entsprechen (vgl. die amtliche Begründung zu §§ 5 bis 13 AufenthV, BR-Drucksache 731/04 vom 24. September 2004, S. 151 f.; BVerwG, Urteil vom 3. Mai 1973 - 1 C 59.70 -, juris, Rdn. 23 f.; Beschluss vom 19. Januar 1983 - 1 B 11.83 -, juris, Rdn. 5; Beschluss vom 29. September 1988 - 1 B 106.88 -, InfAuslR 1988, 317 (318)).

Das in dieser Weise allgemein gekennzeichnete öffentliche Interesse muss die Ausländerbehörde im Einzelfall konkret gewichten und gegen das private Interesse des Ausländers an der Ausweisausstellung abwägen, wenn er solche privaten Belange geltend macht. Zu den privaten Interessen des Ausländers, die die Ausländerbehörde in die Abwägung einzustellen hat, können der Schutz von Ehe und Familie gehören, aber auch humanitäre Gründe sowie das Interesse des Ausländers an der Ermöglichung von Urlaubsreisen ins Ausland (so für den Reiseausweis nach der Genfer Konvention: BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2005 - 1 C 36.04 -, juris, Rdn. 23).

Solche privaten Belange vermögen nur dann einen Anspruch des Ausländers auf Ausweisausstellung zu begründen, wenn sie gegenüber den beschriebenen öffentlichen Interessen im Einzelfall ein derart überragendes Gewicht besitzen, dass sie ihnen gegenüber einen zwingenden Vorrang beanspruchen und jede andere Entscheidung als die Ausstellung des Reiseausweises rechtswidrig wäre (Ermessensreduzierung auf Null). Private Belange von derart überragendem Gewicht hat die Rechtsprechung etwa angenommen, wenn die Antragsablehnung zu einer so gut wie vollständigen Trennung des Ausländers von seiner deutschen Ehefrau und seinem deutschen Kind für die Dauer von vier bis fünf Jahren führen und deshalb eine überaus ernste Bedrohung des Fortbestandes seiner Ehe und Familie nach sich ziehen würde (BVerwG, Urteil vom 3. Mai 1973 - 1 C 59.70 -, juris, Rdn. 30 f.).

Von derart überragendem Gewicht ist das private Interesse der Kläger nicht. Ihnen droht weder eine dauerhafte noch eine vorübergehende Trennung vom Ehegatten oder einem anderen engen Familienangehörigen. Ihnen droht auch nicht der Verlust oder eine ernsthafte Belastung der familiären Bindung zu ihrem Cousin/Onkel in den Niederlanden, die ohnehin in der Vergangenheit im Wesentlichen nur durch Besuchskontakte geprägt war. Selbst diese Besuchskontakte können weiterhin jederzeit stattfinden. Es geht vielmehr lediglich darum, ob diese Besuchskontakte wie bisher ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden können oder künftig auch in den Niederlanden. Das Gewicht dieses Interesses der Kläger ist mit demjenigen der oben geschilderten Art auch nicht annähernd vergleichbar.

II. Der Hilfsantrag der Kläger auf Bescheidung ist demgegenüber begründet.

1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV sind erfüllt. Die Kläger besitzen, wie von § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV gefordert, eine Aufenthaltserlaubnis. Sie besitzen ferner im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthV nachweislich keinen Pass oder Passersatz (a) und können einen solchen auch nicht auf zumutbare Weise erlangen (b).

a) Die Klägerin zu 1. hat bei ihrer Einreise im Mai 1998 angegeben, "zurzeit ohne" Pass und Reiseausweis zu sein. Die Richtigkeit dieser Angabe hat die Beklagte bisher weder bezweifelt noch verifiziert.

b) Die Kläger können somalische Heimatpässe auch nicht auf zumutbare Weise erlangen. Die Republik Somalia ist durch den seit 1991 andauernden Bürgerkrieg handlungsunfähig geworden (BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 19.96 -, juris, Rdn. 10).

