OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 29.01.2008 - 3 Bs 196/07 - asyl.net: M12843
https://www.asyl.net/rsdb/M12843
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, selbständige Tätigkeit, Ermessen, unbestimmter Rechtsbegriff, Beurteilungsspielraum, Zukunftsprognose
Normen: AufenthG § 21 Abs. 1
Auszüge:

Bei den in § 21 Abs. 1 Satz 1 bis 3 normierten Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit handelt es sich um gerichtlich vollständig überprüfbare unbestimmte Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite der Vorschrift, deren Vorliegen ein Erteilungsermessen der Ausländerbehörde erst eröffnet.

Unter Berücksichtigung des Regelbeispiels in § 21 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist bei der Prüfung der Voraussetzungen in § 21 Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG ein strenger Maßstab anzulegen.

(Amlticher Leitsatz)

 

Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.

aa) Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass es sich bei den in § 21 Abs. 1 Satz 1 - 3 AufenthG normierten Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit um gerichtlich vollständig überprüfbare unbestimmte Rechtsbegriffe auf der Tatbestandsseite der Vorschrift handelt, die ggf. das behördliche Ermessen für das Erteilen der Aufenthaltserlaubnis eröffnen.

§ 21 Abs. 1 AufenthG ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass die dort in Satz 1 bis 3 normierten Voraussetzungen und die Ausübung des Ermessens dergestalt untrennbar miteinander verknüpft wären, dass stets Ermessen eröffnet und die Entscheidung nur als einheitliche Ermessensentscheidung zu treffen wäre, bei der all die genannten Voraussetzungen das behördliche Ermessen zu leiten hätten (so aber offenbar OVG Lüneburg, Beschl. v. 14.12.2006, NVwZ-RR 2007, 279, 280). Es handelt sich vielmehr um eine Koppelungsvorschrift, die auf der Tatbestandsseite verschiedene Voraussetzungen nennt und der Behörde ein Ermessen zur Erteilung der Erlaubnis eröffnet, wenn die Voraussetzungen vorliegen ("… kann erteilt werden, wenn …"). Weder die Struktur der Norm noch der Regelungszusammenhang deuten darauf hin, dass sie als reine Ermessensvorschrift konzipiert wäre mit der Maßgabe, dass die Ermessensbetätigung wegen eines untrennbaren Zusammenhangs mit den dort genannten Voraussetzungen wesentlich durch diese bestimmt würde (zu einer solchen Gestaltung vgl. Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschl. v. 19.10.1971, BVerwGE 39, 355, zu § 131 AO; BVerwG, Urt. v. 5.7.1985, BVerwGE 72, 1, zu § 5 WoBindG). § 21 Abs. 1 AufenthG ist vielmehr so zu verstehen, dass diese Vorschrift bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen das Erteilungsermessen eröffnet, aber nicht zwingend einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gibt. Die Ausländerbehörde kann etwa, sofern dem nicht bereits durch § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG Rechnung zu tragen ist, im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung auch berücksichtigen, ob die betreffende selbständige Tätigkeit aus sonstigen übergeordneten gesellschaftspolitischen Gründen nicht erwünscht ist, und die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ggf. nach Ermessen versagen (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: August 2005, § 21 AufenthG, Rn. 8).

Ebenfalls zutreffend hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass der Ausländerbehörde hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen in § 21 Abs. 1 Satz 1 - 3 AufenthG kein (gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer) Beurteilungsspielraum zusteht. Für eine andere Einordnung gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte. Der Umstand, dass eine Prognose über die wirtschaftlichen Auswirkungen der beabsichtigten selbständigen Tätigkeit zu treffen ist, genügt für die (nur ausnahmsweise begründete) Annahme eines behördlichen Beurteilungsspielraums nicht; Prognosen (etwa im Verkehrs-, Gewerbe- oder Waffenrecht hinsichtlich der Zuverlässigkeit von Erlaubnisbewerbern oder -inhabern) gehören vielmehr zum Alltag der Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte, ohne dass im Regelfall ein behördlicher Beurteilungsspielraum bestünde.

bb) Die Voraussetzungen des Regelbeispiels in § 21 Abs. 1 Satz 2 AufenthG sind, wovon auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen ist, nicht gegeben, weil die betreffenden Erfordernisse im Hinblick auf die zu tätigenden Investitionen und die zu schaffenden Arbeitsplätze nicht erfüllt werden.

cc) Das Verwaltungsgericht hat weiter zutreffend angenommen, dass bei der Prüfung von § 21 Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG unter Berücksichtigung des Regelbeispiels in § 21 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ein strenger Maßstab anzulegen ist.

Das Regelbeispiel soll zwar nicht abschließend sein oder Mindest- bzw. Durchschnittswerte festlegen. Das dortige (nach wie vor) hohe Niveau lässt jedoch erkennen, dass nicht jedes an sich förderungsfähige oder -würdige Vorhaben die Zuwanderung von Selbständigen rechtfertigen soll. Erwünscht sind vielmehr Betriebe und Unternehmen, die durch Investitionen und zusätzliche Arbeitsplätze ein übergeordnetes Interesse befriedigen und der Wirtschaft besonders nützen; vorteilhafte Auswirkungen auf die Versorgung der Bevölkerung und auf die Infrastruktur von Wohngebieten allein genügen nicht (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 21 AufenthG , Rn. 9 ff.). Somit kann Ausländern wegen einer beabsichtigten selbständigen Erwerbstätigkeit regelmäßig nur dann die Zuwanderung erlaubt werden, wenn ihr Vorhaben, soweit es nicht die Voraussetzungen des Regelbeispiels des § 21 Abs. 1 Satz 2 AufenthG erfüllt, doch in ähnlicher Weise, wenn auch nicht in gleichem Umfang, den dortigen Anforderungen an Investitionen und Arbeitsplätzen genügt. Dabei können etwa geringere Investitionen durch eine höhere Zahl geschaffener Arbeitsplätze kompensiert werden (vgl. Renner, a.a.O.).

Im Übrigen dürfte gelten: Je weniger die Voraussetzungen des Regelbeispiels in § 21 Abs. 1 Satz 2 AufenthG erfüllt sind, desto bedeutender muss das übergeordnete wirtschaftliche Interesse oder das besondere regionale Bedürfnis an der betreffenden selbständigen Tätigkeit des Ausländers sein, um dennoch die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu diesem Zweck in Betracht ziehen zu können; maßgeblich sind dabei nicht die eigenen unternehmerischen Interessen des Ausländers, sondern die inländischen Interessen oder Bedürfnisse an der betreffenden Tätigkeit des Ausländers in Deutschland bzw. in der jeweiligen Region (vgl. die Hinweise des Bundesministeriums des Innern zum Richtlinienumsetzungsgesetz, Stand: 18.12.2007, § 21 AufenthG, Rn. 118, unter www.bmi.bund.de).