VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 26.03.2008 - 6 K 1094/07.A - asyl.net: M13026
https://www.asyl.net/rsdb/M13026
Leitsatz:

Der Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung setzt voraus, dass das Bundesamt zunächst die Gründe der Anerkennung herausarbeitet und danach anhand der konkreten Menschenrechtslage im Herkunftsland die Rückkehrgefährdung prüft; lediglich allgemeine Ausführungen zur aktuellen Menschenrechtslage genügen nicht; weiterhin beachtliche Verfolgungsgefahr wegen hervorgehobener exilpolitischer Betätigung in einem PKK-nahen Verein (hier: Vorstandsmitglied).

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Begründungserfordernis, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, exilpolitische Betätigung, PKK, Verdacht der Unterstützung, Vorstandsmitglieder, Kurdisches Volkshaus
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung setzt voraus, dass das Bundesamt zunächst die Gründe der Anerkennung herausarbeitet und danach anhand der konkreten Menschenrechtslage im Herkunftsland die Rückkehrgefährdung prüft; lediglich allgemeine Ausführungen zur aktuellen Menschenrechtslage genügen nicht; weiterhin beachtliche Verfolgungsgefahr wegen hervorgehobener exilpolitischer Betätigung in einem PKK-nahen Verein (hier: Vorstandsmitglied).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Die materiellen Voraussetzungen für den Widerruf der Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG (heute: Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG -) besteht, liegen nicht vor.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei derart geändert hätten, dass der Kläger eine Verfolgung in seinem Heimatland nicht mehr befürchten müsste. Dabei kann offen bleiben, ob ein Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG eines wie der Kläger nicht vorverfolgt aus seinem Heimatland ausgereisten Flüchtlings nur erfolgen darf, wenn - in Anwendung des sogenannten "herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs" - sich die Verhältnisse im Verfolgerstaat im Sinne der vorstehend zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen "hinreichend stabil" verändert haben (so wohl BVerwG, Urteil vom 17. Juli 2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243 ff., und VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. März 2004 - A 6 S 219/04 -, NVwZ-RR 2004, 790 f., oder ob - wie dies das Bundesamt im angefochtenen Bescheid annimmt - in einem solchen Fall - spiegelbildlich zu dem bei der Anerkennung angewendeten Prognosemaßstab - der Widerruf in Anwendung des "normalen" Prognosemaßstabs bereits erfolgen darf, wenn sich die Verhältnisse im Verfolgerstaat so weit dauerhaft verändert haben, dass zwar nicht mit hinreichender Sicherheit, wohl aber mit der bei Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft angenommenen "beachtlich wahrscheinlichen Gefahr der Verfolgung" eine Verfolgung des Flüchtlings bei Rückkehr in das Heimatland ausgeschlossen werden kann. Denn auch bei Anwendung des für den Kläger ungünstigeren - "normalen" - Prognosemaßstabes droht ihm aufgrund seiner der Entscheidung des Bundesamtes vom 9. August 2001 zugrunde gelegten exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in der Türkei.

Die gegenteilige Wertung des Bundesamtes ist bereits im Ausgangspunkt fehlerhaft, weil das Bundesamt der Prüfung, ob sich die Menschenrechtslage in der Türkei entscheidend zugunsten des Klägers verändert hat, nicht konkret die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers und auch nicht konkret die Verhältnisse in der Türkei, die im August 2001 zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, zugrunde gelegt hat. Konkret wird im Widerrufsbescheid zu den exilpolitischen Aktivitäten des Klägers bis zum August 2001 lediglich ausgeführt, er habe eine Vorstandstätigkeit in einem Verein vorgetragen, von dem zweifelhaft sei, ob er noch bestehe. Mit der Menschenrechtslage in der Türkei im August 2001 setzt sich der Bescheid überhaupt nicht auseinander. Die den Widerruf tragende Wertung des Bundesamtes - der dem Kläger wegen exilpolitischer Aktivitäten gewährte Schutz könne aufgrund der veränderten Lage in der Türkei nicht mehr aufrechterhalten werden - setzt jedoch zwingend voraus, dass in einem ersten Denkschritt die Gründe herausgearbeitet werden, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, bevor in einem zweiten Denkschritt festgestellt werden kann, ob sich - verglichen mit den Anerkennungsgründen - die Menschenrechtslage im Heimatland nachträglich so erheblich und nicht nur vorübergehend verändert hat, dass dem Flüchtling die Rückkehr in den Verfolgerstaat zuzumuten ist. Versäumt es das Bundesamt, die Anerkennungsgründe konkret und nachvollziehbar mit den aktuellen Verhältnissen im Verfolgerstaat zu vergleichen, so ist - wie hier im Fall des Klägers - die Widerrufsentscheidung bereits fehlerhaft, weil der für die auf § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützte Widerrufsentscheidung erforderliche Nachweis fehlt, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nicht mehr vorliegen, nicht erbracht wird und damit auch offen bleibt, ob nicht in Wirklichkeit lediglich eine unzulässige Neubewertung der Asylrelevanz der exilpolitischen Aktivitäten des Klägers auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse erfolgt.