Eine Zentralregierung fehlt. Somalia ist in Regionen mit unterschiedlich ausgeprägter staatlicher und quasistaatlicher Ordnung und Rechtsstaatlichkeit zerfallen. In der Region um die Hauptstadt Mogadischu, aus der die Klägerin zu 1. stammt, gibt es auch bis heute weitgehend keine effektive Staatsgewalt. Sie wird beherrscht von Clans und Milizen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Somalia vom 17. März 2007, S. 5 f.).

2. Die Ermessensentscheidung der Beklagten ist am Maßstab der oben unter I. dargestellten Grundsätze fehlerhaft.

Die maßgebliche Erwägung für ihre ablehnende Entscheidung, die Kläger könnten ihren Lebensunterhalt nicht ohne den Bezug von Sozialleistungen sicherstellen, ist ungeeignet, den damit verfolgten Zweck zu erreichen. Dieser Zweck besteht augenscheinlich darin, öffentliche Kassen zu schonen. Die ablehnende Ermessensentscheidung der Beklagten ist nicht geeignet diesen Zweck zu fördern, weil die Auslandsreisen, die sie den Klägern damit ermöglichen würde, nicht zu einer Zusatzbelastung der öffentlichen Kassen führen. Denn weder das Asylbewerberleistungsgesetz noch das Sozialgesetzbuch XII, das nach § 2 Abs. 1 AsylbLG inzwischen auf die Klägerin zu 1. anwendbar sein dürfte, sehen einen Mehrbedarf für Fahrtkosten der in Rede stehenden Art vor. Diese gehören vielmehr zu dem durch Regelsätze abgedeckten Regelbedarf für den notwendigen Lebensunterhalt, zu dem in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt (§ 27 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) und damit grundsätzlich der Umgang mit Familienangehörigen zu zählen ist. Die Fahrtkosten, die durch den Besuch des Verwandten in S. verursacht würden, gehören insbesondere nicht zu den Sonderbedarfen nach den §§ 30 bis 34 SGB XII. Zudem ist nicht davon auszugehen, dass den Klägern insoweit ein Anspruch aus § 73 Satz 1 SGB XII zustehen könnte. Danach können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Dies setzt – wofür hier nichts ersichtlich ist – das Vorliegen einer besonderen Bedarfslage voraus, die eine gewisse Nähe zu den speziell in den §§ 47 bis 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist (BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 14/06 R -, juris, Rdn. 23).

3. Für die künftige Bescheidung der Anträge der Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts gibt der Senat die folgenden Hinweise:

Die im öffentlichen Interesse grundsätzlich gerechtfertigte zurückhaltende Handhabung der Ausstellung von Reiseausweisen für Ausländer hat im Fall der Kläger nur geringes Gewicht.

Das gilt vor allem für den Ermessensgesichtspunkt der Personalhoheit des Herkunftsstaates, den Somalia mangels effektiver Staatsgewalt gegenwärtig nicht mit Nachdruck geltend machen kann. Will die Beklagte diesen Gesichtspunkt gleichwohl weiterhin als Ablehnungsgrund heranziehen, wird sie weiter gehende konkrete Feststellungen zu der Frage zu treffen haben, weshalb zwischenstaatliche deutsche Interessen trotz Fehlens einer effektiven Staatsgewalt in Somalia der Ausstellung von Reiseausweisen für Ausländer an die Kläger entgegenstehen.

Auch der Ermessensgesichtspunkt der Missbrauchsgefahr vermag eine ablehnende Entscheidung im Fall der Kläger nicht ohne Weiteres zu tragen. Auch er ist hier von geringerem Gewicht als im Durchschnitt der Fälle, weil die Kläger zu 1. bis 3. zwischen 2000 und 2004 bereits über mehrere Jahre hinweg im Besitz von Reisedokumenten waren, ohne dass aus dieser Zeit Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Verwendung dieser Dokumente bekannt geworden sind. Kann man danach von einer "Bewährung" der Kläger im Umgang mit Reisedokumenten ausgehen, fehlt es nicht nur an einer konkreten Missbrauchsgefahr im Sinne des § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthV, sondern ist auch die abstrakte Missbrauchsgefahr, die unabhängig von diesem speziellen Versagungsgrund eine ablehnende Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 1 AufenthV rechtfertigen kann, im Fall der Kläger entsprechend reduziert.