BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 11.02.2008 - 2 BvR 2575/07 - asyl.net: M13015
https://www.asyl.net/rsdb/M13015
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Verfassungsbeschwerde, Rechtsweggarantie, Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Türken, Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Unionsbürgerrichtlinie
Normen: BVerfGG § 93c Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 3; RL 2004/38/EG Art 28 Abs. 3; ARB Nr. 1/80 Art. 7
Auszüge:

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

2. Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG.

b) Gegen dieses Verbot des. Art. 19 Abs. 4 GG verstößt der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts, indem er die Zulassung der Berufung unter Verneinung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO unter Bezugnahme auf die Klärung der Rechtsfrage in der eigenen Rechtsprechung ablehnt. Zumindest der vom Beschwerdeführer geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) lag zum Zeitpunkt der Entscheidung des. Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag vor. Von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist eine Rechtssache, wenn sie eine rechtliche oder tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich und im Sinne der Rechtseinheit klärungsbedürftig ist; der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO entspricht danach weitgehend dem der grundsätzlichen Bedeutung in § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Januar 2007 - 1 BvR 382/05 -, a.a.O., m.w.N.; BVerwG, Beschluss vom 30. März 2005 - 1 B 11/05 -, NVwZ 2005, S. 709), Klärungsbedürftig sind im Fall revisiblen Bundesrechts im Sinne von § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, zu dem auch das anzuwendende Gemeinschaftsrecht gehört (vgl. BVerfGE 35, 77 f.; 80, 18 <19>), Fragen, die nicht durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt sind. Die Entscheidung einer derartigen Rechtsfrage durch ein Oberverwaltungsgericht nimmt der Rechtssache nicht die grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.

c) Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts war die oberverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur hier erheblichen Frage der Anwendbarkeit des Ausweisungsschutzes gemäß Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige uneinheitlich (die Anwendbarkeit verneinend: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 6. Juni 2005 - 11 ME 39/05 -, NVwZ-RR 2005, S. 654 f.; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15. Mai 2007 - 18 B 2389/06 -, juris; die Anwendbarkeit bejahend: Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschlüsse vom 4. Dezember 2006 - 12 TG 2190/06 -, InfAuslR 2007, S. 98, und vom 12. Juli 2006 - 12 TG 494/06 -, ZAR 2006, S. 331 f.; Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 5. Dezember 2006 - 7 A 10924/06 -, InfAuslR 2007, S. 148 f.). Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat die Frage unbeantwortet gelassen (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - C 349/06 -, NVwZ 2008, S. 59 <60> - Polat -). Eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts lag nicht vor und steht nach wie vor aus.

d) Die Klärungsbedürftigkeit der vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Rechtsfrage musste sich dem Oberverwaltungsgericht nach den Entscheidungsgründen des verwaltungsgerichtlichen Urteils und der Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung aufdrängen.

e) Das Oberverwaltungsgericht hat, wie seinen Ausführungen zu entnehmen ist, den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundlegend und in einer mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbarenden Weise verkannt. Es hat den Rechtsweg zur Klärung einer allgemeinen und auch praktisch bedeutsamen Rechtsfrage abgeschnitten, die bundes- und sogar gemeinschaftsweit einheitlicher Beantwortung bedarf. Das Vorgehen des Oberverwaltungsgerichts ist um so weniger gerechtfertigt, als die von ihm herangezogene eigene Rechtsprechung - soweit ersichtlich - nicht in einem Berufungsverfahren, das den Zugang zum Bundesverwaltungsgericht eröffnet hätte, entwickelt worden, sondern lediglich in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (a.a.O.) und im Beschlusswege nach § 124a Abs. 5 VwGO (z.B. der vom Beschwerdeführer zitierte Beschluss vom 12. Juli 2007 - 18 A 3894/05 - und der Beschluss vom 23. Mai 2007 - 18 B 2326/06 -) ergangen ist.