Unabhängig davon ergibt auch die konkrete Gegenüberstellung der Anerkennungsgründe und der heutigen Menschenrechtslage in der Türkei, dass dem Kläger eine Rückkehr in sein Heimatland noch nicht zuzumuten ist.

Zusammengefasst ist der Kläger somit als politischer Flüchtling anerkannt worden, weil er

1. sich durch seine Vorstandstätigkeit in dem von der PKK dominierten oder jedenfalls beeinflussten Verein "Kurdisches Volkshaus B. e.V." so herausgehoben exilpolitisch betätigt hat, dass davon ausgegangen werden musste, dass die türkischen Sicherheitsbehörden auf ihn wegen seiner exilpolitischen Betätigung in der Bundesrepublik als einen aktiven Anhänger oppositioneller Kräfte aufmerksam geworden waren,

2. in der Türkei wegen seiner - für jedermann aus dem öffentlich einsehbaren Vereinsregister ersichtlichen - Betätigung für diesen Verein mit einem asylrelevanten Strafverfahren und entsprechender Verurteilung - z.B. wegen "Separatismus" oder wegen Unterstützung einer bewaffneten illegalen Organisation -, jedenfalls aber wegen solcher Vorwürfe mit Haft zum Zweck des Verhörs und asylrelevanter Folter in der Haft rechnen musste.

Dass solche Verfolgungsmaßnahmen für den Kläger in der Türkei derzeit und auf absehbare Zeit ausgeschlossen sind, lässt sich nicht feststellen; im Fall der Rückkehr in die Türkei droht dem Kläger nämlich weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedenfalls, dass er wegen des Vorwurfs, er habe eine separatistische und bewaffnete illegale Organisation unterstützt, verhaftet und gefoltert wird, wobei die türkischen Sicherheitskräfte auch versuchen werden, durch Folter vom Kläger mehr über die Hintermänner des Vereins und die Strukturen der PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen in Deutschland zu erfahren.

Dass die im Jahre 2001 festgestellte Gefährdung des Klägers derzeit und auf absehbare Zeit entfallen ist, weil sich die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei derart geändert hätten, dass der Kläger eine Verfolgung in seinem Heimatland nicht mehr befürchten müsste, lässt sich entgegen der Begründung des Bundesamtes schon aus methodischen Gründen nicht mit Quellen und Rechtsprechung belegen, die bereits Ende des Jahres 2000 bekannt waren und im Kammerurteil vom 15. Dezember 2000 im Verfahren 6 K 1413/94.A und damit - wie dargelegt - auch im Bundesamtsbescheid vom 9. August 2001 berücksichtigt worden sind. Dies trifft z. B. zu auf die im Widerrufsbescheid als Beleg für den dort entwickelten Gefährdungsmaßstab bei exilpolitischer Betätigung in Deutschland angeführten Belege: Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 02.03.2001 an das VG Oldenburg und vom 21.10.1999 an das OVG Saarlouis; Taylan, Gutachten vom 16.01.2001 an das VG Oldenburg; Aydin, Gutachten vom 16.01.2001 an das VG Oldenburg; Kaya, Gutachten vom 28.02.2000 an das VG Frankfurt (Oder); OVG Münster, Urteil vom 25.01.2000, Az.: 8 A 1292/96.A; VGH Mannheim, Urteil vom 05.04.2001, Az.: A 12 S 198/00, Urteil vom 18.05.2000, Az.: A 12 S 1095/99; OVG Lüneburg, Urteil 11.10.2000, Az.: 2 L 4591/94. Sie sind schon aus logischen Gründen ungeeignet als Beleg dafür, dass sich der Maßstab, nach dem der Kläger das „kleine Asyl“ erhalten hat, nachträglich geändert hat.

