SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Urteil vom 29.02.2008 - S 37 AS 1403/08 - asyl.net: M12925
https://www.asyl.net/rsdb/M12925
Leitsatz:

Der Ausschluss von Leistungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II gilt nicht für Unionsbürger mit unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt.

 

Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Unionsbürger, Diskriminierungsverbot, Arbeitssuche, Arbeitslosengeld II
Normen: EG Art. 18; RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1; SGB II § 7 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2
Auszüge:

Der Ausschluss von Leistungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II gilt nicht für Unionsbürger mit unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Alg II, über dessen genaue Höhe der Beklagte nach Prüfung, ob zu Frau B. eine Einstandsgemeinschaft besteht, zu befinden hat.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH begründet Art.18 EG, in dem das Recht verankert ist, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei aufzuhalten, eine durch vier Merkmale charakterisierte Rechtsstellung:

– erstens gibt Art. 18 EG eine persönliche Garantie, die die Grundlage für das System des Zusammenlebens in der Union bildet;

– zweitens entfaltet Art. 18 EG eine unmittelbare Wirkung, so dass er direkt gilt und ihre Inhaber sich auf diese Regelung gegen nationalstaatliche Schranken berufen können;

– drittens gibt Art. 18 EG ein Recht vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen, wozu Einschränkungen beim Sozialhilfebezug gehören;

– viertens verlangt Art. 18 EG als Grundrecht eine "äußerst restriktive" Auslegung der anwendbaren Hindernisse, die nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf das reduziert werden sollen, was unbedingt notwendig ist, um ohne Beeinträchtigung des Umfangs der Freiheit die kollektiven Werte, die sie einschränken könnten, zu bewahren (so z. B. EuGH, Urteil vom 23.3.2006, C408/03).

Gemessen an diesen Vorgaben verstößt der Leistungsausschluss für Arbeitsuchende mit unbeschränktem Arbeitsmarktzugang (Alt-EU-Bürger) gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Sofern der Gesetzgeber und ein Teil der LSG-Rechtsprechung den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG stützen, verkennen sie, dass dort nur von einem Anspruch auf "Sozialhilfe" die Rede ist.

Das EU-Recht unterscheidet aber zwischen "Sozialhilfe" und "beitragsunabhängigen Geldleistungen". Letztere sind in Art. 4 Abs. 2a EWGV 1408/71 zur gemeinschaftsrechtlich einheitlichen Auslegung genau und verbindlich definiert worden. Danach muss eine beitragsunabhängige Geldleistung eine Leistung der sozialen Sicherheit ersetzen oder ergänzen, sich zugleich aber von dieser unterscheiden, sie muss den Charakter einer Sozialhilfeleistung haben, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gerechtfertigt ist, und es muss nach einer Regelung, die objektive Kriterien festlegt, über sie entschieden werden (z.B. EuGH vom 18.10.2007 C-299/05).

Das Alg II (ohne Zuschlag nach § 24 SGB II) ist durch Aufnahme in Anhang II a zu Art. 4 Abs. 2a EWGV 1408/71 ausdrücklich zur beitragsunabhängigen Geldleistung erklärt worden.

Die vorgebrachten Argumente für eine Gleichstellung von Alg II und Sozialhilfe im Kontext einer Beschränkung des Sozialleistungsbezugs sind zudem äußerst schwach. Mit dem schlichten Verweis auf die Steuerfinanzierung kann das Alg II der Sozialhilfe nicht gleichgestellt werden, denn dies ist kraft Definition in Art. 4 Abs. 2a EWGV 1408/71 Merkmal aller beitragsunabhängigen Geldleistungen. Auch die "Ähnlichkeit" der Ausgestaltung des Alg II mit der Sozialhilfe ist kein tragfähiges Argument. Der Gesetzgeber hat sich sogar veranlasst gesehen, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII in Anhang II a aufzunehmen. Dies hätte es wegen der ausdrücklichen Herausnahme der "Sozialhilfe" aus dem Anwendungsbereich der EWGV 1408/71 in Art. 4 Abs. 4 nicht bedurft, wenn der Sozialhilfebegriff über die Einordnung einer Leistung in ein bestimmtes Sozialgesetzbuch oder aufgrund einer bestimmten Berechnungsmethode (Bedürftigkeit) europarechtlich bestimmt worden wäre.

Überdies liefe eine Gleichstellung von Alg II und Sozialhilfe darauf hinaus, steuerfinanzierte Sozialleistungen gegen den Willen der Freizügigkeits-RL nur noch Arbeitnehmern oder Selbständigen zuzubilligen (vgl. dazu Frenz/Kühl, ZESAR 2007, S. 323; Fuchs, ZESAR 2007, S. 100).