Aber auch die neueren vom Bundesamt angeführten Belegstellen dafür, dass die im Jahre 2001 festgestellte Gefährdung des Klägers derzeit und auf absehbare Zeit entfallen ist, tragen die Wertung des Bundesamtes, dem Kläger sei die Rückkehr in die Türkei zuzumuten, nicht.

Insbesondere der im Widerrufsbescheid in den Vordergrund gerückte Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007, S. 34, der im Übrigen bezüglich der vom Bundesamt zitierten Passagen mit dem aktuelleren Lagebericht vom 25. Oktober 2007, S. 25 f., übereinstimmt, trägt die Wertung des Bundesamtes, dem Kläger sei die Rückkehr in die Türkei zuzumuten, nicht. Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007 S. 34 zufolge "laufen nur türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischem Recht strafbar gemacht haben, Gefahr, dass sich die Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen." Weiter wird ausgeführt: "Nach Erkenntnissen des AA haben die türkischen Strafverfolgungsbehörden in der Regel nur ein Interesse an der Verfolgung im Ausland begangener Gewalttaten bzw. ihrer konkreten Unterstützung. Dazu gehört auch die Mitgliedschaft in der PKK." Der Kläger ist genau wegen der dargelegten hervorgehobenen Unterstützung der PKK in Deutschland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den türkischen Sicherheitskräften aufgefallen. Weshalb das Bundesamt meint, damit ergebe sich aus den vorstehend zitierten Ausführungen im Lagebericht vom 11. Januar 2007, dass der Kläger in der Türkei nicht mehr wegen des Vorwurfs, er habe eine separatistische und bewaffnete illegale Organisation unterstützt, von den türkischen Sicherheitskräfte verhaftet und gefoltert wird, um von ihm jedenfalls Informationen über die Hintermänner des Vereins und die Strukturen der PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen in Deutschland zu erfahren, ist nicht nachvollziehbar.

Schließlich haben sich entgegen der Auffassung des Bundesamtes die zum Zeitpunkt der Anerkennung des Klägers als Flüchtling maßgeblichen Verhältnisse auch nicht durch die zahlreichen in den letzten Jahren in der Türkei durchgeführten Reformen und die nicht zu bestreitende deutlich verbesserte Menschenrechtslage erheblich geändert.

Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. Ganz konkret wurden die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die eine politische Verfolgung durch den Staat ausschließen sollen. Namentlich sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis unterbleibt, vgl. OVG NRW, Urteile vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A -, vom 27. März 2007 - 8 A 5118/05.A - und vom 14. Februar 2006 - 5 A 2202/00.A -; zu den Reformbemühungen und zur fortbestehenden Rückkehrgefährdung vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A; zur Rückkehrgefährdung ehemaliger PKK-Aktivisten auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23. Februar 2006.

Die türkische Reformpolitik hat bislang nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen. Es ist noch nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden, wobei eine der Hauptursachen dafür nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007, S. 37 ff., und vom 25. Oktober 2007, S. 29 ff., in der nicht effizienten Strafverfolgung liegt. Auch wird in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007 und vom 25. Oktober 2007, die durchaus eine erhebliche Verbesserung der Menschenrechtslage im Vergleich zur Situation vor 2001 attestieren, darauf hingewiesen, dass der Ruf nach einschneidenderen Maßnahmen zur Terrorbekämpfung mit dem Wiedererstarken des PKK-Terrorismus lauter werde; im Osten und Südosten der Türkei komme es weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der terroristischen PKK und den türkischen Sicherheitskräften; in Touristenzentren würden Terroranschläge durch PKK-nahe Organisationen verübt; trotz Maßnahmen der Regierung gegen Folter und Misshandlungen im Rahmen der "Null-Toleranz-Politik" und eines weiteren Rückgangs bekannt gewordener Fälle sei die Strafverfolgung von Foltertätern immer noch unbefriedigend.

Von einer verfestigten und nachhaltigen Veränderung der Sicherheitslage in der Türkei mit der Folge, dass einem kurdischen Flüchtling, der sich durch die Tätigkeit als Vorstandsmitglied eines PKK-nahen Kurdenvereins herausgehoben in Deutschland exilpolitisch betätigt hat, bei Rückkehr in die Türkei verfolgungsrelevante Gefahren wie insbesondere Folter bei Verhören durch türkische Sicherheitskräfte nicht mehr mir beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, kann bei dieser Auskunftslage nicht gesprochen werden.